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Sie war von außergewöhnlicher Schönheit. Schwarzes Haar, hellbraune Haut, große, dunkle, strahlende Augen mit hohen Brauen. Ihr aufrechter Gang, der ihre Größe noch unterstrich. Sie trug Jeans und eine Kapuzenjacke. Selbst in dieser einfachen, unauffälligen Kleidung wirkte sie stilvoll und edel. Über ihre linke Schulter hatte sie einen schwarzen Rucksack gehängt.
Sie hatte die Familienpension verlassen und war die Straße hinuntergelaufen. An der Ecke sah sie sich nach links und rechts um, als fühlte sie sich beobachtet, und überquerte dann rasch die Bergerstraße, um zur U-Bahn-Station am Merianplatz zu gehen. Vor einer Espressobar blieb sie stehen und sah auf die Uhr. Sie ging zum Buffet und bestellte einen Cappuccino.
Moritz saß auf der Bettkante und wartete, bis sein Kreislauf einigermaßen in Schwung gekommen war. Fanny hatte ihn bereits vor Jahren dazu angehalten, »vernünftig« aufzustehen und nicht einfach hochzuschnellen und aus dem Bett zu springen. Damals hatte er sich noch über sie lustig gemacht. Aber heute? Solange man jung war, dachte man nie über sein Jungsein nach. Heute, im Alter, dachte man an nichts anderes als daran, dass man alt wurde.
Moritz erhob sich langsam und sah auf den Wecker. In einer Stunde würde sie kommen, die nächste Bewerberin. Er wollte im Eingangsbereich ein wenig sauber machen, nur das Notwendigste. Mit diesem Vorsatz verschwand er im Bad.
Alfred saß in seinem Morgenmantel am Schreibtisch und schnitt einen Artikel aus. Er hatte sich die Zeitung schon früh aus dem Briefkasten genommen. Er hasste es, eine bereits gelesene Zeitung in die Hand zu nehmen. Für ihn musste eine Tageszeitung noch unschuldig sein. Leider ging es Moritz ebenso und darum gab es den täglichen Kampf um die FAZ. Immer wieder regte sich Moritz auf, wenn sein Bruder die Feuilletonbeilage herausnahm, die jeder zuerst lesen wollte.
Alfred überflog in der Regel die politischen Artikel, sie waren oft Schnee von gestern. Es ging immer um Krisen: die Finanzkrise, die Bankenkrise, die Bildungskrise, die Kulturkrise. Jeder hatte heute das Recht auf seine Krise. Das Wesentliche hatte er bereits im Fernsehen gesehen oder im Internet auf Spiegel Online gelesen, was er täglich mehrmals anklickte. Die Kommentare las er selten zu Ende, denn in den meisten Fällen deckten sie sich mit seiner Meinung, und was ihn ärgerte, musste er nicht lesen. Was ihn wirklich interessierte, waren Verschwörungen und Machenschaften, waren Artikel, in denen sich zum Beispiel Antisemiten selbst entlarvten. Sie bestätigten seinen kritischen Blick auf die deutsche Gesellschaft.
Was Moritz am meisten hasste, waren Artikel, die nicht mehr da waren, die Alfred bereits ausgeschnitten hatte. Das ließ sich aber nicht immer vermeiden, so wie heute, als er einen Artikel über die Schließung von zweihundert Kinos und den Niedergang des italienischen Films entdeckt hatte, den er unbedingt einem schwulen Kollegen nach Rom schicken wollte. Enrico Paulson war ein jüdischer Schauspieler, ein Wiener Emigrant, der schon bei Rossellini und Visconti gespielt hatte und der in einem Altersheim für Künstler lebte.
Alfred legte den ausgeschnittenen Artikel zur Seite. Er sah auf dem Teller das Wurstbrot und biss ein Stück ab. Er kaute genüsslich.
Dann nahm er die Tasse und trank einen Schluck Tee.
Es klopfte an seiner Tür und Moritz rief: Freddy?
Alfred nahm nervös die Zeitung hoch.
Was willst du?
Möchtest du etwas essen?, hörte er durch die Tür.
Nein!, antwortete Alfred, danke!
Aber du musst doch was essen, ließ der Bruder keine Ruhe.
Wieso muss ich essen?
Soll ich dir ein Brot machen? Ich mache dir gern ein Brot. Mit Quittenkonfitüre. Hn?
Moritz gab nicht auf, typisch.
Nein. Ich möchte nichts, versuchte Alfred ihm klarzumachen.
Trink wenigstens einen Tee, war die Antwort.
Oder ja oder nein! Lass mich.
Was ist los mit dir?, kam die nächste Frage durch die Tür.
Alfred antwortete jetzt mit tonloser Stimme:
Ich fühle mich nicht gut.
In der nächsten Sekunde wurde die Tür geöffnet und Moritz kam ins Zimmer. Alfred warf rasch die Zeitung über sein Frühstück.
Moritz war besorgt:
Was heißt, du fühlst dich nicht gut?
Ich weiß auch nicht, sagte Alfred gequält, irgendwas ist mit mir.
Möchtest du Haferschleim?
Du musst dich nicht kümmern.
Was heißt, ich muss mich nicht kümmern? Sei nicht albern. Ein Tee mit Zwieback ist schnell gemacht.
Meinetwegen, gab Alfred nach.
Na, siehst du.
Moritz ging zur Tür.
Die Kittelschürze ist schrecklich, sagte Alfred.
Ich weiß.
Die Tür wurde geschlossen.
Alfred stopfte rasch das Brot in sich hinein. Er kaute und trank.
Die junge Frau verließ die U-Bahn-Station Westend. Sie hielt einen Zettel in der Hand, musste sich kurz orientieren, wo sie war. Sie fragte einen Schülerlotsen nach der Straße. Der zeigte in eine Richtung. Die junge Frau bedankte sich und ging weiter.
Einige Minuten später stand sie für einen Augenblick unschlüssig an der Pforte und schaute auf die eindrucksvolle graue Villa. Dann drückte sie auf die untere Klingel, an deren Schild der Name Kleefeld stand. Die Klingel darüber trug den Namen Stöcklein.
Durch ein offenes Fenster im Erdgeschoss vernahm sie das Geräusch eines Staubsaugers. Sie schaute ratlos, als ein junger Briefträger hinter ihr sein gelbes Fahrrad aufbockte.
Morgen. Wollen Sie da rein?, fragte er.
Ja, sagte die Frau.
Der Briefträger meinte:
Das dauert, bis die aufmachen, die zwei Zausel.
Er öffnete mit sicherem Griff die Gartenpforte am inneren Drehknopf.
Dann drückte er der jungen Frau die Post in die Hand.
Darf ich? Einer ist sicher da …
Und damit radelte er weiter.
Sie klingelte an der Tür. Das Staubsaugergeräusch brach ab.
Moritz zog rasch die Kittelschürze aus. Er blickte kurz in den Garderobenspiegel, ordnete mit den Fingern ein wenig sein Haar und öffnete die Tür.
Davor stand eine attraktive junge Frau.
Sie war ein wenig größer als er, hatte das hübscheste Lächeln, die weißesten Zähne und die wärmsten Augen der Welt, als sie mit einer angenehmen Stimme sagte:
Guten Tag. Mein Name ist Zamira Latif. Hier, Ihre Post …
Moritz nahm ihr den Packen aus der Hand.
Kleefeld, bitte treten Sie doch ein, es ist leider etwas …
Zamira betrat den Flur und schaute sich um. Dabei sagte sie:
Danke, dass Sie haben sich gemeldet auf meinen Brief.
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, erwiderte Moritz.
Er warf die Post auf eine Konsole und zog den Staubsauger zur Seite.
Bitte, legen Sie doch ab.
Moritz wollte ihr helfen, aber sie hatte blitzschnell die Jacke ausgezogen und hängte sie an den Haken. Ein Mobiltelefon spielte eine arabische Melodie.
Entschuldigung, sagte sie, und fingerte ihr Handy aus dem Rucksack. Sie schaute auf das Display und schaltete das Gerät aus.
Er machte eine Handbewegung und zeigte zum Salon. Sie ging los.
Zamira sah sich im Zimmer um. Es war ein großer Raum, von dem man durch eine Flügeltür ins Speisezimmer sehen konnte.
Woher kommen Sie? Sie haben nichts darüber geschrieben.
Berlin.
Ich meine, woher stammen Sie?
Aus Hebron.
Ah, Hebron, sagte Moritz mit belegter Stimme.
Er musste sich räuspern. Ausgerechnet eine Palästinenserin, dachte er. Sympathisch wirkt sie ja, aber wenn sie erfährt, wo sie hier gelandet ist, haut sie wieder ab. Oder, so kam ihm plötzlich angstvoll in den Sinn, wusste sie es bereits! Vielleicht war sie Teil eines heimtückischen Plans? Eine arabische Mata Hari.
Sie spielen Klavier, sagte sie und zeigte auf den Steinway-Flügel, der in der Ecke stand.
Ein wenig, meinte Moritz, Lang Lang bin ich nicht. Eher Kurz Kurz.
Sie musste lachen.
Spiel ich Geige, sagte sie.
Ich spiele Geige, verbesserte er sie.
Sie spielen Geige?
Nein, ich habe Sie nur korrigiert. Sie sagten: Spiele ich Geige. Es heißt aber: Ich spiele Geige. Zuerst das Pronomen, dann das Verb.
Klar. Mache ich immer den gleichen Fehler.
Bevor er etwas sagen konnte, verbesserte sie sich:
Ich mache immer den gleichen Fehler!
Moritz schaute sie an und dachte:
Wer Geige spielt, konnte kein schlechter Mensch sein. Obwohl, wenn er ans Dritte Reich dachte, an die musischen Bestien. Hatte Heydrich nicht Geige gespielt? Oder war es Mengele?
Dann können wir ja Hauskonzerte geben, sagte er.
Sie lächelte.
Die junge Frau schaute hinüber zu einer Staffelei, die dekorativ vor dem Fenster stand und auf der sich Fannys letztes Werk befand, ein Aquarell von ihrer Reise in die Provence. Lavendelfeld mit Olivenbäumen. Nichts Berühmtes, aber auch nicht schlecht. Alfred machte sich hin und wieder lustig über das amateurhafte, naive Bild, aber Moritz mochte es nicht wegstellen. Er wollte, dass der Geist seiner Frau nach wie vor präsent blieb in diesem Haus.
Sie sind Künstler?, fragte sie.
Nein, das hat meine Frau … als sie noch gelebt hat, natürlich. Ich bin Soziologe … und Psychologe.
Ah, Psychologe! Haben Sie zu tun mit Verrückten?
Er lachte.
Im Augenblick nur mit einem!
Sie verstand es nicht. Er winkte ab. Unwichtig.
Ich war an der Universität.
Wow, sagte sie, sind Sie ein Professor!
Na ja, jeder ist, was er ist …
Sie verwirrte ihn.
Unser Hausmädchen war über dreißig Jahre bei uns.
Jetzt fiel ihm auf, dass sie im Zimmer herumstanden.
Bitte, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?
Nein, vielen Dank, sagte sie, während sie in einem Sessel Platz nahm.
Sind Sie schon lange hier? Sie sprechen wunderbar deutsch.
Ich war in Beirut auf der deutschen Schule.
Tatsächlich?
Darf ich das Haus sehen?, fragte sie plötzlich.
Warum wollte sie jetzt das Haus sehen? War sie auf die Kleefelds angesetzt? Sollte sie sich den Plan einprägen für das Kommando, das in wenigen Stunden hier einfallen würde? Für die vermummten Männer, die mit einem weißen Toyota Hilux durchs Tor preschen, die Tür eintreten und dann mit Kalaschnikows um sich ballern würden. Trug sie vielleicht einen Sprengstoffgürtel? Wo hatte sie ihre Pistole versteckt?
Das Haus! Aber sicher, verzeihen Sie, ich bin etwas nervös … mein Bruder ist kränklich und er fühlt sich heute elend …
Oh, tut mir leid.
In diesem Augenblick betrat Alfred schwungvoll das Zimmer!
Er war leger gekleidet, wirkte jugendlich. Er machte einen kerngesunden Eindruck! Alfred, der Schauspieler. Vermutlich hatte er die hübsche Frau schon von seinem Balkon aus erspäht und sich vorbereitet. Beiläufig sagte er:
Moritz, ich wollte … hallo … wen haben wir denn da?
Sein Bruder zeigte auf Zamira.
Das ist Frau …
Latif, sagte die Schöne.
Frau Latif, wiederholte Moritz, um dann anzufügen, sie kommt aus Hebron!
Alfred ließ sich nichts anmerken, sondern ging zu Zamira und gab ihr die Hand.
Madame.
Sie kommt aus Hebron!, wiederholte Moritz lauter. Er war sauer. Das war wieder einmal typisch. Der eitle Geck, und wie er sich an die Rampe spielte.
Habe die Ehre, Kleefeld, sagte Alfred.
Moritz musste wieder die Initiative ergreifen.
Frau Latif interessiert sich für die Stelle als Hausdame …
Alfred lächelte ironisch.
Glauben Sie kein Wort, Verehrteste, sagte er, »Hausdame« ist ein Euphemismus. Im Klartext heißt das Putzfrau, Köchin, Krankenschwester und …
Er grinste verschmitzt und fügte pathetisch an, indem er jede Silbe betonte:
To-ten-grä-be-rin!
Moritz atmete tief durch. Was sollte das jetzt?
Zamira wurde unsicher.
Aber in der Annonce war geschrieben »Hausdame« …
Erlauben Sie mir bitte die kleine Übertreibung. Ich bin Schriftsteller.
Auch das noch, dachte Moritz, jetzt ist er auch noch Schriftsteller! Nur weil er seit Monaten versucht, seine überflüssigen Lebenserinnerungen in seinen Laptop zu hacken.
Bevor aber Moritz etwas sagen konnte, meinte Alfred:
So, Kinder, ich lasse euch. Ich habe einen Termin.
Im Rausgehen drehte er sich noch einmal theatralisch um:
An Ihrer Stelle würde ich mich nach etwas anderem umschauen. Für die Arbeit bei uns sind Sie viel zu schön!
Dieser Auftritt war gelungen, dachte Moritz bitter.
Alfred war bereits außer Sichtweite, als er sagte:
Ich esse in der Stadt!
Moritz rief ihm nach:
Was heißt, du isst in der Stadt? Ich wollte eine Gemüsepfanne machen.
Eben, deshalb!
Dann fiel die Tür ins Schloss.
Einige Minuten später standen sie in Alfreds Zimmer vor dem Filmplakat.
Wow! Freddy Clay! Habe ich schon mal gehört.
Moritz spielte es herunter.
Das ist lange vorbei. Er kann sich keinen Text mehr merken. Deshalb schreibt er jetzt. Na ja, was heißt »schreiben« … Thomas Mann ist er nicht.
Können Sie ihm nicht helfen?
Beim Schreiben?
Psychologisch.
Sie tippte sich an die Stirn.
Moritz schüttelte den Kopf.
Fortgeschrittene Arteriosklerose. Da ist nichts zu machen. Immerhin ist er bereits fünfundsiebzig.
Sieht gut aus, sagte sie.
Finden Sie?, wurde Moritz eifersüchtig, ich bin achtundsiebzig.
Nein, rief sie, nicht möglich!
Wenn ich es Ihnen sage.
Hätte ich das nie gedacht, können Sie sich bei Gott bedanken, dass Sie sind in Form.
Moritz fühlte sich geschmeichelt.
Gott hat sicher seinen Anteil daran, aber ich habe selbst dazu beigetragen, dass ich noch fit bin.
Machen Sie Sport?, wollte sie wissen.
Um Himmels willen! Nein, aber ich bin streitbar!
Streitbar?
Das Gehirn muss trainiert werden. Wer sich gern streitet, bleibt jung!
Nein, Streit macht nur Probleme.
Ich meine auch nicht Streit im Sinne von Streit. Man muss wach sein, reflektieren, argumentieren, sich wehren.
Okay, stimmt, Herr Professor. Soll man sich nix gefallen lassen. Sonst machen die, was die wollen.
Wer?
Die Leute.
Da haben Sie recht … bitte.
Er zeigte zur Tür.
Sie drehte sich noch einmal zum Plakat um.
Moritz legte ihr kaum merklich die Hand auf den Rücken und schob sie sanft zur Tür. Er berührte dabei unabsichtlich den Verschluss ihres Büstenhalters durch das T-Shirt. Und ihr junges, strammes Fleisch. Wie lange hatte er so etwas nicht mehr erfühlt? Hundert Jahre.
Wie gesagt, mein Bruder ist etwas kränklich.
Die Küche war unaufgeräumt. Schmutziges Geschirr stand im Waschbecken. Zamira sah sich um, während Moritz redete:
Sie müssen mir glauben. Ich bin sonst etepetete.
Was?
Sauber.
Sie lächelte.
Also, das ist mir unangenehm. Ich war gerade am Putzen.
Sie hätten sehen sollen unsere Wohnung.
So unaufgeräumt?, fragte Moritz.
Nein. Mein Mann hat alles kaputt gemacht.
Moritz war entsetzt.
Kaputt? Wieso?
Weil ich weg bin …
Ein Araber?
Nein, sagte sie leise, deutsch.
Moritz war erleichtert. Ein Ehrenmord hier im Haus, das hätte ihm noch gefehlt.
Sie sind verheiratet?
Ja, aber ich habe eingereicht die Scheidung.
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:
Ich will, dass er mich in Ruhe lässt.
Und? Lässt er Sie in Ruhe?, wollte Moritz wissen, er war beunruhigt.
Er weiß nicht, wo ich bin. Wenn er wüsste …
Das hört sich ja gut an, dachte Moritz.
Ist er denn kräftig?
Er trinkt. Und wenn er ist in Rage, wird er wie ein Tier!
Wie ein Tier! Auch das noch! Die Unruhe steigerte sich bei Moritz.
Die Polizei ist gekommen, sonst hätte er mich umgebracht!
Umgebracht! Er sah ihn vor sich. Ein blutrünstiger Riese. Moritz würde nachher ein Valium nehmen müssen.
Sie ging zum Spülstein und ließ Wasser einlaufen.
Was machen Sie da?
Spülen, sagte sie.
Moritz stellte das Wasser ab.
Das kommt überhaupt nicht infrage. Außerdem haben wir einen Geschirrspüler. Und wir sind uns ja auch noch nicht einig, oder?
Ich würde gern arbeiten hier, sagte sie bestimmt.
Das will gut überlegt sein.
Moritz sah sich unter einem weißen Tuch vor dem Haus liegen. Zwei Füße ragten hervor. Ein Schuh und ein Strumpf waren zu sehen. Wo ist immer der zweite Schuh bei solchen Katastrophen? So ein netter Herr, würde die Nachbarin ins Mikrofon sagen, gestern hat er noch freundlich gegrüßt. Alfreds Leiche und die der Frau lagen im Hausflur. Einen verwirrten Mann mit blutverschmiertem Messer in der Hand hatte man bereits festgenommen. Eine Beziehungstat wird nicht ausgeschlossen. Der »mutmaßliche« Täter, würde es in der Tagesschau korrekterweise heißen. Er hätte keinen Nachnamen und sein Gesicht wäre gepixelt.
Wir waren noch nicht im Keller, sagte er.
Wow, Sie haben einen richtigen Weinkeller!
Als meine Frau noch lebte, haben wir Weinreisen gemacht, nach Frankreich, und haben uns aus dem Bordeaux Weine mitgenommen. Wir waren auch im Burgund. Und an der Loire.
Er nahm eine Magnumflasche aus dem Regal und besah sich das Etikett.
Ist die dick, meinte Zamira.
Je voluminöser die Flasche, desto besser das Aroma. Das ist ein Grand-Puy Ducasse von 1984.
Vierundachtzig, rief sie, bin ich geboren!
Er lächelte ihr zu und sagte:
1984 war ein gutes Jahr.
Vierundachtzig, dachte er, da war er schon fast fünfzig. Und sie wurde gerade geboren.
Er legte die Flasche zurück. Sie gingen weiter.
Jetzt stand Zamira staunend vor dem Regal mit den zahllosen Einmachgläsern.
Das ist meine Passion!
Konfitüre ist ihre Passion? Sie verstand es nicht.
Meine Frau war Belgierin.
Belgien ist schön?
Was heißt schön? Die Schokolade ist gut und das Bier. Und die Pommes frites, natürlich. Sie kam aus Antwerpen, aus dem flämischen Teil.
Aha.
Es gibt auch einen wallonischen Teil. Sie hat immer gern Marmeladen gemacht und an den Feiertagen hat sie kleine Konfitüregläser verschickt, an die Familie, und so ist das gekommen. Ich habe diese Tradition übernommen.
Sie schaute ihn an.
Das mit dem Einmachen, schob er hinterher.
Zamira sagte:
Haben Sie Ihrer Frau geholfen. Das ist gut. Die arabischen Männer machen das nicht. Und die deutschen auch nicht.
Moritz’ Ton veränderte sich, als er zu erzählen begann:
Sie war mit unserer Haushälterin vom Markt gekommen und plötzlich bekam sie mörderische Kopfschmerzen und wurde bewusstlos. Wir haben den Notarzt gerufen, sie kam sofort in die Klinik. Es war ein Aneurysma, ein Stau in einem Blutgefäß im Gehirn, und das wird immer dicker, bildet eine Beule und reißt dann.
Schrecklich!, sagte Zamira.
Dabei hatte sie gerade eine Krebstherapie hinter sich und war auf dem Weg der Besserung.
Tut mir so leid, sagte die junge Frau.
Ich konnte nicht auf der Intensivstation bleiben, es machte mich fertig. Die Haushälterin blieb, ich bin zurück nach Hause. Und ich sah das viele Obst, das auf dem Tisch lag. Und dann habe ich es geputzt. Ich habe geweint, geputzt, gekocht, geweint. Und mir gesagt, wenn ich das ganze Obst koche, dann wird sie wieder gesund.
Sie sind ein guter Mensch, sagte Zamira, das merkt man gleich.
Sie ist dann in der Nacht gestorben.
Moritz wurde traurig und wollte das Thema wechseln:
Das Einmachen beruhigt. Und man hat direkt einen Erfolg. Wenn ich eine Vorlesung hielt, haben mich zweihundert Studenten angeglotzt, aber ich konnte nie sicher sein, ob da etwas hängen blieb.
Sie lachte:
Bei Marmelade bleibt was hängen!
Er lächelte.
Allerdings. Man präpariert die Früchte, man kocht sie, man verfeinert sie und ein paar Stunden später stehen sie hier unten. In Gläsern, säuberlich beschriftet und haben einen Sinn. Ich verschenke sie an Freunde.
Sie schaute versonnen auf die Gläser.
Toll, sagte sie.
Finden Sie wirklich?
Natürlich, ich lüge nicht.
Er gab ihr wortlos ein Glas.
Nein, ich kann das nicht annehmen, sagte sie.
Warum nicht?
Sie kennen mich nicht.
Sie werden mir das leere Glas hoffentlich zurückgeben?, fragte er.
Beide lachten.
Und Ihr Bruder? Hat der auch ein Hobby?
Moritz dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er:
Jetzt, wo Sie das fragen … ich glaube, er ist sein Hobby.
Sie standen in der kleinen Wohnung unter dem Dach, die noch nach Frau Stöcklein roch. Während Moritz das Fenster öffnete:
Ich wollte sie renovieren lassen, aber unsere Haushälterin war allergisch gegen Farben …
Ich nicht, meinte Zamira, kann ich streichen.
Das kommt nicht infrage. Also, wenn Sie … ich meine, wenn wir uns einigen, dann wird die Wohnung picobello hergerichtet.
Sie ging zum offenen Fenster und schaute hinaus. Er sah ihre wundervolle Figur im Gegenlicht.
Schön, sagte sie.
Ja, meinte er versonnen. Sehr schön.
Moritz war fasziniert. Ihre anmutigen Bewegungen. In ihren Händen hielt sie das Marmeladenglas. Sie drehte sich zu ihm um und fragte:
Das gehört alles Ihnen? Auch der Garten?
Ja, sicher.
Wir haben alles verloren. Durch Israel.
Moritz wollte sich auf keinen Fall auf dieses Thema einlassen.
Er lenkte ab:
Eigentlich wäre ich gern woanders, sagte er.
Und wo?
Moritz überlegte.
Also … es ist schwer zu sagen … mal hier, mal dort.
Reisen Sie gern?
Ja, sagte er, aber ich bin auch gern zu Hause.
Was erzähle ich denn da, dachte er.
Zamira und Moritz standen im Hausflur.
Wie gesagt, meinte Moritz, ich möchte, dass sich auch mein Bruder äußert. Schließlich müssen wir alle hier zusammenleben.
Versteh ich, sagte sie, ich komme noch mal vorbei.
Sie lächelte.
Etwas lag Moritz auf der Seele und er musste es loswerden. Er räusperte sich.
Es gibt noch eine Sache, die Sie wissen sollten. Also, es ist so … Sie sind Islamistin … nein, ich will sagen, Sie glauben an Allah.
Ja. Ich bin Muslima, sagte sie. Aber bin ich nicht religiös. Und Sie?
Nun, ich bin … ich bin jüdisch!
Zamira war überrascht.
Jude? Sie sind sicher?
Moritz lächelte über ihren Einwand.
Ja, ganz sicher.
Und Freddy Clay auch?
Ja, Frau Latif, seine Stimme wurde fester. Unsere Familie ist jüdisch.
Ein Moment der verlegenen Pause folgte.
Warum Sie sind nicht in Israel?
Warum sind Sie nicht in Hebron?, fragte er sofort zurück.
Weil man nicht in Hebron leben kann. Wollen Sie wissen, warum?
Moritz spürte eine unterschwellige Aggression.
Es liegt mir fern, sagte er, die israelische Siedlungspolitik zu verteidigen. Ich bin nur ein einfacher Jude und nicht verantwortlich für die israelische Regierung. Für mich ist das ein Unterschied, leider nicht für Ihre Extremisten.
Sie sah ihn an und fragte:
Sie waren in KZ?
Nein. Wir konnten rechtzeitig in die USA flüchten. Aber mein Vater ist im KZ umgekommen und viele aus unserer Familie.
Zamira schaute ihn ernst an und sagte:
Heute behandeln die Juden die Palästinenser so, wie die Nazis die Juden. Die Juden sollten doch wissen, wie das ist.
Erstens ist das nicht wahr. Gaza oder das Westjordanland mit einem KZ zu vergleichen, ist infam, schoss Moritz zurück. Zweitens: Auschwitz war keine Universität, dort hat man nicht Humanität gelehrt. Warum erwartet man immer von den Juden Verständnis und Nachgiebigkeit? Sie sind ein Volk wie jedes andere. So gut und so schlecht.
Die Stimmung hatte sich verändert. Beide spürten das. Zamira schaute auf die Uhr. Hoffentlich behält sie das Marmeladenglas, dachte Moritz.
Sie stellte es auf die Konsole.
Ich muss überlegen, sagte sie, ich melde mich.
Nachdem sie gegangen war, musste Moritz lange an sie denken. Nein, sie war keine eingeschleuste Terroristin. Er hoffte, sie würde den Job annehmen.
Sie waren im Garten. Alfred war im Begriff, einen Kopfstand zu machen. Er trug einen Jogginganzug.
Sie ist nett. Und nicht dumm, sagte Moritz, der am Gartentisch saß.
Wenn du »nicht dumm« sagst, meinst du »intelligent«, kam Alfreds Stimme kopfüber von unten, wenn du »nett« sagst, bist du hin und weg.
Das wollte Moritz so nicht stehen lassen.
Unsinn, aber ich habe das Gefühl, sie ist eine anständige Person.
Alfred kam wieder auf die Beine. Er atmete schwer, erhob sich, haute sich in einen Korbsessel und sagte:
Du verstehst was von Frauen!
Nein, nur du!, konterte Moritz.
Ich trage keine Strickwesten!
Mit Blick auf den schnaufenden Alfred sagte Moritz:
Was quälst du dich?
Ich halte mich fit, widersprach er, außerdem war ich immer sportlich. Im Gegensatz zu dir, du schlamassel.
Dafür habe ich ein gesundes Herz und einen gesunden Magen.
Alfred nahm das Sprudelwasser und trank aus der Flasche.
Warum nimmst du kein Glas?
Alfred setzte die Flasche ab und wischte sich den Mund.
Hast du Angst vor Aids oder was?
Er reckte sich und atmete tief durch. Dann fragte er:
Nu, was ist jetzt mit dieser Palästinenserin?
Dass wir Juden sind, hat ihr einen Schock versetzt.
Dass wir alte Juden sind!
Falls sie »Ja« sagt … sie muss dir auch gefallen.
Gefallen? Wer so aussieht, für den ist Sünde eine Tugend.
Ich wollte sie nicht als deine Mätresse einstellen.
Sie ist immerhin Araberin. Vielleicht ist sie ein Sleeper?, sagte Alfred.
Ein Beisleeper! Moritz grinste.
Nein, im Ernst, was kann man wissen?
Moritz versuchte, die Zweifel zu zerstreuen.
Die Hamas hat sie rekrutiert, um zwei alte Kacker in die Luft zu sprengen! Glaubst du das tatsächlich?
Die sind zu allem fähig.
Moritz wollte davon nichts hören.
Sie wird den Haushalt machen und fertig.
Deine verpischten Unterhosen waschen, sagte Alfred.
Und dein verstunkenes Zimmer aufräumen.
Moritz grinste wieder.
Sein Bruder grinste zurück.
Du alter jeckepotz!, sagte er.
Du nudnik!, antwortete Moritz.
Das Telefon klingelte.
Moritz nahm den Hörer.
Ja, bitte, sagte er.
Professor?
Er erkannte ihre Stimme sofort.
Der Regen prasselte gegen die Erkerfenster. Ein wenig verloren wirkte Zamira in dem breiten Ledersessel. Ihr gegenüber, fast wie bei einem Verhör, saßen Moritz und Alfred. Alfred erzählte schon seit über einer Viertelstunde Belanglosigkeiten. Von irgendwelchen Dreharbeiten zu irgendeinem Film. Zamira lauschte aufmerksam, wahrscheinlich nur aus Höflichkeit, während sich Moritz langweilte. Er kannte die Geschichten zur Genüge, allerdings baute Alfred sie von Mal zu Mal aus und erfand immer neue Variationen. Nun war die Nummer mit den Zähnen dran:
Und dann habe ich sie gebissen, hier in den Hals, die große Ornella Muti, und plötzlich waren meine Zähne fort! Mein Vampirgebiss war spurlos verschwunden. Es war in ihren Ausschnitt gefallen!
Zamira lächelte höflich.
Ja, ein Vampir ohne Zähne!, sagte Alfred und sah dann zu seinem Bruder.
Du weißt, wie das ist, Moritz … Golden Gate!
Er schüttete sich aus vor Lachen.
Was ist so lustig?, sagte Moritz.
Alfred sagte lachend zu Zamira:
Sie müssen entschuldigen, aber mein Bruder hat keinen Humor.
Moritz lächelte gezwungen.
Wegen Alfreds Humor hatten wir als Kinder oft Stubenarrest!
Alfred mit scharfem Ton:
Dein Vater hatte auch keinen Humor. Das hast du von ihm.
Das hätte er nicht sagen sollen. Moritz schaute ihn böse an.
Onkel David hatte Humor, stimmt!, sagte er bissig.
Alfred versuchte, die Situation zu entschärfen:
Erzählen Sie von Ihren Eltern, Zamira.
Ach, sagte sie, was soll ich erzählen … mein ist Vater gestorben, war ich klein. Ich bin zu meiner Tante gekommen. Bin da aufgewachsen, Schule und so.
Sie sind Waage, sagte Alfred.
Wow, woher wissen Sie das?
Ich erfühle es, sagte er pathetisch.
Nein, bitte jetzt keine Horoskope!, dachte Moritz. Er wollte das Thema beenden.
Erzählen Sie von Ihrer Kindheit. War sie schön?
Schön? Wir lebten im Westjordanland!
Das saß!
Ich wollte Krankenschwester werden.
Moritz meinte mit Blick auf seinen Bruder:
Da finden Sie hier ein weites Betätigungsfeld. Mein Bruder ist dauernd krank. Heute das Herz, morgen die Leber.
Soll er ruhig reden. Ich mache jeden Tag noch Fitnesstraining. Wie alt schätzen Sie mich?
Bring doch Frau Latif nicht in Verlegenheit.
Alfred ließ nicht locker:
Na, schätzen Sie.
Ihr Bruder hat mir gesagt, wie alt Sie sind, gestand Zamira.
Alfred war sauer.
So? Hat er Ihnen auch gesagt, wie alt er ist?
Ja, sagte sie.
Alfred erhob sich. Er schaute auf die Uhr und sagte dann:
Ich habe mich verplaudert. Die Arbeit ruft. Also, von mir aus gestorben!
Gestorben?, fragte Zamira.
Alfred belehrte sie:
So sagt man beim Film, wenn eine Einstellung in Ordnung ist. Ich bin einverstanden, vorausgesetzt, das mit dem Geld geht klar.
Das werden wir schon hinkriegen, sagte Moritz.
Wissen Sie, das Finanzielle erledigt bei uns mein Bruder. Er ist der Gewissenhaftere von uns beiden. War er schon immer. Geld bedeutet mir nicht viel.
Deshalb gibt er es gern aus, fiel ihm Moritz ins Wort.
Alfred sagte:
Glauben Sie mir, geizige Menschen sind was Schreckliches.
Moritz protestierte:
Ich bin geizig? Geizig sind Menschen, die auch an sich selber sparen. Spare ich an mir selber? Ich rechne. Wenn ich nicht rechnen würde, dann … vergiss es.
Alfred stand auf.
Ciao belli, sagte er.
Sie schauten ihm beide hinterher, wie er aus dem Zimmer ging. Wieder ein starker Abgang.
Ich möchte Probezeit, sagte sie unvermittelt.
Einverstanden.
Die Haustür war geöffnet, der Regen fiel in Strömen auf das gläserne Vordach.
Moritz half Zamira in ihre Jacke.
Soll ich Ihnen nicht ein Taxi rufen … ich zahle das.
Danke, sagte sie, ich hab Kapuze und Schirm …
Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihn an.
Ich geh mal los …
Moritz wollte etwas sagen:
Frau Latif …
Sagen Sie Zamira.
Zamira, wenn Sie Geld benötigen, vorab, ich meine …
Sie schüttelte den Kopf.
Danke. Ich brauche kein Geld. Bis Montag, Herr Kleefeld.
Sie öffnete den Schirm und verschwand im Regen.
Er stand noch einen Moment und schaute ihr nach.