18
Zamira und Moritz bummelten durch die Kleinmarkthalle. Die junge Araberin war begeistert. Auch darüber, dass sie an diesem Ort frische Ziegenmilch bekommen konnte. Moritz spürte aber, dass etwas im Raum stand, und fragte sie:
Was ist los mit Ihnen? Sie sind nachdenklich.
Wegen Ihrem Bruder. Er ist so verbittert.
Freddy ist im Grunde ein feiner Kerl. Gut, als Kinder haben wir uns oft gestritten …
Streiten Sie doch immer!
Moritz blieb stehen.
Das nennen Sie Streit? Wir sind selten einer Meinung und er widerspricht mir bereits, bevor er weiß, um was es geht, aber das ist ein Zeichen von Schwäche.
Gut, dass Sie Psychologe sind.
Das ist Pech für ihn, ich durchschaue seine Tricks. Ich weiß, wann er lügt, ich kenne ihn besser als mich selbst.
Er ist nicht glücklich, sagte sie.
Sie gingen weiter.
Sie haben recht. Er, der immer nur Unsterbliche gespielt hat, erkennt, dass er sterblich ist, dass er vergessen wird, dass er im Grunde wenig aus seinem Leben gemacht hat. Er ist nicht mit sich im Reinen. Deshalb liest er, schneidet aus, sammelt, surft im Internet, schreibt seine Erinnerungen. Interessiert sich für Astrologie. Er beschäftigt sich mit vielem und doch mit nichts.
Er tut mir leid, sagte sie.
Ich verbiete Ihnen jegliches Mitgefühl für ihn!
Zamira lächelte. Langsam verstand sie Moritz’ Humor.
Sie kamen zum Käsestand.
Ei, der Herr Professor, sagte die dicke Käsefrau, wie geht’s denn so?
Prächtig, Frau Arnold, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen?
Zamira lächelte.
Was?, sagte die Frau. Davon habe ich ja gar nix gewusst!
Ich auch nicht, meinte Moritz, ich war vor vielen Jahren mal in Marokko und da ist es passiert. Ihre Mutter war eine Bauchtänzerin, in die ich unsterblich verliebt war. Sie wollte meine Ehe und meine Karriere nicht gefährden, aber nun, da ich Witwer bin, hat sie mir das Kind geschickt.
Zamira hätte am liebsten laut losgelacht.
Als das Telefon klingelte, war sie im Nu auf dem Flur, wischte sich die Hände an der Schürze ab und nahm den Hörer.
Bei Kleefeld … Sie horchte und sagte dann: Ja, Moment bitte …
Sie ging rasch ins Zimmer.
Herr Klee! Telefon!
Alfred kam in den Salon.
Wer ist es?
Filmproduktion, glaub ich.
Bei diesem Wort verwandelte sich Alfred in Sekundenschnelle.
Sie gab ihm den Hörer und er sagte mit dunkler Stimme:
Jaaa? Hier Freddy Clay …
Er hörte einen Augenblick zu, dann sagte er:
Warten Sie einen Moment, Herr Bergmann, ich schaue mal nach, ob sich das ausgeht …
Er legte den Hörer zur Seite und blätterte laut in Klaviernoten, die auf dem Flügel lagen, dann nahm er wieder das Gespräch auf:
Das sieht ganz gut aus am Dienstag … Nein, ich nehme mir eine Taxe … Wohin? … Er schrieb die Adresse auf einen Block.
Okay, sagte er dann, um acht bin ich im Atelier … Ja, bis dann.
Er legte auf und ballte die Faust.
Ja! Freddy Clay shoots again!, rief er und rannte zur Küche.
Zamira goss gerade Olivenöl in die Pfanne, als Alfred hereinstürmte und ihr überschwänglich einen Kuss auf die Wange drückte.
Die Hanauer Landstraße nahm kein Ende. Es war über fünfzig Jahre her, dass Alfred zum letzten Mal hier gewesen war, und er war perplex.
Madonna, rief er, wie das hier aussieht, unglaublich!
Hn? Der türkische Taxifahrer verstand nichts.
Die haben ja alles zugebaut, rief Alfred.
Nee, sagte der Fahrer, war so immer.
Wie lange leben Sie in Frankfurt?, fragte Alfred.
Fünfzehn Jahr, sagte der Mann.
Ach so, dann, sagte Alfred.
Nummer?
572, es ist ein Filmstudio.
Da gibt’s kein Filmstudio, sagte der Fahrer.
Fünf Minuten später waren sie am Ziel.
Hier hatte sich der Verwaltungs- und Lagertrakt eines Versandhauses befunden, das dem Online-Geschäft zum Opfer gefallen war. Nun wurde das Gelände gelegentlich als Filmset genutzt. Auch heute herrschte ein anregendes Treiben, als Alfred mit langen Schritten über den Parkplatz zum Hauptgebäude ging.
Er fühlte sich wie in alten Zeiten. Kulissen wurden geschoben, ein Kran von Bühnenarbeitern bewegt, ein Beleuchter zog eine Stahlkarre mit zwei Scheinwerfern.
Verzeihen Sie, ich suche Haus zwei, sagte Alfred.
Der Mann zeigte stumm mit einer Kopfbewegung in eine Richtung.
Alfred sagte:
Vielen Dank. Auch Ihnen einen schönen Tag noch.
Auf einem Flur fragte Alfred einen jungen Mann nach dem Aufnahmeleiter.
Er war eben hinten in der Maske, glaube ich, oder auch nicht, bekam er zur Antwort.
Alfred ging weiter den Flur entlang, bis er fand, was er suchte.
Er klopfte und steckte gleichzeitig den Kopf zum Maskenraum herein.
Hallo, sagte er, ich bin Freddy Clay. Wo finde ich Herrn Bergmann …
Vor einem Spiegel saß eine Schauspielerin, die gerade geschminkt wurde. Die Maskenbildnerin dahinter ließ ihn gar nicht ausreden.
Was’n hier los? Trampeln Sie immer so mir nix, dir nix rein?
Verzeihung, sagte Alfred und schloss die Tür wieder.
Diese Komparsen, sagte die Maskenbildnerin, kommen sich immer weiß Gott wie wichtig vor.
Als Alfred um die Ecke kam, nahm er eine Situation wahr, die er sich gern erspart hätte: Vier Männer seines Alters saßen auf Plastikstühlen vor einem Zimmer und blickten ihn mehr oder weniger aggressiv an. Es war also doch ein Casting vorgesehen. Am Telefon hatte es sich für ihn angehört, als habe er diesen Job sicher. Der Aufnahmeleiter kam aus dem Zimmer. Er begrüßte die Männer, erkannte Alfred, gab ihm die Hand und sagte:
Tag. Bergmann. Wir fangen mit Ihnen an, Herr Clay.
Also doch, dachte Alfred, er war hier noch jemand.
Dann gingen sie los. Die anderen Männer tuschelten.
In einem Nebenraum des improvisierten Studios befand sich der Regisseur, der mit seiner Assistentin sprach und ihn keines Blickes würdigte, als sie eintraten.
Der Herr Clay ist hier, sagte der Aufnahmeleiter.
Alfred stand ein paar Sekunden stumm, bevor sich der Regisseur zu ihm bequemte und ihm kraftlos die Hand gab.
Tag. Sie sind das also, meinte der junge Mensch. Er war kleiner als Alfred, hatte einen dünnen Milchbart und einen Motivsucher um den Hals hängen, mit dem er wohl glaubte, einen alten Hasen wie Freddy Clay beeindrucken zu können.
Während der Regisseur begann, durch den Motivsucher zu schauen und um Alfred herumzukreisen, sagte er:
Sie haben nicht mehr viel gedreht in den letzten Jahren.
Stimmt, meinte Alfred, ich habe geschrieben.
Hatten Sie keine Lust mehr, vor der Kamera zu stehen?
Doch, aber die Drehbücher waren zu schlecht.
Ich habe Sie mir eigentlich noch etwas jünger vorgestellt, sagte der Regisseur.
Jünger? Alfred schaute fragend. Sie haben doch eine Maske. Ich habe mit dreißig schon Vierhundertjährige gespielt!
Tja, umgekehrt ist es schwieriger.
Er schaute zu seiner Assistentin.
Sie tippte aufs Drehbuch.
Ach ja, sagte er dann, mal unter uns, stimmt es, dass Sie nicht mehr so textsicher sein sollen?
Alfred war verärgert.
Quatsch! Wer sagt denn so was? Die lieben Kollegen, stimmt’s? Sie schneiden doch? Oder drehen Sie den Film in einem durch?
Wie meinen Sie das?
Wenn die Takes nicht Hamlet-Monologe sind, kein Problem.
Er lächelte dabei, aber sein Witz kam nicht an.
Noch einmal ging der Regisseur um ihn herum, nahm seinen Motivsucher vom Auge und sagte:
Ich weiß nicht … irgendwas an Ihnen gefällt mir nicht.
Sie werden lachen, meinte Alfred daraufhin, geht mir genauso!
Der Regisseur sagte im Weggehen:
Wir melden uns.
Das kenne ich.
Wie? Der Regisseur schaute dämlich.
Don’t call us, we call you!, sagte Alfred.
Der Regisseur hatte die Spitze nicht verstanden und sagte:
Nein, wir melden uns bei Ihnen!
Alfred verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Alles klar.
Als Zamira in Alfreds Zimmer am Abstauben war, entdeckte sie auf dem Schreibtisch einen Zettel. Sie nahm ihn hoch, sie hatte ihren Namen gelesen:
Zamira Latif, geb. 09. 10. 84, ausgeglichen, Sinn für Ästhetik, aber auch nörgelig und besorgt …
Plötzlich stand Alfred hinter ihr und hüstelte.
Zamira erschrak.
Pardon, ich habe meinen Namen gelesen …
Ja. Das ist Ihr Profil. Setzen Sie sich.
Zamira setzte sich auf die Couch.
Alfred nahm den Zettel und begann:
Dass Sie intelligent, schön und harmoniebedürftig sind, sollte Ihnen nicht entgangen sein, aber es gibt etwas, was Sie belastet und was Sie verunsichert. Es ist der Grund Ihres Misstrauens.
Ist nicht schwer zu raten. Mein Ex und so.
Nein, es hat mit Ihrer Kindheit zu tun. Ich denke mit Ihrem Vater.
Sie sah ihn überrascht an.
Sie sind ein Hellseher.
Wollen Sie es mir sagen?, fragte er.
Sie blieb stumm und überlegte, ob sie sich ihm anvertrauen sollte. Dann sagte sie leise:
Mein Vater ist nicht an einer Krankheit gestorben. Er wurde getötet …
Der Bulldozer näherte sich dem kleinen Haus. Einige Frauen rannten ihm entgegen, schrien. Sie versuchten, auf die israelischen Soldaten einzureden, die neben dem Caterpillar herliefen. Der senkte die Schaufel und kam nun dem Haus gefährlich nah. Die Soldaten zeigten keine Reaktion. Plötzlich tauchten ein paar Männer auf, darunter auch Rafid Latif, Zamiras Vater. Sie umringten die Soldaten, diskutierten mit ihnen. Rafid, der in Israel arbeitete, sprach hebräisch und es gelang ihm, zuerst mit einem Offizier und dann mit dem Baggerfahrer zu sprechen. Das Haus, so erklärte er, sei zwar ohne Genehmigung errichtet worden, aber inzwischen habe die Eigentümerin einen Antrag gestellt, über den in zwei Monaten beschieden würde. Eine Frau kam und zeigte den Soldaten ein Papier. Nach ein paar Minuten gaben sich alle die Hand und die Soldaten und der Bulldozer zogen sich zurück. Rafid wurde umringt, geküsst und umarmt, alle bedankten sich bei ihm. Zwei Stunden später wurde er erschossen und vor seiner Haustür abgelegt. Dort fand ihn seine kleine Tochter Zamira. Ihr Vater sprach hebräisch, hatte in Israel gearbeitet und sich mit den Israelis arrangiert. Für die Fanatiker der Fatah war er ein Kollaborateur, ein Verräter.
Wie sind Sie damit fertiggeworden?, fragte Alfred.
Man hat mir erzählt, das waren die Israelis und er ist ein Märtyrer. Erst später habe ich die Wahrheit erfahren.
Sie erhob sich.
Ich muss in die Küche.
Alfred wollte nicht weiter forschen und setzte sich hinter seinen Laptop. Dabei legte er achtlos einen grauen Gegenstand zur Seite.
Ist das ein Stein? Kann der weg?, fragte sie.
Nein, das ist kein Stein. Es ist der Wirbelknochen eines Menschen. Ich habe ihn aus Prag mitgebracht.
Wann war das?
In den Achtzigern. Setzen Sie sich doch wieder hin. Ich erzähle Ihnen eine spannende Geschichte.
Sie nahm wieder Platz.
Alfred stand auf.
Ich war für eine Hauptrolle engagiert. Ich sollte in einem Remake des »Golem« den berühmten Rabbi Löw spielen, der den Homunkulus aus Lehm geschaffen hatte und ihn in die Welt brachte, ähnlich dem Doktor Frankenstein und seiner Kreatur. Kennen Sie die Geschichte vom Golem?
Nein.
Im Jahr 1580 stand in Prag eines der beliebten Pogrome an, wieder einmal bezichtigte man Juden des Ritualmords. Da hörte der weise und verehrte Rabbi Yehuda Löw im Traum eine Stimme, die ihm befahl: Schaffe aus Lehm einen Golem und überwinde das feindselige Gesindel, das den Juden übelwill! Mit seinem Schwiegersohn begab sich der Rabbi des Nachts zum Strand der Moldau und sie formten eine große menschliche Gestalt aus Lehm. Mithilfe eines Gebets erwachte der Golem zum Leben. Er wurde angekleidet, bekam den Namen Joseph und arbeitete von nun an als stummer schammes, als Synagogendiener. Seine Befehle erhielt er durch Zettel, die man ihm unter die Zunge legte.
Als sich nun das Pessachfest näherte, bemerkte der Golem, dass die Christen ein totes Kind im Juden-Getto ablegen wollten, um die Juden des Mordes zu bezichtigen. Da wurde der Golem ziemlich ungehalten und erschlug etliche Bösewichte. Später aber wurde er zu selbstständig, entzog sich der Kontrolle seines Herrn, berserkte herum und musste leider vom Rabbi zerstört werden. Übrigens, noch heute ist im Hebräischen das Wort golem das Synonym für Dummkopf.
In dem Film, der damals in Prag gedreht werden sollte, kam es zu einem hoch dramatischen Showdown zwischen dem echten und einem falschen Golem, dazwischen Alfred, als Rabbi Löw, der sich schließlich opfern musste, um seine Gemeinde zu retten.
Es war für Alfred selbstverständlich, dass er ein paar Tage vor Drehbeginn durch die Gassen der Stadt zum alten Jüdischen Friedhof spazierte, um dort dem großen Rabbi Löw die Ehre zu erweisen und dessen Grab aufzusuchen. Er war beeindruckt von der Anlage des mittelalterlichen Friedhofs, wo Tausende von Grabsteinen eng aufrecht beieinanderstanden und der den Naziterror nur deshalb überstanden hatte, weil Himmler den Friedhof als letzte Hinterlassenschaft einer ausgestorbenen Kultur erhalten wollte.
Wie auf jüdischen Friedhöfen üblich, suchte Alfred nach einem Stein, um ihn auf das Grab des Rabbis zu legen. Jeder Stein auf einem Grab beweist, dass man die Toten nicht vergisst. Woher das stammte? Nun, ein Ritual, das sich wohl daher ableitete, dass die Juden vor Tausenden von Jahren als Beduinen durch die Wüste zogen und ihre Toten flach begruben. Um die Verstorbenen vor wilden Tieren zu schützen, legte man Steine auf die Gräber. Wenn die Karawane auf der nächsten Tour wieder an den Gräbern vorbeizog, wurde kontrolliert, ob sie inzwischen nicht geschändet worden waren, und gegebenenfalls wurde nachgebessert, indem man wieder Steine auf die Gräber legte.
Alfreds Suche nach einem Stein, erwies sich als schwierig, denn zahllose Besucher vor ihm hatten bereits Steine niedergelegt. So musste er ein wenig im Boden scharren und er fand schließlich ein merkwürdig leichtes Gebilde. Es war kein Stein, sondern der Wirbelknochen eines Menschen! Nicht unmöglich, dass es sogar ein Wirbel des Rabbi Löw war. Alfred steckte den Knochen ein, nahm einen Stein von einem Nachbargrab, deponierte ihn beim Rabbi und ging seiner Wege.
In den darauf folgenden Jahren hatte ich das Gefühl, dass der Wirbel des Rabbis mir Glück brachte.
Ist eine schöne Geschichte, sagte sie.
Nachdem ich von Rom nach Frankfurt gezogen war, sagte er dann, zeigte ich eines Tages meinem Bruder den Talisman. Moritz war gar nicht begeistert, im Gegenteil: Er war außer sich! Was würde geschehen, wenn meshiach, also der Messias, käme und die Toten nach Jerusalem riefe? Dann könnte der Rabbi Löw sich nicht erheben und sich auf den Weg machen.
Zamira schaute verwundert.
Ich war genauso perplex. Gut, ich wusste inzwischen, dass mein Bruder sich intensiver der Religion zugewandt hatte, dass er koscher aß und die Feiertage einhielt, aber dass er dermaßen fromm geworden war und an diese absurden Märchen glaubte …
Was passiert mit den Toten von Auschwitz, die nur noch Asche sind?
Deren Seelen sind bereits in Jerusalem, antwortete mir Moritz voller Überzeugung.
Aha, die sind Economy geflogen, aber Rabbi Löw muss laufen, als Zombie.
Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu diskutieren, sagte mein Bruder, was du getan hast, ist Frevel. Du wirst nach Prag fahren und den Wirbelknochen zurücklegen.
Okay. Wenn es dich beruhigt, dann baue ich den Rabbi wieder zusammen, sagte ich.
Und, fragte Zamira, während sie sich den Wirbelknochen ansah, werden Sie das machen?
Vielleicht.