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Carla war die erste große Liebe seines Lebens, er siebzehn, sie zwanzig. David hatte ihnen ab und zu seine Wohnung zur Verfügung gestellt, das war hilfreich. Dann beendete sie mitten im Semester ihre Gesangsausbildung an der Frankfurter Oper, um in eine Meisterklasse an die Mailänder Scala zu wechseln. Anfangs hielten sie noch Kontakt, aber dann begann die Verbindung sich langsam aufzulösen. Carla hatte ihm geschrieben, dass die Entfernung zu groß sei, eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Die Zeit verging, er machte sein Abitur und begann mit einer Schauspielausbildung am Frankfurter Theater. Irgendwann erreichte ihn eine Programmkarte der Scala mit der Ankündigung für ein Konzert. Ein paar Wochen später war er in den Zug gestiegen und nach Milano gefahren, um sie nach ihrem ersten Soloauftritt mit einem Blumenstrauß zu überraschen. Er fühlte sich wie in der Novelle von Schnitzler, die er zurzeit an der Schauspielschule einstudierte.

Er stand am Bühnenausgang und konnte über die anderen hinweg auf die Tür blicken. Dann kam sie heraus, ein Blitzlichtgewitter empfing sie – und ein anderer Mann! Er hatte die ganze Zeit neben dem Kerl gestanden, der ebenfalls mit einem Blumenstrauß bewaffnet war. Wieder fiel ihm Schnitzler ein, diesmal aber das Duell aus »Leutnant Gustl«!

Er kämpfte sich zu ihr durch und begrüßte sie. Carla freute sich aufrichtig. Wie selbstverständlich stellte sie ihm ihren Freund Umberto vor, der als ihr Impresario fungierte.

Anstatt diesen Menschen zu fordern, begleitete er beide in eine kleine Trattoria in der Galleria Vittorio Emanuele, wo sie einen netten Abend verlebten. Alfred gab vor, hier um die Ecke in einem Hotel zu übernachten. In Wahrheit verbrachte er die frühen Morgenstunden im Milano Centrale, wo er gegen acht den ersten Zug in Richtung Deutschland nahm. Während draußen die Telegrafenmasten vorbeirasten, nahm er sich vor, reich und berühmt zu werden, sodass sich Carla nach ihm verzehren würde.

 

Nachdem er seine Abschlussprüfung hinter sich hatte, wusste Alfred nicht so richtig, wie es mit ihm weitergehen sollte. Es gab seriöse Angebote von Bühnen in der Provinz, aber er konnte sich nur schwer ein Leben in Karlsruhe oder Braunschweig vorstellen. Außerdem galt seine Sehnsucht dem Film. Es musste ja nicht der deutsche sein. Die Filme der frühen sechziger Jahre waren nicht dazu angetan, einen jungen Mann, der sich nach Hollywood orientierte, zu begeistern. Edgar Wallace, Karl May oder Heimatschmonzetten waren nicht nach seinem Geschmack.

Durch einen Zufall lernte Alfred den Schauspieler Klaus Kinski kennen, der mit Liedern von François Villon tourte. Alfred war begeistert, denn er erkannte sich und seine Gefühle in diesen frivolen Gesängen wieder:

 

Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lungen wund, nach deinem weißen Leib, du Weib! Im Klee, da hat der Mai ein Bett gemacht, da blüht ein schöner Zeitvertreib mit deinem Leib, die lange Nacht. Das will ich sein, im tiefen Tal, dein Nachtgebet und auch dein Sterngemahl.

 

Nachts in der Kantine gab ihm Kinski den Tipp, nach Rom zu gehen. In Cinecittà würden serienweise Western gedreht und ein Junge mit Alfreds Aussehen, seinem amerikanischen Slang und seinem Talent hätte da fraglos Chancen. Allerdings sei Rom teuer und Kinski riet ihm, hier noch Geld zu verdienen, um gegebenenfalls ein halbes Jahr in Italien zu überbrücken, die Konkurrenz sei groß. Junge US-Schauspieler oder Franzosen antichambrierten unentwegt in den Studios und hofften, von Corbucci oder Leone entdeckt zu werden.

 

In der Eschersheimer Landstraße besaß ein Herr Blackwood eine Pizzeria, die »Bologna« hieß. Die italienische Küche war bei der einheimischen Bevölkerung noch unpopulär und so setzte Blackwood auf die Amerikaner, die bereits auf eine lange Pizzaerfahrung zurückblicken konnten. Der Wirt war vor dem Krieg nach Providence in Rhode Island emigriert. Im Gefolge der US-Army kam Blackwood zurück nach Frankfurt, wo er in den Nachkriegsjahren als Teilacher ausreichend Geld verdiente, um schließlich das »Bologna« eröffnen zu können.

Auf »gepflegte Gastlichkeit in südlicher Atmosphäre«, wie es in der mandolinenseligen Kinowerbung hieß, legte Blackwood in Wahrheit wenig Wert. An den Wänden hingen ein paar minderwertige Aquarelle mit den klassischen italienischen Urlaubsmotiven Rialtobrücke, Kolosseum und Pisa-Turm und selbstverständlich gab es die unvermeidlichen rot-weiß karierten Tischdecken, auf denen zu Kerzenleuchtern mutierte Chiantiflaschen standen. Für die zwölf Tische war Barry zuständig, ein freundlicher schwarzer Kellner, für deutsche Gäste eine Attraktion. So nah kam man seinerzeit einem »Neger« selten.

Das wichtigste Requisit im Lokal war das Telefon. Denn das »Bologna« war der erste Laden, der Home Delivery machte! Und es war kein Zufall, dass diese Geschäftsidee in Frankfurt umgesetzt wurde, denn hier im Rhein-Main-Gebiet waren Zehntausende von US-Army-Angehörigen zum Teil mit ihren Familien stationiert. Das hatte zur Folge, dass das Telefon vierzehn Stunden nicht stillstand und Blackwood es oft vorübergehend aushängen musste, weil er mit den Aufträgen nicht mehr nachkam und Hunderte von Kassenbons auf Spieße stecken musste.

Onkel David kannte Harry Blackwood noch aus der Zeit, als er Herschel Schwarzwälder hieß. Mitte der fünfziger Jahre wurden David, Baby, Alfred und Moritz Stammgäste im »Bologna«.

Obwohl Alfreds Mutter einerseits stolz war, ihren Sohn in Schillers »Räuber« auf der Bühne des Schauspielhauses bewundern zu dürfen, nahm sie ihm andererseits übel, dass er nicht studieren wollte, um es seinem Bruder gleichzutun. Moritz hatte mit knapp vierundzwanzig bereits einen Doktortitel erworben und den Grundstein zu einer erfolgreichen akademischen Karriere gelegt. Deshalb war es nicht überraschend, dass Baby sich weigerte, sich an den zu erwartenden Lebenshaltungskosten in Rom zu beteiligen, abgesehen davon, dass sie diese Idee für meschugge hielt. Onkel David hatte dagegen Verständnis für Freddys Unternehmungslust und ihm heimlich zugesagt, ihn mit tausend Mark bei dem italienischen Abenteuer zu unterstützen. Das reichte bei Weitem nicht, denn Alfred hatte die Absicht, sich ein Auto zu kaufen, um damit nach Rom zu fahren. Es machte nicht nur was her, es bot ihm auch einen Schlafplatz, falls er nicht umgehend eine preiswerte Bleibe finden sollte.

Nachdem er seinen Finanzbedarf auf etwa fünftausend Mark kalkuliert hatte, brauchte er einen Job, der ihn zügig reich machen konnte. Da gab es nur einen: Pizzafahrer bei Blackwood!

Als Alfreds Pizzakarriere begann, arbeiteten bei Blackwood drei Fahrer:

Simon Kornblum, ein jüdischer Architekturstudent, dessen Vater einer der frühen Immobilienkönige wurde und Wert darauf legte, dass sein Sohn kein »fils à papa« würde und sich nicht zu schade wäre, ganz unten in der »Kohlenmine« sein Geld zu verdienen.

Mir hat man was geschenkt?, war ein beliebter Ausspruch des alten Kornblum.

Simon war wohlerzogen und bekam von Blackwood in der Regel die Fahrten zur Frankfurter Hautevolee zugewiesen: zu den Neureichen, zu Konsulaten, Konzernniederlassungen, zur Universität, zu den Verlagen oder zum Hessischen Rundfunk. Hier war der junge Kornblum gern gesehen.

Ganz anders dagegen Hermann Rau! Ein Hüne von Kerl, ein früher Rocker mit der Figur eines Schwergewichtlers. Wortkarg und immer schlecht drauf. Er bekam die kritischen Touren ins Frankfurter Bahnhofsviertel, in die Bars und Bordelle, in die Unterwelt. Es kam nicht selten vor, dass »Herman, the German«, wie ihn die Amis nannten, sich sein Geld auf recht unkonventionelle Weise verdienen musste, indem er es zahlungsunwilligen Türstehern oder besoffenen Zuhältern aus der Tasche prügelte.

Nummer drei war »Bimbo« Ewald. Bimbo, der eigentlich Lothar hieß, war ein kleiner, vogelhafter Mensch, der trotz seiner geringen Körpergröße noch mit gekrümmtem Rücken umherspazierte und dadurch kaum sichtbar war. Es passte zu seinem Biedermeiertyp, dass er großen Wert auf eine gepflegte, um nicht zu sagen altmodische, Sprache legte: Nun denn also, wohlan, frischauf, potz Blitz, sei’s drum – das war seine Ausdrucksweise, die er kultivierte und mit der keiner was anfangen konnte, am wenigsten Blackwood, der ihn für »a rachmunes« hielt, für einen bemitleidenswerten Menschen. Dabei war Bimbo ein begabter Trompeter und spielte in einer Jazzcombo und mit etwas mehr Ehrgeiz hätte er ein deutscher Chet Baker werden können. Sei’s drum.

Herr Blackwood war begeistert, dass Alfred bei ihm als Fahrer arbeiten wollte und investierte in einen vierten VW Käfer. Diese Fahrzeuge waren von Raimund Rübsam, einem Schrauber mit kleiner Werkstatt um die Ecke, eigens fürs Bologna umgebaut worden. Es gab keinen Beifahrersitz, dafür eine spezielle Fixierung für eine Blechtonne, in der die Pizzas und andere Speisen warm gehalten wurden. So eine Thermostonne hatte zwölf horizontal ausklappbare runde Bleche, auf denen die Pappscheiben mit Pizzas lagen oder die Teller mit den Teigwaren. Oben befand sich eine Lederschlaufe für den Transport. Anstelle der Rückbank gab es Vorrichtungen für zwei zusätzliche Tonnen, denn in den US-Kasernen kam es nicht selten zu Massenbestellungen.

Alfreds Arbeit als Pizzafahrer begann mit einer Aufnahmeprüfung. Er musste in Begleitung von Herrn Blackwood einmal um den Block fahren und am Ende vor dem Lokal rückwärts einparken. Da der Käfer nur den Fahrersitz hatte, saß der Boss neben Alfred auf dem Boden des Autos und gab seine Anweisungen. Blackwood sprach Englisch mit Alfred, oder das, was er für Englisch hielt, denn er sprach es stets als eine Melange aus Frankfurterisch und Jiddisch.

Drive los now, rief er. And stop at the Ampel. Gib a kick nach links and go on. Not so schnell, will you kill us. Look at this potz in front of us. Überhol him! What are you waiting for? Schluf nich ein! Du willst sein a driver, then you must drive! The most important ist: dass die Pizzas not werden cold. A cold Pizza, you will get an den Kopp. Mit Recht! Okay, you made it! Die Prüfung war beendet. Von nun an verdiente Alfred zwei Mark fünfzig pro Stunde.

Mit Komplimenten war Blackwood sparsam. Keine Nörgelei war bereits eine Auszeichnung. Egal, wie schnell seine Fahrer fuhren, sie waren immer zu lahm. Gleichgültig, ob sie bis zum Umfallen arbeiteten, alle waren Faulenzer. Nur an Alfred hatte Blackwood einen Narren gefressen. Weil er Englisch sprach. Bereits nach ein paar Tagen war es klar, dass Alfred immer die besten Touren bekam. Bis nach Wiesbaden wurde er geschickt, wo die Jungs von der Air Force wohnten und wo die Trinkgelder besonders hoch waren. Hier kam es vor, dass Eltern mit ihren Kids am Abendbrottisch saßen, jeder einen leeren Teller vor sich, das Besteck in der Hand, und Alfred servieren musste. Er nahm die bestellten Speisen aus der Tonne. Dann reichte er gekonnt Spaghetti, Pizza, oft auch mit Salat. Die Amerikaner ließen sich nicht lumpen. Sie waren begeistert, dass Alfred einer von ihnen war, und überschütteten ihn mit Trinkgeldern. Ein Dollar war das Mindeste und fünf keine Seltenheit. Zu dieser Zeit war der Wert eines Dollars 4,20 DM.

Alfred konnte sein schauspielerisches Talent ausleben, durfte Autofahren, verdiente gutes Geld. Sein Käfer hatte ein Autoradio und so brummte er nachts durch die leeren Straßen und hörte im AFN die aktuellen Hits wie »Lonely Boy« von Paul Anka, »Smoke Gets in Your Eyes« von den Platters oder »What’d I Say« von Ray Charles.

Manchmal kam es vor, dass er Pizzas beim AFN abliefern musste. Dann fuhr er zum IG-Farben-Building, stoppte an der Schranke, sprach ein paar Worte mit dem MP-Mann und hielt vor dem Portal. Mit dem Paternoster fuhr er in den sechsten Stock, ging mit seiner Pizzatonne durch einsame, spärlich beleuchtete Flure, bis er zum Tonstudio kam, wo er von den Moderatoren und den Technikern mit Hallo begrüßt wurde und seine Pizzas verteilte.

Eines Nachts, so erinnerte er sich, wurde plötzlich »Take Five« von Brubeck ausgeblendet und er hörte im Auto auf dem Weg zum Sender den Moderator »Mike, the mike« sagen: Somewhere out there is the guy we are longing for: Freddy, the pizza man! Where are you? Alfred hätte heulen können vor Stolz. Das war es, was er wollte: dass man von ihm sprach.

Eine besondere Herausforderung waren Fahrten zu den großen Kasernen, wie den »Gibbs Baracks«. Kamen die Sammelbestellungen von den Gibbs rein, war es oft schon spät, meistens nach zehn. Dann wurden zwei Tonnen mit Pizzas gefüllt und Alfred raste los. Es war nicht weit. Den Marbachweg runter Richtung Eckenheim, dann links in die Einfahrt.

Hier kannte man ihn schon. Ein Soldat kam aus seinem Wachhäuschen und hob mit der Hand kurz die Schranke an. Dabei tippte er sich an den Helm.

In House B wurde er vom wachhabenden Staff Sergeant nicht gerade herzlich empfangen. Alfred lief mit seinen beiden Tonnen hinter dem Soldaten her, dessen lauter Stiefelschritt durch die nächtlichen Flure schallte. Sie kamen an eine Tür, die er mit Schwung öffnete. Ein Klick, dann begannen unzählige Neonlichter zu knacken, zu flackern und zu brummen. Währenddessen schrie der Sergeant in den Schlafsaal:

Pizza man is here!

Etwa einhundert schlaftrunkene Männer fielen fast aus ihren Betten! Alfred öffnete seine Tonne und rief:

A big double mushroom, salami! Three bucks!

Ein Soldat im grünen T-Shirt schlurfte auf ihn zu und holte sich seine Pizza ab. Er steckte Alfred fünf Dollar zu.

Here you are.

So ging es weiter.

Double cheese!

Hot chilli!

Plain Margherita!

Four seasons!

Napoli without anchovies!

Immer und immerfort, während die Kameraden, die keine Pizza bestellt hatten, sich lautstark beschwerten und herumpöbelten. Manchmal kam auch ein Stiefel geflogen.

Nach zehn Minuten war der Überfall vorbei und Alfred saß im VW und machte Kasse. Es hatte sich gelohnt. Fast zwanzig Dollar tip.

 

Ein Ereignis anderer Art war es, wenn Alfred zur Friedberger Warte musste. Auf dem Gelände des Militärhospitals befand sich eine Kaserne ausschließlich für weibliche Armeeangehörige. Hier kam Alfred zwar durch das Tor, im Erdgeschoss der Kaserne war jedoch Schluss.

Der Zerberus war eine stramme, Kaugummi kauende Unteroffizierin, die ihn unmissverständlich aufforderte, in der Lobby zu warten. Dann lief sie mit wippendem Hinterteil los. Die große Uhr zeigte Viertel nach zehn.

In der Eingangshalle standen Dinge, die Deutsche in Erstaunen versetzt hätten: ein Wasserspender neben der Tür, links eine große Eiswürfelmaschine. Daneben ein Getränkeautomat mit Pappbechern. Ein Gottlieb-Flipper, speziell für Damen, namens »Cheer Leader«.

Auf der anderen Seite eine Musikbox. Gegenüber eine Pinnwand mit Tagesplänen und Dienstanweisungen. In einer Ecke Stahlrohrsessel mit grünen Plastikbezügen. Sie standen um einen flachen Tisch, der voll mit Zeitungen und Illustrierten war, auch mit Comics, darunter »Mad«.

Alfred blätterte während seiner Wartezeit gern in »Keep Rocking« oder »Variety«, wo es Neuigkeiten aus der Welt des Films, der Musik und des Glamour zu erfahren gab. Nach ein paar Minuten schlurften die ersten verschlafenen Frauen in rosa Bommelschlappen in die Halle und holten sich ihre Pizzas ab. Alfred verstand, warum hier auf Sitte und Ordnung geachtet wurde, denn es war in Wahrheit so, dass nicht nur die jungen Frauen vor Eindringlingen beschützt werden mussten. Viele der Soldatinnen waren ungemein sexy in ihren Negligés, Shortys, Baby Dolls und exotischen Nachtgewändern. Und einige lächelten oder blinzelten Alfred durchaus aufmunternd, um nicht zu sagen eindeutig zweideutig zu. Auch hier wurde mit dem Trinkgeld nicht geknausert.

Wenn Alfred nach einem späten Feierabend mit seinem Rennrad nach Hause fuhr, hatte er oft noch Pizzas dabei, »Remittenden«, wie er sie nannte. Rückläufer, die entweder Reklamationen waren oder an Adressen geliefert werden sollten, wo niemand die Tür öffnete. Immer machten sich irgendwelche Kinder einen Spaß und bestellten für ein Haus gegenüber Pizzas. Dann lagen sie auf der Lauer und beobachteten, was sich anbahnte und nicht selten im Streit endete. Deshalb konnte es passieren, dass Alfred um zwei Uhr nachts noch mit der Mutter und Moritz in der Küche saß und sie kalte, gummiartige, leckere Pizzas aßen.

 

Obwohl Alfred fleißig für Rom sparte, ging er an den Wochenenden gern hinaus ins Leben. Es gab die »Hütten-Bar« im Steinweg, in einer Passage dem Metro-Kino gegenüber. Zur blauen Stunde traf sich hier die lebensgierige Jugend. Der Eintritt war ab achtzehn und der Eigentümer, Herr Tanner, saß persönlich am Eingang, von wo eine Treppe nach unten führte, und vergab die Tickets, deren Preis ein Getränk beinhaltete. Tanner, ein notorischer Lebemann, erkannte sofort, ob die Mädchen sich älter machten. Viele behaupteten, sie hätten kein Geld, aber wenn sie attraktiv waren, drückte er ein Auge zu und einen Stempel auf die Hand, denn ein gutes Geschäft brauchte eine gute Auslage. Der Keller war an den Wochenenden rappelvoll. Das Zentrum bildete ein quadratischer Bartresen, hinter dem manchmal ein Dutzend Leute arbeiteten. Flaschen wurden geöffnet, Gläser mit farbigsten Getränken gefüllt, Eiswürfel klapperten, Zitronenscheiben wurden aufgesteckt und Strohhalme gereicht. Es gab mehrere ineinander übergehende Räume, die man durch rot beleuchtete verschlungene Gänge und Treppenstufen erreichen konnte. Rot war die beherrschende Farbe. Es gab rot bespannte Stoffwände, roten Sisalboden, rote Lämpchen, rote Vorhänge, rote Plüschsessel. Überall Nischen und kleine Tische, an denen junge Menschen saßen, rauchten und Gin Tonic, Cuba Libre, Ginger Ale, Bourbon 7UP, Campari Orange, Bols Grün, Cointreau Cacao oder Piccolo tranken. Die Musik war aktuell, Rock’n’Roll wurde in regelmäßigen Intervallen von Schmusetiteln abgelöst. Man küsste sich, man wetzte sich aneinander, man schwitzte vor Hitze und erotischer Aufladung und Alfred lernte in dieser Zeit eine Menge Mädchen kennen.

Darunter war eine achtzehnjährige Schönheit, die sich Inga nannte, weil ihr der Name Ingelore hinderlich schien. Man hätte sie leicht mit Veruschka von Lehndorff verwechseln können und auch Inga wollte Mannequin werden. Sie kam aus bürgerlichem Haus, der Vater war Abteilungsleiter bei Messer Griesheim. Und deshalb sollte die Tochter ebenfalls Abteilungsleiterin bei Messer Griesheim werden oder wenigstens einen Abteilungsleiter von Messer Griesheim ehelichen. Inga hatte sich heimlich bei einer Mannequinschule in der Zeppelinallee in Sachsenhausen angemeldet, die von einer ehemaligen »Miss Rhein-Main« geleitet wurde. Hier bekamen die jungen Frauen vermittelt, sich auf Pumps auf dem Laufsteg hin- und herzubewegen, zu lächeln und einen Pelzmantel hinter sich herzuziehen. Sie erlernten die Geheimnisse des Schminkens und mussten sich aufwendig frisieren können. Nach einem Jahr waren sie fit, die Laufstege von Paris zu erobern.

Aber dafür benötigten die jungen Damen Geld. Denn ein Vorstellungsgespräch bei Dior, Chanel oder bei der angesagten Modelagentur Eileen Ford gab es nicht ohne ein sogenanntes Composé, einen Prospekt der Kandidatin. Und die Fotos darin mussten von einem der großen Modefotografen wie Avadon, Penn, Newton oder Sieff gemacht sein. Und als Inga und Alfred wieder einmal ausgepumpt nebeneinander im Bett lagen, fragte ihn das Mädchen, ob er ihr wohl tausend Mark leihen könne. Alfred reagierte zögerlich, denn das würde seine nahe Zukunft tangieren, aber sie versprach, dass sie ihm das Geld bis zu seiner Abreise nach Rom längst zurückgezahlt hätte. Alfred glaubte ihr, glaubte an ihr Talent und an ihr Durchsetzungsvermögen.

Sie fuhr nach Paris, machte ein Composé und stellte sich bei Agenturen vor. Dass sie Durchsetzungskraft und Talent hatte, sollte sich rasch bewahrheiten: Sie schaffte es auf die Titelseite der Vogue, lernte einen Millionär kennen und heiratete ihn. Das geliehene Geld sah Alfred nie wieder.

 

Trotz dieses Rückschlags hatte er nach einem Jahr über sechstausend Mark gespart und es war an der Zeit, Frankfurt Lebewohl zu sagen. Seine Mutter hatte bis zuletzt gehofft, dass er doch noch von der Idee nach Rom zu gehen und Filmschauspieler zu werden, abließ. Auch Moritz bemühte sich, ihm die Vorzüge einer akademischen Ausbildung schmackhaft zu machen, indem er ihm von Horkheimer und Adorno vorschwärmte – es war vergebens. Alfred hatte eine Bestimmung. Er wollte zum Film. Da konnten Horkheimer und Adorno nicht mithalten.

Über den Kellner Barry kam er zu einem sensationellen Wagen! Für siebenhundert Dollar kaufte er einen Chevrolet Bel Air, türkis und weiß. Ein Schnäppchen. Verkäufer war ein GI, der nach den USA zurück beordert worden war und das Auto schnell loswerden musste.

Für Alfred war es ein unvergesslicher Augenblick, als er am Nachmittag mit seinem Straßenkreuzer vor dem »Bologna« hielt. Alle stürzten nach draußen und staunten. Blackwood bestand darauf, mit Alfred eine Runde um den Block zu machen und setzte sich auf die endlose vordere Sitzbank. Der Straßenkreuzer glitt auf die Straße und Alfred fühlte sich wie auf Wolken.

Er erklärte seinem Chef die geheimnisvollen Kippschalter, Knöpfe und Regler, die automatische Antenne, das Radio, die elektrischen Fenster, die Klimaanlage, den Zigarettenanzünder, das beleuchtete Handschuhfach.

Blackwood war beeindruckt.

A mezije, rief er, unberufen, mazl tov! Und dann fügte er an: Much money you must have. I’m sure, du hast mich beganeft.

Dann mussten sie beide lachen.

Am Ende der Testfahrt wollte Alfred rückwärts einparken und versuchte, den Halbautomatikhebel am Lenkrad zu betätigen. Dabei gab er zu viel Gas und plötzlich krachte es höllisch und die hintere Stoßstange des Chevys stand im Schaufenster des Friseurgeschäfts Krall. Während sich Blackwood amüsierte, entschuldigte sich Alfred zerknirscht beim Friseurmeister, der den Vorfall entspannt zur Kenntnis nahm. Was tun? Alfred rief Onkel David an, der erzählte seiner Versicherung, dass er gefahren sei, und so wurde der Schaden unkompliziert beglichen. Es blieb für immer das Geheimnis von David und Alfred. Und Meister Krall.