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Der mit aggressiven Graffiti besprühte Fiat Ducato stand in der Einfahrt. Ein muskulöser, tätowierter Mensch im T-Shirt schleppte einen Karton.

Alfred verfolgte die Aktivitäten mit Genugtuung. Er befand sich auf dem kleinen Balkon seines Zimmers im Erdgeschoss und rauchte einen Zigarillo. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen mit Moritz hatte er sich schlussendlich bereit erklärt, seine täglichen drei Zigarillos draußen zu rauchen. Er war die Streiterei mit seinem pedantischen Bruder leid. Dreimal am Tag einen kleinen Zigarillo! Das hatte doch was Gemütliches, aber Moritz tat so, als würde ein Tsunami hereinbrechen:

Ich bestehe darauf, dass du in diesem Hause nicht rauchst!

Warum?

Noch nie ist in diesem Hause geraucht worden und so soll es, bitte schön, auch in Zukunft bleiben.

Hast du Angst, du bekommst Lungenkrebs vom Passivrauchen?

Es ekelt mich.

Wenn du wüsstest, was mich hier alles ekelt!

Dann kannst du ja gehen!

So gab ein Wort das andere. Alfred knickte ein, was selten vorkam, aber sein Bruder war nun mal der Hausherr, was konnte man machen? Alfred empfand diese Zurechtweisung als kleinkariert. Doch zu seiner Verwunderung konnte er im Lauf der Zeit den Viertelstunden auf dem Balkon einiges abgewinnen. Immer wenn er hier saß, erlebte er etwas:

Ungeschickte Fahrer beim Einparken, brüllende Kinder, denen der Ball unter ein abgestelltes Auto gerollt war, Joggerinnen, die verschwitzt und mit wippenden Brüsten die Straße hinunterhechelten, Typen auf Liegefahrrädern, hektisch telefonierende Jungmanager mit Businessköfferchen, alte Frauen mit Rollator, bekopftuchte türkische Mütter mit kreischenden kleinen Sumoringern. Ab und zu gab es Sielarbeiten, meistens dann, wenn die Straße gerade frisch asphaltiert worden war. Alfred sah Kehrmaschinen, Männer mit phosphorgrellen Arbeitswesten und blödsinnigen Laubpüstern. Bella, die struppige Hündin im Vorgarten nebenan, die immer wieder vergebens den Elstern hinterherhetzte und hoch in die Luft sprang, selbst wenn die Vögel sich bereits auf dem nächsten Baum befanden und hämisch schrien. Auch Eichhörnchen gab es. Kurz, Alfred freute sich inzwischen auf seine drei täglichen Rauchpausen.

Heute war es besonders vergnüglich. Frau Stöcklein zog aus!

Alfred hörte, wie der Klotz zu Susanne sagte:

Jetz simmer gleich dorsch.

Alfred sah seinen halben Hintern samt Schlitz, natürlich mit Behaarung und Tattoo, in einer dieser viel zu knappen Hosen, wie sie heute Mode waren, und hörte ihn sagen:

Sieh zu, dasse raus kimmt.

Er kroch aus dem Transporter und nahm ihr einen Koffer ab.

Sie ging los in Richtung Haus.

Ich geh mal gucke, wo sie bleibt …

Sie schaute kurz zum Balkon, aber Alfred hatte sich verzogen.

Er stellte fest, dass der kleine blonde Torsten, Frau Stöckleins Enkelsohn, in seinem Zimmer stand und auf das große, gerahmte Filmplakat starrte, das Alfred als Vampir zeigte, der sich über eine junge Frau beugte. Darauf stand:

»Freddy Clay – Sylvia Vermont in: The Night of the Vampire. A film by Ramon Polinsky«.

Alfred näherte sich dem Jungen von hinten und sprach einen Satz aus seinem berühmtesten Film:

Wer schleicht sich denn so still und heimlich in mein Schloss?

Der Fünfjährige erschrak und drehte sich um.

Das bist du, gell?, fragte er.

Alfred war in Erwartung einer Demütigung.

Ja, sagte er leise.

Der Film ist doof!

Alfred hatte es geahnt.

Machst du da Leute tot?

Ja.

Alle?

Alfred lächelte.

Nur kleine, blonde Buben!

Damit ging er zu seinem Schreibtisch, der überladen war mit Papier und Notizen, mit einem Laptop, Büchern und Stiften. Alfred arbeitete an seinen Memoiren. Er hatte noch kaum etwas geschrieben, aber bereits einen Titel: »Bis hier und weiter«. Das gefiel ihm.

Moritz hatte schon gelästert:

Wen soll das interessieren, was ein kleiner B-Movie-Actor da an Belanglosem von sich gibt?

Alfred war gekränkt. Zumal er immer wieder im Arbeitszimmer seines Bruders auf diverse Buchrücken starren musste, auf denen gut leserlich der Name Moritz Kleefeld zu erkennen war.

Alfred startete seinen Laptop, als der Knabe an den Schreibtisch kam und den Brieföffner sah.

Ist das dein Messer?, fragte er.

Alfred nickte.

Der Junge begann, seine Hand auf dem Schreibtisch zu bewegen. Sie näherte sich dem Gegenstand der Begierde wie ein Insekt. Der Kleine provozierte Alfred, indem er nach dem Brieföffner greifen wollte.

Krieg ich das?

Nein, sagte Alfred scharf und seine Augen wurden zwei schmale Schlitze.

Ich will das aber haben, sagte der Junge.

Alfred wurde lauter:

Nein! Verstanden?

Das ist meins …

Hüte dich!

Der Junge blieb unbeeindruckt.

Ich würd’s jetzt nehmen, gell?

Das glaube ich nicht, sagte Alfred mit einem dunklen Unterton. Dabei beugte er sich vor und kam dem Gesicht des Jungen gefährlich nah.

Ich rate dir jetzt zu verschwinden!

Die Hand des Jungen kam dem Objekt näher und näher.

Alfreds Kiefer begann zu mahlen, wie in einem seiner Western.

Da! Der Junge griff nach dem Brieföffner!

Im nächsten Moment hatte Alfred den Duden genommen und schlug damit dem Jungen auf die Hand!

Der starrte eine Sekunde verblüfft, dann …

 

Moritz und Frau Stöcklein standen auf dem Flur und sprachen leise miteinander, als sie ein hysterisches Kreischen hörten!

Beide schauten entsetzt in die Richtung, aus der die Schreie kamen.

Um Gottes willen!, rief Frau Stöcklein.

In diesem Augenblick lief Susanne bereits aufgeregt an beiden vorbei, zu Alfreds Zimmer.

Torsten!, schrie sie.

Da kam der Junge auch schon brüllend angerannt und warf sich seiner Mutter in die Arme.

Liebling! Was ist denn?, fragte sie aufgeregt.

Auch Frau Stöcklein ging in die Hocke.

Sie bemerkte, dass sich das Kind die Hand hielt.

Torsten, hast du dir wehgetan?, fragte sie. Sag doch der Omi, was du hast.

Moritz stand hilflos daneben. Er wollte auch etwas sagen.

Möchtest du vielleicht einen Bonbon?

Torsten schaute ihn wutverzerrt an und presste die Worte hervor:

Der Mann hat mich gehauen!

Welcher Mann?, fragte Moritz.

Der Junge zeigte nach hinten.

Der böse Mann da hat mich gehauen!

Alle starrten auf Alfred, der auf den Flur getreten war und mit wehendem Hausmantel auf die Gruppe zuging. Mit diabolischem Lächeln. Wie aus einem Horrorfilm.

Na? Was hat er denn, der Kleine?, fragte er.

Er hat sich wohl wehgetan, sagte Frau Stöcklein unsicher.

Ach, sagte Alfred.

Susanne nahm den Jungen auf den Arm.

Er ist müde, von der Fahrt. Ich geh dann schon mal raus, also tschüs, sagte sie rasch und gab Moritz die Hand.

Und nochmals vielen Dank. Für alles, was Sie für meine Mutter getan haben …

Aber ich bitte Sie. Ihre Mutter war eine unverzichtbare Hilfe in meinem Leben und im Leben meiner verstorbenen Frau.

Frau Stöcklein begann zu weinen.

Herr Professor, Sie waren immer so gut zu mir, wimmerte sie.

Moritz nahm Frau Stöcklein in die Arme. Auch er war gerührt.

Alfred wurde sachlich:

Machen wir’s kurz und schmerzlos. Ich habe zu tun. Auf Wiedersehen.

Er gab Frau Stöcklein die Hand.

Dann hielt er dem Jungen die Hand hin und sagte freundlich:

Na, junger Mann, kriege ich kein Händchen?

Torsten auf dem Arm seiner Mutter schaute Alfred ängstlich an und schüttelte den Kopf.

Darf ich Ihnen noch etwas Marmelade mitgeben, fragte Moritz, um die Stimmung aufzulockern.

Oh, ja super, sagte Susanne, die ist immer total lecker, echt.

 

Als der Ducato davonfuhr, stand Moritz vor dem Haus. Er winkte kurz, dann schaute er dem Wagen nach, bis der an der Ampel losgefahren war und rechts abbog. Die Vorstellung, dass Frau Stöcklein nun nicht mehr für ihn sorgen würde, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Ein halbes Menschenleben hatte sie zum Haus gehört, sie war ein Teil von ihm geworden im Lauf der Jahre. Gemeinsam mit seiner Frau hatte sie die Alltagssorgen von Moritz ferngehalten, sodass er sich auf seine akademische Karriere konzentrieren konnte. Fuhr er zu einem Kongress oder einer Gastvorlesung, wusste Frau Stöcklein, was in welchen Koffer sollte, es fehlte ihm unterwegs nie an etwas. Während seiner Gastsemester in Berkeley, als Fanny und er für längere Zeit drüben waren, hütete sie hier das Haus. Für einen Winter hatten sie die Haushälterin sogar nach Kalifornien mitgenommen, aber der amerikanische Alltag war ihr fremd geblieben. Die Supermärkte waren zu groß, die Portionen zu üppig, die Wege zu weit, die Töne zu schrill, das Leben zu verschwenderisch. Sie verabscheute Halloween. Und rosafarbene Weihnachten unter Palmen bei Sommertemperaturen? Unmöglich. Sie bekam Heimweh.

Moritz konnte sich nicht erinnern, dass Frau Stöcklein einmal mehr als zwei Wochen Urlaub am Stück genommen hatte. Als seine Frau krank wurde, kümmerte sie sich aufopferungsvoll um sie, ging mit ihr zu den Ärzten und zur Chemotherapie und war schließlich auch an jenem schrecklichen Tag an ihrer Seite, als Fanny plötzlich starb. Das würde er nie vergessen. Und nach Fannys Tod war sie ihm eine große Hilfe. Während er verzweifelte, schier unfähig, seine Tage zu organisieren, war Frau Stöcklein an seiner Seite. Sie erledigte Behördengänge, kümmerte sich um Trauergäste und überließ ihn seinem Schmerz.

Frau Stöcklein lehnte Alfred von Anbeginn ab. Obwohl er sich in den ersten Wochen bemühte, sie von seinem Charme und seinem einnehmenden Wesen zu überzeugen, war sie in der Vergangenheit zu sehr von Fanny gegen ihn beeinflusst worden. Irgendwann war es zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen den beiden gekommen. Alfred begann, gegen Frau Stöcklein zu stänkern, sie schlechtzumachen, an ihr herumzumäkeln und sie dermaßen überheblich zu behandeln, dass sie schließlich aufgab.

Nun stand Moritz in der Einfahrt und machte sich Vorwürfe, dass er seinen Bruder nicht in die Schranken gewiesen und sich nicht eindeutiger zu Frau Stöcklein bekannt hatte. Sie spürte offenbar keinen Rückhalt mehr und hatte resigniert. Dieses Versäumnis machte ihn traurig. Heute war sie für immer gegangen. Die gute … wie hieß sie noch mal? Gerlinde. Ja. Genau. Gerlinde Stöcklein.

 

Minuten später rief Norma an und Moritz machte den unverzeihlichen Fehler, vom Weggang der Haushälterin zu berichten. Nur mit Mühe konnte er die Freundin davon abhalten, sofort zu kommen, um den Haushalt zu übernehmen. Sie bot sogar an, bei Bedarf eines ihrer portugiesischen Zimmermädchen auszuleihen, aber Moritz bedankte sich brav: Sein Bruder sei gelernter Junggeselle und hätte bereits jetzt alles im Griff.

Okay, sagte Norma, aber Moritz, wenn was ist …

Versprochen, sagte er.

Soll ich nicht doch …?

Norma! Wir kommen wunderbar zurecht, wirklich. Mach’s gut.

Übrigens, Stella schwärmt immer noch von Alfred. Sag ihm Grüße von ihr.

Mach ich, sagte Moritz, tschüs, Norma.

Ja, tschüs. Und melde dich, wenn du mich brauchst.

Klar.

Habt ihr genug zu essen?