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Moritz und Alfred saßen vor dem Fernsehgerät und sahen sich die »Tagesthemen« an. Gerade lief ein Bericht über einen der zahlreicher werdenden Raketenangriffe aus Gaza, als Zamira in den Salon kam, um sich für heute zu verabschieden.

Hier, sagte Alfred, finden Sie das richtig?

Moritz wollte ihn bremsen.

Freddy!

Nein, sagte Zamira, aber haben die Menschen keine andere Chance, als sich zu wehren. Gaza ist wie ein Gefängnis. Die Menschen können nicht raus, haben die nix zu essen.

Und deshalb muss man Raketen abfeuern und Menschen töten?

Wissen Sie, warum die nichts zu essen haben, fragte Moritz, weil die Hamas das Geld für Waffen ausgibt.

Zamira wurde laut.

Nervt mich das so! Nie ist Israel Schuld! Haben Sie immer Entschuldigung. Bauen die Siedlungen, bauen die Mauer, geben die unser Geld nicht raus, lassen die keine Transporte zu, erpressen die uns seit über vierzig Jahren. Töten unsere Kinder. Aber für Sie ist Israel immer gut! Kotzt mich das an!

Damit verließ sie das Zimmer.

Zamira!, rief Moritz.

 

Am Morgen kam Moritz in die Küche, wo Zamira das Frühstück zubereitete.

Guten Morgen, sagte er.

Guten Morgen, erwiderte sie nicht unfreundlich.

Es tut mir leid wegen gestern Abend.

Mir auch, sagte sie, möchten Sie ein Ei?

Gern.

Herr Feld, ich bin davon überzeugt, wenn es den Konflikt mit Israel nicht gäbe, dann wären die Araber nicht so radikal.

Moritz lächelte und meinte:

Natürlich nicht! Dann würden sie ihre Frauen nicht mehr unterdrücken, keine öffentlichen Hinrichtungen mehr machen, keine Ehrenmorde würde es mehr geben und Dieben würden die Hände nicht mehr abgeschlagen.

Hat das nix zu tun mit Juden, sagte sie, das ist Religion, aber der Konflikt im Nahen Osten, daran sind die Israelis schuld.

Bevor Moritz antworten konnte, kam Alfred in die Küche und mischte sich ein:

Ja, geben Sie uns nur die Schuld. Wir kennen uns darin aus. Denn wir sind schon zuständig für Kapitalismus und Kommunismus, für Freiheit und Diktatur, für die Globalisierung und den Separatismus, für die Atombombe und den Pazifismus.

Moritz schaut ihn an.

Freddy, werde nicht unsachlich.

Hasst man uns deshalb oder nicht?, wollte sein Bruder wissen.

Warum es gibt überhaupt Antisemitismus?, fragte Zamira.

Moritz sagte:

Antisemitismus ist eine Geisteskrankheit.

Antisemitismus bedeutet, die Juden noch weniger zu mögen als allgemein üblich, sagte Alfred.

Aber woran liegt es, dass alle sie hassen?

Moritz stand ihr gegenüber.

Hassen Sie uns, Zamira?, fragte er.

Nein.

Sehen Sie, Menschen hassen nur Menschen, von deren Leben, Kultur, Sprache, Religion sie keine Ahnung haben. Das schafft Ressentiments. Menschen, die man kennt, die man akzeptiert, die hasst man nicht.

Alfred ging dazwischen:

Das hört sich gut an, aber was war mit den Deutschen im Dritten Reich? Haben da nicht plötzlich Nachbarn Nachbarn gehasst und denunziert, die sie jahrelang kannten und mit denen sie oft sogar befreundet waren?

Moritz widersprach:

Das war kein Hass. Das waren Neid, Häme, Gleichgültigkeit.

Das wird die Toten von Auschwitz sehr beruhigen, sagte Alfred.

Wenn alle Deutschen ihren jüdischen Freunden geholfen hätten …, sagte Zamira.

Moritz schüttelte den Kopf.

So funktioniert leider die Welt nicht.

Und Alfred sagte:

Bei Ihnen bringen sich ja die eigenen Leute gegenseitig um.

Warum? Sagen es mir. Sie kennen sich aus doch.

Zuerst einmal grenzt sich eine Gruppe nach außen ab, sagte Moritz. Sie beschwört Harmonie und Solidarität. Die Gruppe und ihre Entstehung werden idealisiert. Dann beginnen Konflikte über Programme, Rollen, Richtlinien. Die Ziele und deren Erreichung werden infrage gestellt. Misstrauen macht sich breit, schließlich bilden sich Subgruppen und das führt zu Machtkämpfen. Je ähnlicher sich die Gruppen sind, desto gewalttätiger sind sie gegeneinander. Man verlangt nach sozialer, positiver Identität und wenn man diese gestört glaubt, sucht man den Feind zuerst in der Gruppe.

Warum sind Menschen so, Herr Feld?, fragte Zamira.

Moritz dachte nach und Alfred sagte leise:

Herr Feld weiß es nicht.

Damit verließ er die Küche.

Alfred hat recht. Obwohl ich mich mein ganzes Leben als Sozialwissenschaftler mit den Phänomenen der Masse befasst habe, muss ich gestehen, dass ich nur an der Oberfläche gekratzt habe. Vieles bleibt nur schwer erklärlich, vieles verborgen. Denn oft greifen die soziotypischen Verhaltensweisen nicht. Das Irrationale ist eben, wie der Name sagt, irrational.

Wann haben Sie begonnen, sich für Psychologie zu interessieren?

Er setzte sich an den Küchentisch.

Schon recht früh. Während mein Bruder Ende der Fünfziger das Leben eines Bohemiens führte, mit Partys, Mädchen und dem erklärten Ziel, ein Filmstar zu werden, arbeitete ich bereits an meiner Promotion. Ich war glücklich, in Frankfurt zu sein, wo Koryphäen lehrten. Und ich hegte den Wunsch, zu ihnen zu gehören …

 

Moritz hatte im Gegensatz zu seinem Bruder wenig Interesse an ausschweifenden Freizeitvergnügungen. Er engagierte sich intensiv im Zionistischen Studentenbund und fuhr in den Semesterferien regelmäßig nach Israel, wo er in verschiedenen Kibbuzim arbeitete. Damals hätte er es sich gut vorstellen können, für immer nach Israel zu gehen. Der Arbeiterzionismus übte zu dieser Zeit eine große Anziehungskraft auf ihn und seine Altersgenossen aus. Es war die Einsicht, dass die jungen Juden in der Diaspora ein dekadentes, assimiliertes, ja nutzloses Leben führten, während es in Israel täglich ums Überleben ging, das Kollektiv gleichzeitig die sozialistische Utopie zu verwirklichen suchte, in der es keine Ausbeutung gab. Alles würde allen gehören, das Land, die Bücher, selbst die Kinder.

Auch die Liebe war eine freie, ungezwungene, wobei sich Moritz hier eher gegen das Kollektiv stellte. Er wurde schlicht eifersüchtig, wenn ein Mädchen, dass er nach der ersten Nacht sofort geheiratet hätte, am nächsten Tag mit einem anderen zusammen war.

Als man ihm im Jahr 1962 in Frankfurt eine Dozentur anbot, musste er sich entscheiden. In Israel lockten das Abenteuer, die Wildnis, der Orient und die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen etwas Neues zu gestalten.

In Deutschland wartete die akademische Karriere mit all ihren Annehmlichkeiten auf den jungen Doktor. Habilitation, Autorenschaft, Kongresse, Preise. Ein angenehmes Leben im wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Während die Jugendlichen die Musik der Beatles hörten, sich die Haare wachsen ließen und Hasch rauchten, wurde Moritz Professor.

Der Sechs-Tage-Krieg brachte nicht nur für Israel eine Zeitenwende. Juden in aller Welt waren auf Israels Seite, viele reisten in das Land, um zu helfen. Moritz hatte ein zwiespältiges Gefühl, wenn er die deutsche Presse las. Erst ein Krieg, der mit Löwenmut gewonnen wurde, nachdem man bereits in den Abgrund gesehen hatte, ließ Juden plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Es war traurig, dass sie im Bewusstsein der Menschen in der Bundesrepublik nur durch diesen gewonnenen Krieg Anerkennung bekamen. Als Ostjerusalem eingenommen war, ahnte Moritz bei aller Freude, dass dies eine schwere Hypothek werden würde.

Als ihm der fanatische linke Antisemitismus, getarnt als Antizionismus, entgegenschlug, wurde ihm klar, dass diese jungen Deutschen die Kinder der alten Deutschen waren. Enttäuscht packte er seine Koffer und ging für ein paar Jahre nach Berkeley.

Selbst als er altersmilde geworden war und sich mit den deutschen Studenten arrangiert hatte, behielt er bis zuletzt seine jährliche Gastdozentur in Kalifornien.

So, meinte Moritz, jetzt wissen Sie alles!

Zamira lächelte.

Nein, sagte sie, weiß ich nicht, wie haben Sie Ihre Frau kennengelernt?

Das interessiert Sie?

Das interessiert Frauen immer!

Tja, es war im Jahr 1972, anlässlich eines Kongresses zum Thema »Aktuelle Sozialpsychologie der westlichen Gesellschaften«, bei dem ich als Redner angekündigt war, sagte Moritz, da lernte ich die junge, wissbegierige Redakteurin Fanny Trindel aus Antwerpen kennen. Sie schrieb Artikel für eine jüdische Zeitung und hatte sich mit mir in einer Hotellobby in Paris zum Interview verabredet. Sie wirkte unsicher, war eine Frau von siebenundzwanzig, die noch recht wenig Lebenserfahrung hatte. Sie stammte aus einem religiösen, wohlhabenden Elternhaus und war sorgfältig erzogen worden. Die Familie war seit Generationen im Diamantenhandel tätig. Ihr Vater Aron besaß eine gut gehende Schleiferei in der Pelikaanstraat, dem Diamantenzentrum. Ihr Onkel Hyman, der Prinzipal der Sippe, gehörte zum ehrwürdigen Direktorium der Diamantenbörse. Ihre Mutter Dorit war ein patente Frau, eine ausgezeichnete Köchin und Kuchenbäckerin.

 

Als Fanny das erste Mal mit ihrem neuen Freund, dem jungen Professor Kleefeld, nach Antwerpen reiste, war allen bis auf Moritz klar, dass er das hübsche Haus in der Mozartstraat nicht unverlobt verlassen würde. Er ließ sich mehr oder weniger passiv in diese Ehe schubsen. Bereits am ersten Abend wurde er vom alten Trindel in die Bibliothek gebeten und darüber ausgefragt, ob er denn finanziell in der Lage sei, eine Frau und hoffentlich bald viele Kinder zu ernähren. Bis dato hatte er weder an Heiraten gedacht, noch um Fannys Hand angehalten.

Trotzdem gab er bereitwillig Auskunft. So kam es, dass Moritz verlobt wurde, kaum dass er es merkte. Fanny war nicht die Frau seiner Träume, aber sie war eine treue Seele und eine gute Partie. Als Moritz eine Woche später zurück in die USA flog, fiel ihm ein Satz von Vance Packard ein, den er vor Jahren gelesen hatte: Warum man sich nach einem Cabriolet sehnt und sich doch eine Limousine kauft!

Ein halbes Jahr später. Die Trindels ließen es sich nicht nehmen, ihrer einzigen Tochter ein beeindruckendes Hochzeitsfest im Hilton auszurichten. Allein die Anzeige im Jüdischen Gemeindeblatt von Antwerpen füllte eine ganze Seite, ein pathetischer Text mit Verweisen auf den Holocaust, Zitaten aus der Thora, dazu Fotos der Delinquenten. Man gab sich die Ehre.

Die Trindels kamen aus aller Welt angereist, keiner wollte sich dieses Ereignis entgehen lassen. Einige dachten sicher, ein Wunder, dass die noch einen abgekriegt hat – den schmock müssen wir uns ansehen! So lernte Moritz seine zukünftige Verwandtschaft aus Toronto, Montevideo, Haifa und Paris kennen. Von seiner Seite waren die Gäste überschaubar: Seine Mutter und sein Bruder Alfred.

Nach der Sache mit David ließen die Brüder die Mutter ein Jahr lang leiden. Nun aber war es an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen und Frieden zu schließen. Da war diese Hochzeit ein guter Anlass, denn wie sollte man den Trindels erklären, dass die Mutter des Bräutigams nicht teilnehmen würde? Moritz war glücklich, als er seinen Bruder am Flughafen Brüssel begrüßen konnte. Gemeinsam fuhren sie zum Bahnhof und holten ihre Mom ab. Als sie aus dem Zug stieg, umarmten sich die drei und hielten sich lange fest.

Die Trindels waren von Baby begeistert, insbesondere Onkel Hyman begrabschte die attraktive Mutter des Bräutigams wann immer er konnte. Sie gehörte ja jetzt zur Familie, ließ er seine eifersüchtige Gattin wissen. Alfred, von den Trindels in aller Bescheidenheit als weltberühmter Hollywoodstar eingeführt, zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und genoss das Fest im Ballsaal des Luxushotels. Er tanzte mit allen jüdischen Jungfrauen und war höchst begehrt. Nur Fanny konnte ihren Schwager vom ersten Augenblick an nicht leiden. Und er sie auch nicht. Alfred hatte sich für seinen Bruder eine andere Gattin gewünscht. Eine sinnliche, frauliche, humorvolle und unkomplizierte Person, die offen und neugierig war, kurz: die zu ihm passte! Was er hier sehen musste, war eine verwöhnte, überhebliche, missgünstige, aseptische klafte. Fanny wusste sofort, dass sie ihren zukünftigen Mann von seinem Bruder fernhalten musste, denn sie fürchtete seinen zweifellos negativen Einfluss. Alfred war für sie ein selbstverliebter, oberflächlicher, egoistischer Mensch. Ein Schauspieler eben.

Der stand nachts mit Onkel Hyman an der Bar und diskutierte über Politik. Die Familie war glücklich, dass ihre Fanny verheiratet war, nur dass sie zeitweise in Deutschland leben würde, machte ihr Sorge.

Hyman bekannte, dass es ihm von seiner Frau nicht gestattet war, deutsche Produkte zu kaufen. Sie wollte nichts mit Deutschland zu tun haben. Er gestand Alfred, dass er so gern einen deutschen Fernseher oder eine deutsche Waschmaschine besitzen würde. Von einem Mercedes gar nicht zu reden.

Was für einen Wagen fährst du?, fragte ihn Alfred.

Ich habe einen französischen Wagen, sagte Onkel Hyman und schaute sich verstohlen nach seiner Frau um, die an einem der Tische saß. Dann flüsterte er: Mit einem Volkswagen-Motor, aber das darf sie nie erfahren!

Die meisten der Hochzeitsgäste waren bereits gegangen. Es war lang nach Mitternacht, als Aron Trindel seinen Schwiegersohn in den holzgetäfelten Klubraum des Hiltons rief. Es roch angenehm nach Leder.

Auf einem Tisch in der Ecke standen zwei Cognacgläser und eine Flasche Rémy Martin. Trindel saß in einem Klubsessel und paffte eine Romeo y Julieta. Er bot Moritz eine Zigarre an, der dankend ablehnte. Dann tranken sie Cognac. Trindel ermahnte Moritz, so wie er es bereits am Morgen in der Synagoge getan hatte, seine einzige Tochter Fanny, diesen wertvollen, verletzlichen Menschen, die Güte des Herzens in Person, das Licht seiner Augen, zu ehren und zu achten und ihr in jeder Beziehung ein liebender Gatte zu sein. Und sie umgehend zur Mutter zu machen. Das sei ihre Bestimmung. Und wenn man, was er durchaus verstehen könne, denn irgendwann erlösche jedes Feuer einmal, also wenn man wirklich nebenbei eine andere, man sei ja nicht aus Holz, er wisse sehr gut, von was er rede, dann dürfe das die sensible Fanny niemals erfahren, das gehöre sich nicht als Gentleman. Moritz versprach es. Trindel griff in die Innentasche seines Smokings, holte einen Scheck raus und erhob sich.

Mazl und broche, sagte er, küsste Moritz auf die Stirn und drückte ihm den Scheck in die Hand.

Dann verließ er den Klubraum.

 

Moritz war noch in Gedanken, als er zu Zamira sagte:

Von dem Geld erwarben wir dieses Haus. So, jetzt wissen Sie eine ganze Menge über mich, fügte er an.

Ist das schlimm?

Nein, sagte Moritz.

Wieso erzähle ich ihr das alles, dachte er gleichzeitig.