27
Kurz bevor sie zu Hause ankamen, begann es zu schneien. Zamira hatte sich bei Alfred untergehakt, was er als angenehm empfand.
Kennen Sie die Geschichte? Also, da ist ein Konzert, sagte er, während er die Haustür aufschloss und ihr den Vortritt ließ, und plötzlich ruft einer aus dem zweiten Rang: Ist ein Arzt hier? Der Dirigent stoppt sofort das Orchester. Wieder ruft der von oben: Ist ein Arzt hier? Da steht einer im Parkett auf, schaut hoch und ruft: Ich bin Arzt! Da ruft der Mann von oben: Schönes Konzert, Kollege, nicht?
Zamira lachte und begab sich dann zu Moritz’ Zimmer, aus dem Licht auf den Flur fiel.
Herr Feld? Sind Sie noch wach?
Moritz lag mit geschlossenen Augen wie tot in den Kissen.
Großer Gott! Herr Feld!
Sie rüttelt an ihm. Er öffnete die Augen, stöhnte und griff sich ans Herz.
Von hinten rief Alfred:
Ich rufe Perlmann!
Nein, sagte Moritz mit schwacher Stimme, nur einen Tee und Baldrian, bitte.
Mach ich, rief Zamira und eilte aus dem Zimmer.
Der Fernseher lief stumm in der Ecke.
Alfred setzte sich zu seinem Bruder aufs Bett.
Lass mich Marian rufen, vielleicht ist es wieder eine Angina Pectoris?
Was heißt »vielleicht«! Es ist eine Angina Pectoris! So habe ich mich aufgeregt.
Was regst du dich auf?
Moritz wütend:
Der Prinz zeigt dem kleinen arabischen Aschenputtel die feine Welt!
Du bist ein potz, weißt du das?
Alfred war sauer, aber Moritz ließ nicht locker:
Zufällig sehe ich die Hessenschau, wann guck ich sonst Hessenschau? Und was bringen Sie? Einen Bericht von den Proben und was höre ich? Wagner! Es ist ein Wagner-Abend!
Na und?
Na und? Ausgerechnet zu diesem Rischeskopp musst du sie ausführen. Zu diesem Stück Dreck! Das ist Faschismus in Reinkultur. Wie kann dir etwas gefallen, das Hitler gefallen hat?
Alfred war fassungslos.
Weißt du, was ich glaube? Du hast keine Herzattacke, sondern einen Schlag! Ein Mensch soll sich so aufregen?
Sein Bruder ließ nicht locker.
Und dann höre ich auch noch »Tannhäuser«, dieser Zuckerpuderquatsch mit Schleimsoße! Venus! Grotte! Das sind die eingeklemmten Eier von Herrn Wagner!
Zamira kam wieder ins Zimmer.
Bitte, regen Sie sich nicht auf, Herr Feld!
Ich rege mich nicht auf, sagte Moritz und zeigte auf Alfred, er regt mich auf!
Hier. Baldriantropfen. Mahler, sagte sie, liebe ich mehr als Wagner!
Hören Sie auf mit Ihren frommen Lügen, sagte Moritz.
Er trank seine Medizin und stand auf.
Ihr habt mich hintergangen.
Herr Feld! Ich habe nicht gewusst, dass es ein Wagner-Abend ist.
Alfred wurde laut:
Du bist nicht bei Trost! Was machst du für ein Theater! Meinst du, ich weiß nicht, um was es hier eigentlich geht?
Er zeigte auf Zamira, die unsicher an der Tür stand, während sich Moritz seinen Bademantel anzog.
Um sie geht es! Du bist eifersüchtig! Du hast wieder einmal gegen mich verloren und das bringt dich um den Verstand. Ja, wir haben einen schönen Abend verbracht, Zamira und ich. Und wir werden noch viele schöne Abende miteinander verbringen!
Zamira rief von hinten:
Herr Klee, hören Sie auf!
Sie begann zu weinen und rannte dann aus dem Zimmer.
Siehst du, was du anrichtest, rief Moritz. Dir geht es ja nur um das Mädchen, du eitler Pfau! Du kannst es nicht ertragen abzublitzen. Deshalb wendest du alle Tricks an und schreckst noch nicht einmal vor Wagner zurück! Das ist Verrat!
Die Standuhr schlug elf.
Alfred wurde laut:
Du gehst mir dermaßen auf die Nerven, mit deiner Scheiß-Psychologie! Und deinen Belehrungen. Ja, gerade du kennst dich aus. Dein Leben lang hattest du diese frigide Person um dich, ein einziges Mal bist du fremdgegangen mit dieser Hawaiianerin, die man dir noch ins Bett gelegt hat, denn allein hättest du sie nicht aufgerissen und du willst mir …
Ich verbiete dir, so mit mir zu reden! Was erlaubst du dir?
Moritz verließ wütend das Schlafzimmer und begab sich in den Salon.
Sein Bruder lief ihm hinterher und ließ nicht locker.
Ich sag dir noch mehr, du bist ein spießiger Kleingeist! Und du hast keine Eier. Das wusste schon Mom!
Mom! Natürlich! Das musste ja kommen. Sie hat dich nie durchschaut, sie ist immer wieder auf deine billigen Tricks reingefallen. Sie konntest du um den Finger wickeln. Sie hat dir deine Ammenmärchen geglaubt.
Alfred sah ihn kalt an.
Sie hat mich lieber gehabt, das ist wahr! Und willst du wissen, warum? Da, wo andere ein Herz haben, hast du ein Fachbuch! Und dann hast du noch diese raffgierige Frau geheiratet, die über Leichen ging. Aber sie hatte Geld. Du hast deine Seele verkauft. Mom hat sich oft bei mir ausge- weint.
Moritz sah seinen Bruder fast mitleidig an.
Ich habe mich niemals auf deine Kosten profiliert. Aber bei dir ist das schon ein Charakterzug. Du kannst nur glänzen, indem du andere runtermachst. Weil du selbst nichts zu bieten hast.
Sie hören Professor Moritz Kleefeld, den weltberühmten Psychologen! Ich werde dir was sagen: Du warst ja noch nicht mal in der Lage, dir selbst zu helfen. Erst hat dich Mom unterdrückt, dann hat dich deine Frau unterdrückt, dann die Stöcklein …
Moritz unterbrach:
… und jetzt werde ich von dir unterdrückt. Das willst du doch sagen!
Exakt!, rief Alfred. Du bist nämlich genau der Mensch, den man unterdrücken muss! Du bist das geborene Opfer. Du bist einer, der sich nicht wehrt. Das reizt einfach dazu, dich zu quälen. Das ist so, wie mit den Nazis und den Juden!
Dein Zynismus ist grenzenlos, pfui Teufel, bist du billig! Was bildest du dir denn ein? Lebst hier auf meine Kosten, spielst den großen Herrn und was hast du zustande gebracht in deinem Leben? Ein kleiner, mieser Schauspieler warst du, eine Knallcharge in ein paar Drecksfilmen. Ein aufgeblasener nebbich, sonst nichts! Heute protzt du mit deiner angeblichen Karriere und deinem Internet-Wissen.
Alfred sah ihn überheblich an.
Du kannst mich nicht verletzen.
Sitzt den ganzen Tag vor seinem Computer, Herr Wichtig! Der große Autor schreibt seine Memoiren! Billiger Quatsch, der keinen interessiert. Wer soll das lesen, hn? Die Erinnerungen eines unterbelichteten Schauspielers. Mein Leben als Null!
Ja, deine Bücher gehen ja toll!, giftete Alfred. Vierundachtzig Stück verkauft im letzten Jahr, wow! Gratuliere! Seit Jahren recycelst du dich selbst, eine einzige Wichserei. Du merkst ja noch nicht einmal, wie lächerlich du dich machst mit deinen verstaubten Thesen. Psychologie der Masse! Wen interessiert das heute noch? Nach dem Holocaust weiß jeder Idiot, wie das funktioniert, da brauch ich nicht die abgestandenen Weisheiten von einem Moritz Kleefeld, dem Mann, der vor fünfzig Jahren schon unmodern war. Der sich eine Lücke geschaffen hat, die er selbst ausfüllt, immer und immer wieder. Seit Jahren derselbe Mist. Damit kannst du vielleicht ein paar ahnungslose Frankfurter Witwen beeindrucken, die dich dann für den Kulturpreis empfehlen. Du bist eine Witzfigur, nur sagt es dir keiner.
Moritz war tief gekränkt. Er versuchte, ruhig zu wirken, als er sagte:
Geh bitte. Ich will dich nicht mehr hier haben, in meinem Haus.
Du kannst mir nicht drohen, ich werde dein verschissenes Haus so schnell wie möglich verlassen, rief Alfred, lieber verrecke ich in der Gosse, als noch einen Tag länger hier zu sein.
Moritz schrie plötzlich los:
Ja, geh doch! Geh in die Gosse, wo du hingehörst, du Bastard!
Für Alfred war dieses letzte Wort ein solcher Schock, dass er meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Schwarze zu fallen. Er sah seinen Bruder einen kurzen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an, dann stürzte er aus dem Zimmer.
Während er zur Haustür rannte, hörte er Moritz rufen:
Freddy, bleib hier, es tut mir leid! Es war nicht so gemeint!
Als Moritz aufgeregt zur offenen Tür kam, sah er nur noch die Schneeflocken, die in dieser kalten Nacht vom Himmel fielen.
Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, dann lief er rasch an die Treppe und rief dabei: Zamira!
Sie kam heruntergelaufen.
Was ist passiert?
Mein Bruder, brachte Moritz mit schwerer Stimme hervor, wir haben uns furchtbar gestritten und dann ist er aus dem Haus gelaufen. So wie er war, ohne Mantel. Bei diesem Wetter. Wir müssen ihn finden.
Alfred war gelaufen und gelaufen, bevor ihm bewusst wurde, dass er immer noch seine leichten, geflochtenen Halbschuhe anhatte. Ein paar Mal wäre er beinah gestürzt, der frische Schnee war rutschig. Jetzt begann er auch zu frieren, seine Socken wurden nass und die Kälte zog langsam die klamme Hose hinauf. Der eisige Wind pfiff durch sein leichtes Sakko und das Hemd. Das T-Shirt darunter war nur ein schwacher Schutz.
Du Bastard, so klang es ihm noch im Ohr, das war unverzeihlich. Dass Moritz je so etwas sagen würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Aber es bewies, wie er im Grunde seines Herzens dachte. Wir sind doch Brüder, hatte er getönt, egal wer unsere Väter sind! Diese Verlogenheit. Natürlich hielt sich Moritz für etwas Besseres. Er war das reinrassige Produkt aus der edlen Linie der Kleefelds und Alfred nur das unselige Kind eines armen Wäschevertreters. Das Erzeugnis einer durchzechten Nacht in einer billigen Absteige in Paris. Hätte es ein Bidet gegeben, wäre er nicht auf der Welt!
Mit einem Mal befand sich Alfred am Eingang des Grüneburgparks. Wie seltsam still und friedlich die Welt wurde, sobald Schnee fiel. Alfred ging noch ein paar Schritte, dann fand er einen einsamen Plastikstuhl, der umgekippt am Rand der Wiese lag, ein letztes Rudiment des vergangenen Sommers. Er hob ihn an, klopfte ihn ab und setzte sich. Er starrte auf die Wiese, in die Bäume, deren Äste langsam weiß wurden.
Warum hast du mir das nie gesagt?, schrie er seine Mutter am Telefon an. Er stand in einer der zahllosen Telefonzellen am Hauptbahnhof, die eine lange Reihe bildeten und ständig besetzt waren. Unruhig hatte er mit viel Kleingeld in der Hand gewartet, bis eine frei geworden war. Dann hatte er die Nummer in Cap Ferrat gewählt, wo sie sich nach ihrer Operation aufhielt. Ihre Freunde hatten darauf bestanden, dass sie sich erst bei ihnen erholen sollte, bevor sie in ihre Wohnung nach Nizza zurückkehrte.
Freddy, Liebling, sagte sie, ich kann jetzt nicht so reden, das verstehst du doch, aber wir sollten uns bald sehen, damit ich dir alles erklären kann.
Nein, sagte er kalt, ich will jetzt wissen, warum du mich mein ganzes Leben belogen hast!
Ich wollte dich nicht belügen, aber der Zeitpunkt, dir die Wahrheit zu sagen, ist immer weiter fortgerückt. Zuerst, als ich schwanger war, hatte ich wirklich keine Ahnung, ob David oder dein Vater, sorry, Louis Kleefeld …
Das ist ja toll, sagte Alfred.
… aber dann kamst du auf die Welt und trotz der schweren Zeit war Louis glücklich, du hast uns Hoffnung gegeben, Moritz war auch so stolz auf seinen kleinen Bruder …
Er spürte, dass sie weinte, als sie weitersprach.
Dann brach der Krieg aus. Louis kam ins KZ. Hätte ich sagen sollen: Ach, übrigens, bevor du gehst, ich bin nicht ganz sicher, ob Alfred dein Sohn ist?
Alfred schwieg.
Bist du noch da?, fragte sie.
Ja, sagte er.
Erst als wir in Amerika waren, wurdest du David immer ähnlicher. Körperlich, der Tonfall, der Humor. Ich hatte kaum mehr Zweifel. Aber David war in Europa verschollen. Es gab keinen Grund, diesen Verdacht zu äußern, verstehst du?
Weiter.
Als ich dann David nach dem Krieg wiederfand, wollte ich die Harmonie, die es zwischen dir und Moritz gab, nicht unnötig belasten und auch mein Verhältnis zu David …
Das verstehe ich nicht. Wieso konntest du uns nicht die Wahrheit sagen? Oder wenigstens Onkel David.
Genau deshalb. Weil er jetzt euer beider Onkel war. Ich war davon überzeugt, dass ich euer gutes Verhältnis zerstören würde. Der Vater von Moritz war tot, du solltest plötzlich einen haben! Wie konnte das gut gehen? Es gab den toten Louis Kleefeld und ihr wart seine Söhne. Aus. Schluss. Das gefiel mir.
Es gefiel ihr!, dachte er. Na wunderbar!
Aber wie konntest du damit klarkommen, David und mich miteinander zu erleben? Du hast uns um jeden Tag unseres Lebens betrogen, hast uns die Chance genommen, Vater und Sohn zu sein.
Du hast recht, und es tut mir so leid. Das musst du mir glauben. Aber, bitte, lass uns persönlich darüber sprechen, nicht am Telefon. Gib mir die Chance. Ich will dich sehen. Freddy?
Aber ich will dich nicht sehen. Er hängte den Hörer ein.
Genau einen Monat später, im Februar 1972, befand sich Alfred auf dem Gelände der Universität von Berkeley und suchte das Büro von Professor Kleefeld.
Moritz’ Sekretärin Miss Harris bot ihm einen Kaffee an und bat ihn, einen Moment zu warten, der Professor würde gleich eintreffen.
Und so war es auch. Moritz, lange Haare, Schnauzbart, sechsunddreißig Jahre alt, ein wenig Mark Spitz, betrat sein überladenes Zimmer und nahm den kleinen Bruder, der größer war als er, in die Arme. Miss Harris schloss diskret hinter den beiden die Tür.
Freddy, erzähl, wie geht es dir?, fragte er, während er sich an seinen Schreibtisch setzte und Alfred sich einen Stuhl heranzog.
Danke, könnte mir besser gehen.
Einer meiner Studenten ist ein gewisser Ron Zanuck. Sein Onkel ist ein big shot in Hollywood. Ich kann mal mit ihm reden, wer weiß?
Mach dir keine Sorgen, was den Job betrifft, bin ich zufrieden. Ich bin wegen Mom hier.
Ja, sie ist kryptisch am Telefon, sagte Moritz, hat mich gefragt, ob und wann wir miteinander gesprochen hätten und so. Was ist los?
Als ich vor einem Monat den Nachlass von Onkel David verpackt habe, bin ich zufällig auf einen Brief gestoßen.
Was für einen Brief?
Ein Brief von Mom an David.
Und?
In diesem Brief gestand sie ihm, dass …
Was? Sag schon! Moritz wurde ungeduldig.
… dass Onkel David mein Vater ist!
Moritz starrte seinen Bruder an.
Nein! Sag, dass das nicht wahr ist, rief er.
Es ist aber so, wir sind nur noch Halbbrüder, sorry.
Ist sie sicher?
Anfangs war sie wohl unsicher, es ist in Paris passiert, 1937. Aber dann in New York, als ich größer wurde, war sie davon überzeugt, dass er mein Vater ist.
Bitch!, rief Moritz und sprang auf.
So weit wollte Alfred nun nicht gehen.
Immerhin hat sie ihn geliebt. Und wenn es nicht passiert wäre, dann gäbe es mich nicht.
Es klang wie eine Entschuldigung.
Moritz lief in seinem Büro hin und her.
Warum rückt sie so spät damit raus?
Sie sagt, sie wollte unser Verhältnis nicht gefährden.
Quatsch, das hätte doch nichts verändert, oder?
Nein, bestätigte Alfred.
Das ist verantwortungslos. Sie hat keine Ahnung, was das für dich bedeutet. Für mich auch, aber für dich ist das hochdramatisch. Freddy, du hast über dreißig Jahre ein falsches Leben gelebt. Du hast ein Recht, die Wahrheit zu kennen, zu wissen, wo du herkommst, wo deine Wurzeln sind.
Stimmt, meinte Alfred.
Und wir sitzen jahrelang mit Onkel David am Tisch und spielen Schach und sind ahnungslos. Und er auch. Fuck!
Er schlug mit der Faust gegen die Wand.
Sie hat uns betrogen, das ist unverzeihlich!
Er ging zurück zum Schreibtisch und machte sich eine Notiz.
Ich werde ihr schreiben.
Was wirst du ihr schreiben?
Sie will im Sommer herkommen. Wir haben vor, zusammen runter nach Santa Barbara zu fahren. Aber ich will sie nicht sehen!
Langsam fuhr Zamira mit dem Mercedes die verschneiten Straßen des Westends ab, die Wischer auf volle Kraft, die Nase an der Windschutzscheibe, die Scheinwerfer aufgeblendet. In jeder Kurve geriet der schwere Wagen aus der Spur, die Hinterreifen drehten immer wieder durch.
Herr Klee, sagte sie laut zu sich, wo sind Sie?
Kettenhofweg, Savignystraße, Westendstraße. An der Beethovenstraße hatte sie kurz gehalten und einen einsamen Radfahrer gefragt, ob der nicht einen älteren Herrn gesehen habe, der durch die Straßen irrte. Der Mann konnte nicht weiterhelfen. Zamira überquerte die Bockenheimer Landstraße, und als sie langsam am Nebeneingang des Palmengartens vorbeifuhr, gab sie plötzlich Gas.
Sie erreichte den dunklen Park, lief zur Wiese, sah ihn dort im Stuhl sitzen. Wie eine Skulptur. Er war völlig eingeschneit. Sein Kinn war auf die Brust gesunken.
Herr Klee, rief sie und schüttelte ihn, sodass der Schnee von seinen Haaren fiel, sind Sie verrückt?
Sie wollte ihm auf die Beine helfen, aber er fiel in den Schnee. Wieder und immer wieder versuchte sie, ihn hochzuziehen. Schließlich schaffte sie es, er wankte, war wie betrunken, legte seinen Arm um ihre Schulter.
Wieso machen Sie den Quatsch? Das ist Wahnsinn!
Alfred blieb stumm, stapfte mechanisch und ohne jede Reaktion neben ihr her.
Alfred lag warm eingepackt, gut versorgt mit Tee und Aspirin in seinem Bett. Moritz hatte sich große Sorgen gemacht und Zamira gebeten, Doktor Perlmann zu rufen, aber Alfred hatte protestiert, er wolle keinen Arzt sehen.
Als Zamira das Zimmer verlassen hatte, zog sich Moritz einen Stuhl an Alfreds Bett und setzte sich. Vorsichtig berührte er die Hand seines Bruders, die immer noch kalt war. Er nahm sie in seine Hände.
Freddy, es tut mir so leid, ich wollte das nicht, es hat sich so hochgeschaukelt, aber du sollst wissen, dass ich dich liebe, du bist doch mein kleiner Bruder.
Alfred hatte die Augen geschlossen und schwieg.
Ich weiß, es ist unverzeihlich, wie ich dich beleidigt habe. Verzeih mir, bitte. Lass uns weiter zusammenbleiben. Es ist schön mit dir. Ich schwör’s. Okay, ab und zu fetzen wir uns, das kommt vor, aber wir sind doch Brüder. Echte Brüder. Seit du hier bist, ist mein Leben viel reicher geworden. Ich freue mich jeden Morgen, dich zu sehen. Ich liebe deinen sarkastischen Humor, auch deinen Blick auf das Leben und auf die Welt.
Alfred lag weiter reglos. Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, strich ihm Moritz übers Haar.
Ich habe mich nicht gut benommen. Ich habe dich beleidigt, das tut mir so leid. Verzeihst du mir?
Erwartungsvoll sah er seinen Bruder an.
Ja, hörte er Alfred leise sagen, der kaum die Lippen bewegt hatte.
Moritz legte seinen Kopf auf Alfreds Brust und sagte:
Du hast recht. Ich bin ein Feigling und ein Opportunist!
Ich verbiete dir, so von meinem Bruder zu sprechen, flüsterte Alfred.
Moritz spürte Alfreds Hand auf seinem Haar. Er begann zu weinen. Nach ein paar Minuten setzte er sich wieder aufrecht hin, schnäuzte sich in sein weißes Taschentuch, wischte die Tränen ab.
Ehrlich gesagt, ich war immer verdammt neidisch auf dich. Du warst groß, sportlich und extrovertiert. Du hattest immer Erfolg bei den Mädchen. Kaum waren wir im Schwimmbad, schon hattest du deine Groupies um dich geschart. In der Synagoge schauten die jungen Frauen nicht zur Thora, sie sahen dich an. Wie gern wäre ich in deiner Theatertruppe in der Gemeinde dabei gewesen, nicht wegen Sartre, sondern wegen der Mädchen. Wegen Milly oder Juliette. Und im zionistischen Jugendlager warst du auch der Crack. Meine einzige Waffe war mein Intellekt oder was ich dafür hielt oder was ich nach außen hin vorgab zu besitzen. Und bis heute ist es nicht anders. Du bist der Frauenschwarm, der Paradiesvogel.
Er stand auf.
Du hast recht. Ich habe mich unterdrücken lassen, aber ich habe mich auch selbst unterdrückt. Mein ganzes Leben habe ich meine wahren Bedürfnisse unterdrückt. Konventionen, Spielregeln und Etikette waren mir wichtiger als mein persönliches Wohlempfinden. Ich habe nie auf den Tisch gehauen! Klar, ich habe es genossen, verehrt, bewundert und gelobt zu werden. Aber das ist normal, geht doch jedem so. Geht dir auch so, oder? Du hättest gern den Oscar. Denn du findest, du hättest ihn verdient. Wir können gar nicht existieren, ohne das Bild, das wir uns von uns selbst machen. So objektiv ist niemand. Es wäre auch gefährlich. Stell dir vor, ein schmock würde sagen, wow, bin ich ein schmock!
Moritz glaubte, ein leichtes Lächeln auf Alfreds Gesicht zu erkennen, und setzte sich wieder zu ihm ans Bett.
Ach, Freddy, mein Freddy, sag mir, warum zwei gescheite Menschen wie wir plötzlich zu Neandertalern werden, sich anspucken, an den Haaren ziehen und sich am Ende die Keulen auf die Köpfe hauen. Was sorgt dafür, dass da plötzlich ein Schalter umgelegt wird, verdeckt von jahrtausendealtem Staub und Spinnweben? Wir können zwar in die Gehirne schauen, uns die Regionen, die Nervenzellen, die Synapsen, die Eiweiße und Aminosäuren ansehen, aber warum wir so oder so reagieren, das bleibt uns verborgen.
Alfred war eingeschlafen. Moritz erhob sich langsam. Alles würde wieder gut werden.