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Es war ein nebliger, grauer Wintertag, die ideale Voraussetzung für eine Beerdigung. Nur wenige Menschen standen an dem offenen Grab, das neben dem von David Bermann ausgehoben worden war. Der Rabbiner hatte ein paar unpersönliche Worte gesagt und Moritz anschließend Kaddisch. Danach hatte der Rabbiner einen weiteren Riss in Alfreds Kaschmirschal gemacht, den Zamira zu Moritz’ Überraschung heute Morgen herausgenommen hatte.
Danach kamen die Trauergäste zu Moritz und kondolierten ihm. Fast alle warfen einen irritierten, zögerlichen Blick zu Zamira, die neben ihm stand. Manche gaben ihr die Hand.
Eine halbe Stunde zuvor, in der Trauerhalle, hatten sich die meisten von ihnen diskret in eine der leeren Reihen gesetzt und über den Raum verteilt, lediglich Moritz und Zamira saßen in der ersten Reihe nebeneinander.
Irgendwann hatte sich Moritz erhoben, nachdem der Rabbiner ihn aufgefordert hatte, ein paar Worte zu sagen. Moritz schritt zum Pult und Zamira bemerkte sofort an seiner Haltung, dass hier nicht der Professor stand, sondern Herr Feld. Moritz begann leise:
Es liegt in der Natur des Alterns, dass man immer öfter und in kürzeren Abständen mit dem Tod anderer Menschen konfrontiert wird. Ich habe den Tod der Mutter, den meiner Frau, den Tod vieler Freunde erleben müssen. Aber nun ist mein Bruder gestorben und es zerreißt mir das Herz. Ich habe mich gefragt, warum es ausgerechnet sein Tod ist, der mich so ratlos und einsam zurücklässt. Wir haben die meiste Zeit unseres Lebens nicht miteinander verbracht, wir lebten in verschiedenen Ländern, hatten verschiedene Berufe. Und doch ist es so, als sei ein Teil meiner selbst gegangen. Alfred und ich waren ein gutes Gespann.
Wir haben dank unserer Mutter eine sorglose und freizügige Kindheit und Jugendzeit verbracht. Unser Verhältnis war, trotz aller typischen Konflikte, wirklich brüderlich. Und nach der langen Trennung haben wir uns schließlich als alte Männer wiedergefunden und uns entschlossen, gemeinsam zu leben. Das ist nicht leicht, wie sich jeder denken kann, denn man entwickelt im Laufe des Lebens Gewohnheiten, die anderen auf die Nerven fallen. Das war bei uns nicht anders, aber wir haben sie benannt. Wir haben dem anderen gesagt, was uns nicht passt. Es hat zwar nichts geändert, aber man wusste Bescheid.
Die Trauergäste lachten, während Moritz weitersprach:
Als mein Bruder Anfang des Jahres zu mir nach Frankfurt kam, war es so, Sie müssen mir das glauben, als sei keine Zeit vergangen. Wir waren wieder die beiden Jungs aus der Bockenheimer Landstraße und trotz aller Querelen habe ich die Zeit mit Alfred genossen. Er war ein humorvoller und kluger Mann, der einen klaren Blick für Menschen hatte. Das ist ihm sicher in seinem Beruf als Schauspieler zugutegekommen. Wenn wir ihn heute zu Grabe tragen, dann möchte ich gern, dass Sie ihn in Erinnerung behalten als einen besonderen Mann, der auf sympathische Weise stets in einer Ecke seiner Seele ein liebenswertes Kind geblieben ist, und genau das ist es, was mir nun, auch in mir selbst, verlorengegangen ist.
In den nächsten sieben Tagen hielt Moritz strikt die religiöse Trauerzeremonie ein, indem er tagsüber in Strümpfen auf einer Matratze saß, die im Salon auf dem Boden lag. Die Spiegel hatte er verhüllt und er rasierte sich nicht. Zweimal am Tag sagte er das Kaddischgebet und stets brannte ein Licht. Obwohl keine zehn erwachsenen Männer anwesend waren, das minjan, wie es üblicherweise bei Juden der Fall sein muss, wenn man gemeinsam betete. In der Trauerwoche erschienen zu Moritz’ Freude doch einige Besucher und kondolierten. Neben Norma und Halina, die angenehm zurückhaltend waren, erschienen ein paar von Alfreds alten Freunden aus Kindertagen. Aus Zürich kam Juliette für einen Tag und Milly unterbrach ihre Reise von Washington nach Moskau und machte in Frankfurt Station. Trotz der Trauer wurde auch gelacht, besonders wenn man die Jugendzeit Revue passieren ließ. Irgendwann erschien ein junger Regisseur namens Ulf, der in einer Zeitung einen Nachruf gelesen hatte, und brachte die DVD mit Alfreds letztem Film vorbei. Dass Freddy Clay so plötzlich gestorben war, tat dem jungen Mann »ein Stück weit weh«, wie er sich sperrig ausdrückte. Moritz versprach dem Filmemacher, sich das Werk bei nächster Gelegenheit anzusehen.
Zamira betreute die Gäste mit Kuchen und Kaffee und am letzten Abend spielte sie gemeinsam mit Moritz das Adagio in g-Moll von Albinoni, das ursprünglich für Cello und Orgel geschrieben war.
Wie kitschig, hätte Alfred gesagt, aber sich doch gefreut.
Moritz weinte fast jede Nacht und machte sich weiterhin bitterste Vorwürfe, was er aber Zamira gegenüber verbarg, denn das hatte sie ihm verboten. Er hatte sich Alfreds Laptop in sein Arbeitszimmer genommen und mit Zamiras Hilfe fand er auch rasch das Passwort: Lupa! Er arbeitete sich durch die Adressen und informierte einige von Alfreds Bekannten über seinen Tod.
Er konnte seine Neugier nicht zügeln und las die ersten Seiten von Alfreds Memoiren. Bereits eine Passage aus dem Vorwort beeindruckte ihn:
Ich bin und bleibe ein Jude. Ich habe eine Judennase. Ich spreche mit jüdischem Tonfall, den ich geschickt unterdrücke. Mir fehlt es an Kultur, aber ich verdecke das durch zu viel Kultur. Ich bin rückwärtsgewandt, aber mache auf modern und progressiv. Ich bin gläubig, tarne mich aber als Atheist. Ich bin Kapitalist, aber mache auf Sozialist. Ich entspreche dem Bild, das die Welt von Juden hat.
Er telefonierte mit Harold, den er weiterhin Howard nannte, und bot ihm an, sich auszusuchen, was er an Andenken von seinem Vater haben wollte. Aber der Engländer hatte nicht die Absicht, noch einmal nach Frankfurt zu kommen, und interessierte sich nur für das Geld. So überwies ihm Moritz ohne jede Diskussion Alfreds Ersparnisse von 126411,– Euro und überschrieb ihm ein kaum erwähnenswertes Aktiendepot bei der Banco di Roma. Alfreds Zimmer beließ er weitgehend unangetastet und Zamira putzte es regelmäßig und hielt es wie gehabt sauber und ordentlich.
Es hatte etwas gedauert, bis Moritz dazu bereit war, sich Alfreds letzten Film anzuschauen. Gemeinsam mit Zamira saß er im Salon und als der Film begann und Freddy Clay hinter dem Vorhang auftauchte, musste Moritz weinen. Zamira kam zu ihm, setzte sich auf die Lehne seines Sessels und nahm ihn in den Arm.
Ist das nicht wunderbar, dass er weiterlebt?, sagte sie.
Moritz nickte.
Ja, sagte er leise, er ist unsterblich.
Jetzt musste Zamira weinen und Moritz reichte ihr sein großes weißes Taschentuch.
Danke, Herr … Kleefeld, sagte sie.