8
Freitag. Und diesmal meine ich wirklich Freitag, mit Tageslicht und so. Es ist jetzt acht Uhr morgens, aber ich bin schon seit kurz nach sechs auf den Beinen. Ab dem Zeitpunkt, als Mina und Jasmin putzmunter wurden und offenbar großen Spaß daran hatten, sich in einem fremden Zimmer in einem fremden Haus wiederzufinden. Die Logik von Dreijährigen - ich werde sie nie begreifen.
Im Moment sind wir alle in der Küche. Frühstückszeit. Ich bleibe dicht bei den Zwillingen, die auf den hohen Küchenhockern sitzen. Ich muss mich nämlich bereithalten, um alles rechtzeitig aufzufangen, was herunterfällt - Müslischale, Trinkbecher, Kleinkind ... Molly sieht müde aus. Sie hatte schließlich nur sechs ihrer obligatorischen zwölf Stunden Prinzessinnenschlaf. Wahrscheinlich wird sie bei der Morgenandacht ins Koma fallen. Thomas kaut lustlos auf seinem Toast herum. Es heißt immer, Kinder brauchen ihren Vater, und ich denke, auf Thomas trifft das absolut zu. Mit vier Weibern unter einem Dach muss der arme Junge momentan in einem Meer aus Östrogen ertrinken.
Plötzlich klingelt das Telefon, und ich zucke zusammen.
»Bei euch geht es ja ganz schön laut zu«, sagt Richard.
»Mina und Jasmin sind hier«, erkläre ich.
»Ach ja, die Beerdigung«, bemerkt Richard in geschäftsmäßigem Ton. »Wie lief es?«
Wie es lief? Wir reden hier nicht von einem Meeting, Richard. Oh, es lief wie am Schnürchen, auch wenn wir ein bisschen überziehen mussten, aber wir haben das Ding noch rechtzeitig unter Dach und Fach gebracht.
Das ist nicht fair. Richard kann nichts dafür. Woher soll einer von uns wissen, was man in so einem Fall sagt oder wie man sich ver hält? Wenn man nicht selbst ein Kind verloren hat, kann man doch gar nicht mitreden.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, entgegne ich. »Bis jetzt habe ich von Sureya und Michael noch nichts gehört. Ich nehme an, es war grauenhaft.«
»Gott, natürlich war es das«, murmelt Richard, wobei sein schlechtes Gewissen durchklingt.
Ich frage mich, wo er sich gerade aufhält. Ich horche auf verräterische Geräusche im Hintergrund. Ist sie bei ihm ...? Hör auf damit, Fran. »Wie auch immer, was gibt’s?«, frage ich.
»Es geht um Thomas’ Probetraining morgen. Ich wollte fragen, ob ... nun, ich würde gerne mitkommen ... falls du nichts dagegen hast.«
Mein Herz macht vor lauter Freude einen Satz. Thomas wird begeistert sein. Und, ja, ich bin ebenfalls begeistert. Weil ... Beckenham? Ich habe immer noch keinen Plan, wie wir dort hinkommen.
»Das wäre klasse«, erwidere ich so gefasst wie möglich. »Dann komm um zehn zu uns.« Ich sehe, wie Jasmin ihre Müslischale erschreckend nah an den Rand des Küchentischs schiebt. »Hör zu, ich möchte nicht unhöflich sein, aber war’s das? Es ist nur -«
»Eine Sache noch. Ich war gestern bei Sir Colin.«
»Oh, und wie lief’s?«, frage ich geschäftsmäßig, was in diesem Fall völlig okay ist, zumal wir ja wirklich von einem Meeting reden.
»Sehr gut. Nein, besser. Fran, der Kerl hat einen Narren an mir gefressen. Wahrscheinlich könnte ich dem sogar Thomas’ Hausaufgaben präsentieren, und er würde das Projekt abnicken.«
»Gut gemacht«, lobe ich aufrichtig. »Ich wusste, dass du das wieder hinkriegst.«
»Das ist nicht mein Verdienst. Das habe ich Cherie zu verdanken. Harrison hat gestern zwar kein einziges Mal den Namen ›Tone‹ in den Mund genommen, aber er hat ständig so komische Andeutungen gemacht und mir verschwörerisch zugeblinzelt. Ist das zu glauben? Verflucht, das ist der Aufsichtsratsvorsitzende von Shell höchstpersönlich, und ich bringe ihn dazu, dass – Scheiße, was war das?«
Das Porzellan scheppert ganz schön laut auf dem Fliesenboden. Das Geheul, das gleich darauf einsetzt, ist sogar noch lauter.
»Ich muss auflegen, Richard. Tschüss.«
Ich lege das Telefon aus der Hand und stürze zu Jasmin, die auf dem Boden liegt, in einer Pfütze aus Milch und Ricicles.
»Daddy kommt morgen mit zum Training«, erkläre ich Thomas auf dem Weg zur Schule.
»Sag nicht immer Daddy. Scheiße, Mum, ich bin fast elf, und kein zweijähriges Baby mehr.«
»Hey, du sollst nicht fluchen«, sage ich mit tadelnder Miene und grinse ihn gleich darauf an, weil er (im Grunde) recht hat und ich zudem den Moment nicht verderben möchte.
»Und fahren wir danach alle gemeinsam zu Oma Ruth? Daddy kommt doch sonst nie mit«, sagt Thomas, wobei ihm interessanterweise doch wieder »Daddy« herausrutscht.
Ich bringe es nicht übers Herz zu sagen, dass »Daddy« auch morgen nicht mit dieser Gewohnheit brechen wird. »Wir werden sehen«, sage ich stattdessen.
Ich beobachte, wie Thomas ein paar Schritte vorausläuft und mit seinem Ball dribbelt. Mir wird warm ums Herz, weil er noch nie so einen ausgeglichenen Eindruck gemacht hat wie im Moment. Sehen Sie? Es richtet keinen Schaden an, wenn man die Dinge unter den Teppich kehrt. Im Gegenteil, das kann sich sogar positiv auswirken.
Ich schiebe Jasmin und Mina in ihrem Doppelbuggy voran. Das Schultor ist nur noch knapp hundert Meter entfernt. Vor Schreck mache ich fast einen Satz, als ich plötzlich meinen Namen rufen höre.
»Fran!« Ich spüre ihr mit Prozac gedoptes Lächeln heiß in meinem Rücken.
Mist! Bis jetzt ist es mir erfolgreich gelungen, ihr aus dem Weg zu gehen.
»Natasha«, sage ich und drehe langsam den Kopf.
»Du warst gestern nicht bei dem AREI-Treffen. Ist alles in Ordnung?«
»Nicht wirklich«, entgegne ich und drehe den Kopf wieder nach vorne, während ich einen Zahn zulege. Aber Natasha hält mit uns Schritt – eine beachtliche Leistung, mit den Absätzen. Ich bin froh über den Doppelbuggy. So ist nicht genug Platz, dass Natasha neben mir geht.
»Oh Gott! Was ist denn passiert? Es ist doch nichts mit Richard, oder?«, fragt sie in überbesorgtem Ton.
Das geht dich einen verdammten Dreck an, du falsche Natter. »Nein, nicht mit Richard.« Ich bleibe abrupt stehen und starre sie an. »Ich war nicht bei dem Treffen, weil mir keiner Bescheid gesagt hat.«
»Sei froh, meine Liebe«, erwidert Natasha lachend. »Es war nämlich stinklangweilig. Gruppenführer Cassie hat uns die letzten Instruktionen für die Operation Schulbasar gegeben.«
Wir erreichen nun das Schultor. Ich schiebe Sureyas Buggy durch, aber da der Weg jetzt breiter wird, zieht Natasha kurz darauf mit uns gleich. Sie blickt auf die Zwillinge.
»Das sind Sureyas Mädchen, nicht wahr?«, sagt sie. »Hat sie heute keine Zeit, die zwei selbst in den Kindergarten zu bringen?«
»So ähnlich«, erwidere ich kurz angebunden. Natasha werde ich bestimmt nicht die Wahrheit sagen. Ich weiß ja aus eigener, schmerzvoller Erfahrung, wie sie damit umgeht ... Tja, schon traurig, aber das hat sie sich selbst zuzuschreiben, so, wie sie sich immer zwischen Familie und Beruf aufreibt. Manche Frauen müssen eben erst lernen, dass man nicht alles gleichzeitig haben kann. Gott, ich kann es praktisch hören, und mir wird dabei richtig übel.
Während ich mich von Natasha abwende in Richtung Kindergarten, macht sie einen letzten Versuch, die Unterhaltung zu retten. »Bist du sicher, dass es nichts gibt, worüber du reden möchtest? Du weißt ja, Reden hilft.« Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht, als wäre das der beste Witz der Welt.
Sie kann ihr Prozac behalten, beschließe ich. Ich bin lieber von Natur aus verkorkst als mit Hilfe von Medikamenten.
»Nein, wirklich, alles okay«, sage ich.
»Gut, gut. Hier, für dich.« Sie gibt mir ein Faltblatt. »Cassie würde mir nie verzeihen, wenn ich jemanden vergesse ... Okay, du weißt ja, wo du mich finden kannst, wenn dir nach Plaudern zumute ist«, sagt Natasha zu meinem Rücken. Ich drehe mich nicht mehr um.
Immer noch jemand, der glaubt, Judas hatte das letzte Wort in Sachen Verrat? Natasha kann für ihren Verrat jedenfalls zur Hölle fahren. Judas wartet dort bereits auf sie. So hat sie wenigstens einen Leidensgenossen.
Auf dem Nachhauseweg werfe ich einen Blick auf den Flyer, den Natasha mir vorhin in die Hand gedrückt hat. Er enthält Anweisungen der AREI; alles, was Sie schon immer über den Herbstbasar wissen wollten, sich jedoch nie zu fragen trauten. Zeit und Treffpunkt, Mitbringsel, Verhaltensregeln.
Der Gebrauch des Wortes ›Herbst‹ ist erlaubt. Bitte vermeiden Sie jedoch Ausdrücke wie ›Vorbote des Winters‹ oder ›kalte Übergangszeit‹, da dies die Zeitspanne von September bis November herabwürdigt, die laut Antidiskriminierungsgesetz einen Anspruch darauf hat, gleich behandelt zu werden wie die anderen drei Jahreszeiten.
Okay, das ist leicht übertrieben, aber im Grunde würde mich das auch nicht mehr überraschen.
Das Faltblatt und die Begegnung mit Natasha lassen in mir einen Entschluss reifen. Ich werde zum Herbstfest gehen. Ich werde mich nicht drücken, selbst vor so einem bescheuerten Entenstand nicht. Ich werde mich nicht verstecken, und es gibt nichts, dessen ich mich schämen müsste. Ich brauche keinen Mann an meiner Seite. Ich komme mit diesen Weibern auch alleine zurecht, das weiß ich ...
Außerdem hat meine Mutter gestern Abend angerufen. Sie wird die Kinder früh am Sonntagvormittag zurückbringen und uns zum Schulbasar begleiten, was eine gute Sache ist, weil das bedeutet, dass ich diesen Hyänen nicht alleine gegenübertreten muss.
Nachdem ich wieder zu Hause bin, räume ich den Frühstückstisch ab, stelle die Waschmaschine an und mache mir anschließend einen Kaffee, wobei mir die ganze Zeit bewusst ist, dass ich das Telefonat nur hinauszögere. Aber nun fällt mir nichts mehr ein, um es weiter aufzuschieben. Also wähle ich Sureyas Nummer. Michael hebt ab.
»Danke, dass du die Mädchen genommen hast«, sagt er mit gezwungener Fröhlichkeit.
»Oh, war mir ein Vergnügen. Sie waren ganz brav, ehrlich.«
»Haben sie durchgeschlafen? Normalerweise tun sie sich immer schwer in einem fremden Bett.«
»Kein Problem. Sie haben geschlafen wie zwei Engel.«
»Gut ... Danke ...«
Ich höre einen Moment lang Michaels Atem.
»Möchtest du, dass ich die beiden vom Kindergarten abhole?«, frage ich. »Das macht mir nichts aus.«
»Nein, lass gut sein. Ich mache das. Ich habe mir freigenommen und ... « Er verstummt wieder.
»Wie geht es ihr, Michael?« Die einzige Frage, die mich beschäftigt.
»Keine Ahnung ... Furchtbar, wenn du die Wahrheit hören willst.«
»Soll ich nachher mal vorbeikommen? Und mit ihr reden?«
Ein Stoßseufzer, der Bände spricht, ohne jedoch auch nur ansatzweise die Trauer zu beschreiben, die Michael fühlen muss. »Großer Gott, Fran, ich weiß selbst nicht, was ich sagen soll. Was gibt es da schon zu sagen ...? Sie war noch so winzig. Und dann der kleine Sarg ...«
Michael versagt die Stimme. Der Arme. Wenn einer den furchtbaren Schmerz von Sureya nachempfinden kann, dann Michael, aber selbst er findet kein Mittel, sie zu trösten. Und wenn Michael keine Worte findet, wie soll mir das dann gelingen?
Aber es geht hier um Sureya, meine Freundin. Ich werde, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, nicht davonlaufen. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich das Richtige tun.
»Ich behalte die Zwillinge noch eine Nacht bei mir«, sage ich. »Damit ihr mehr Zeit habt.«
»Danke, aber nein, die eine Nacht ist genug. Die Kinder müssen wieder nach Hause. Außerdem glaube ich, dass es uns beiden im Moment ganz gut tun würde, mit den Kindern Zeit zu verbringen.«
»Ihr habt zwei unheimlich niedliche und aufgeweckte Töchter, Michael.«
»Allerdings, nicht wahr ...?«
Ich höre, wie ihm erneut die Stimme versagt.
»Okay, ich mach jetzt Schluss«, sage ich. »Wenn ich irgendetwas tun kann, ruf mich an. Versprich mir das.«
»Okay. Danke, Fran ... Du bist großartig, weißt du das ...?«
Nachdem Michael aufgelegt hat, quält mich der Gedanke, dass ich nicht mehr tun kann, als da zu sein, wenn die beiden mich brauchen. Und das ist nicht gerade viel, oder?
Als ich das Telefon weglegte, musste ich an Summer denken. Sie hatte noch nie so verzweifelt geklungen wie letzte Nacht bei unserem Telefonat. Im Moment befand sie sich wahrscheinlich gerade in achttausend Metern Höhe, auf dem Flug nach Hause, und zermarterte sich den Kopf wegen ihrer Schwangerschaft. Ich fragte mich, ob sie wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, weil sie die Wahl hatte. Aber ich begrub den Gedanken gleich wieder. Der Vergleich war nicht fair – Summer ist nicht Sureya. Und das Letzte, was ein verzweifelter Mensch hören möchte, ist, dass es jemanden gibt, der noch beschissener dran ist – obwohl es diesen Jemand immer gibt.
An diesem Punkt musste ich mich von der schrecklichen Realität ablenken. Ich entfloh, indem ich mir das Arbeitszimmer vornahm, das dringend aufgeräumt werden musste – das Home Office, wie der Makler es genannt hatte. Ich kam nicht sehr weit. Als ich den ersten Schrank öffnete, fiel mir ein ganzer Stapel Fotoalben entgegen.
Die nun verstreut um mich herum liegen. Ich sitze auf dem Boden, eine Zigarette in der Hand, und betrachte glücklichere Zeiten. Fotos von Richard und mir als junges Paar, zusammen mit unseren Freunden, als das Leben eine einzige Party zu sein schien. Auf den meisten Bildern sind jedoch Thomas und Molly drauf, und es tut gut, sie zu betrachten. Sie erinnern mich nämlich daran, dass wir auch gute Zeiten hatten, nachdem die Kinder auf der Welt waren. Ich hatte durchaus auch Spaß, postnatal.
Aber nicht in diesem Urlaub. Auf meinem Schoß liegt ein Album mit Schnappschüssen aus Disneyland Paris. Damals war Molly noch keine zwei Jahre alt. Ihr hat es gefallen, aber sie war damals noch sehr klein – sie wäre auch glücklich gewesen, hätte ich sie fünf Tage lang in ein aufblasbares Planschbecken gesetzt. Thomas dagegen hasste Disneyland. Gleich am ersten Tag wurde Richard und mir bewusst, dass wir einen großen Fehler begangen hatten. Die Attraktionen, die unseren Sohn interessierten, setzten alle eine bestimmte Mindestgröße voraus, und da Thomas ja so schmächtig war (und immer noch ist), musste er überall draußen bleiben. Er war damals sechs, fast sieben, wobei er tat, als wäre er siebzehn, und er hatte sich in den Kopf gesetzt, den Tod herauszufordern. Er wollte unbedingt in alle Richtungen geschleudert werden, kopfüber, kopfunter, nach links und nach rechts, und das mit mehreren hundert Stundenkilometern, biiitte. Die Fahrgeschäfte für die Kleinen, die Molly Jauchzer entlockten, ödeten Thomas an. Er wollte nicht von Mickey geknuddelt werden, nein danke, und er spuckte verächtlich auf den Boden, auf dem Minnie ging.
Dieser Urlaub war so schrecklich, dass ich mich beim Betrachten der Bilder unwillkürlich verspanne. Schnell umblättern und ... Schon besser. Portugal, zwei Monate später – ein Spontanurlaub, um den Reinfall mit Disneyland wiedergutzumachen. Dieses Mal gingen Richard und ich auf Nummer Sicher und suchten das beste und zugleich kinderfeundlichste Hotel aus, das wir finden konnten. Während die Kinder im hoteleigenen Kids Klub beschäftigt wurden, genossen Richard und ich unsere Freiheit wie zwei Junkies auf Turkey, die gratis mit Stoff versorgt werden. In dieser Woche waren wir ständig auf Achse. Wasserski, Windsurfing, Paragliding und ...
Großer Gott, ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe. Aber das Foto ist der eindeutige und unwiderlegbare Beweis. Ich in T-Shirt und Shorts, die Arme weit ausgestreckt, über mir endlos blauer Himmel, unter mir – und zwar mindestens vierzig Meter unter mir – der Atlantik.
Ich bin in diesem Urlaub tatsächlich an einem Bungeeseil in die Tiefe gesprungen!
Richard und ich sind an diesem Tag an der Küste entlanggefahren, um irgendwo zu Mittag zu essen, und haben dabei zufällig die Sprungplattform über den Klippen entdeckt.
»Komm, lass uns kurz anhalten«, sagte Richard.
»Muss das sein?«, entgegnete ich. »Mir knurrt fürchterlich der Magen.«
Warum sollte ich Leuten, die dafür auch noch Geld bezahlten, dabei zusehen, wie sie sich von einer hohen Klippe herunterstoßen lassen, mit nichts weiter als einem dünnen Seil um die Füße gebunden? So sah es jedenfalls von weitem aus. Aber ich gab trotzdem nach. Wir hielten an. Nur um kurz zuzuschauen.
»Das müssen wir ausprobieren«, sagte Richard, kaum waren wir aus dem Wagen gestiegen.
»Unter keinen Umständen werde ich –«
»Es ist absolut sicher.«
»Nein, mein Lieber, es ist sicher, sich so was zu Hause im Fernsehen anzuschauen – vom sicheren Sofa aus.«
Aber Richard ließ nicht locker. Er bettelte und redete auf mich ein, wobei er sämtliche Register zog. Richard ist ein guter Verkäufer, und mir war klar, dass er so schnell nicht aufgeben würde.
Ich glaube, ich habe es aus einem schlechten Gewissen heraus getan. Richard wünschte sich so sehr, dass wir beide springen, und ich wusste, dass er es mit mir nicht immer leicht hatte – habe ich die postnatalen Depressionen bereits erwähnt? Wie auch immer, mich interessierte nur, dass ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten – mag es an der Sonne, dem Meer, dem Sex (der Sex!) oder einfach an der Pause vom Alltag gelegen haben – das Leben in vollen Zügen genoss und nicht wollte, dass sich daran etwas änderte, nur weil ich vor einem harmlosen, kleinen Sprung kniff.
Also sprangen wir.
Richard war der Erste. Ich konnte nicht hinsehen. Ich machte die Augen erst wieder auf, als er zurück auf die Plattform gehievt wurde, bis zu den Schultern nass von einem kurzen Tauchgang im Meer, mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen. Dann war ich dran. Es war das Aufregendste, was ich je getan habe. Gut, Richard und der Tod (der Typ, der die Show veranstaltete) mussten zuvor eine halbe Stunde lang auf mich einreden. Und letzten Endes mussten sie mich tatsächlich fast hinunterstoßen, weil die Leute hinter mir immer ungeduldiger wurden. (»Springst du jetzt endlich, oder was? Andernfalls verpiss dich gefälligst, und mach den Weg frei.«)
Und ich bin tatsächlich gesprungen!
Danach gönnten Richard und ich uns ein ausgiebiges Mittagessen in der Sonne. Frischer Hummer, eisgekühltes Bier und viel Gelächter, während wir wieder und wieder unser Abenteuer Revue passieren ließen. Das Gefühl, zu fliegen, dieser Kick, der noch lange anhielt, besser als Sex.
Richard und ich waren uns einig, dass wir immer so leben wollten. Wir schworen uns, von nun an die Gelegenheiten beim Schopf zu packen, neue Dinge auszuprobieren, just for fun, die ganze Welt zu bereisen, spontan zu sein, verrückt, wild, was auch immer.
Aber irgendwann mussten wir natürlich wieder zurück und die Kinder aus dem Klub abholen. Molly weinte, während Thomas uns lautstark vorhielt, dass wir ihn den ganzen Tag unter lauter Fremden alleine gelassen hätten, worauf wir alle unsere Vorsätze vergaßen, weil das wirkliche Leben uns wieder eingeholt hatte. Und das bis heute.
Trotzdem verbinde ich Portugal mit schönen Erinnerungen. Mehr als das – das Foto, auf dem ich wie ein Vogel in der Luft schwebe, verleiht mir Kraft. Wenn ich von einer verdammten Klippe in die Tiefe springen kann, warum soll ich mich dann von ein paar Klatschweibern einschüchtern lassen? Oder von einer Gucci-Schönheit? Gut, der bloße Gedanke an sie verursacht mir weiche Knie, aber es geht schon. Ich muss nur so tun, als würden sie alle nicht existieren.
Das funktioniert. Ist eine Art Wundermittel.
Und da denken alle, Freud war schlau.
Ich will gerade die Fotoalben wieder wegräumen, halte jedoch inne, weil das Telefon klingelt.
»Fran, hallo. Hier ist Chris von Saatchi«, sagt Chris von Saatchi.
»Chris!« Mein Strahlen erhellt wahrscheinlich den ganzen Raum. »Ich dachte schon, du hast mich vergessen.«
»Tut mir leid. Ich wollte mich eigentlich schon vor Tagen bei dir melden, aber hier geht es im Moment zu wie im Tollhaus.«
Ja, ich kann mich noch an diese Zeiten erinnern.
»Schon okay«, versichere ich ihm. »Ich verstehe das.«
»Nein, wirklich, das war nicht nur so dahergesagt«, erwidert Chris, der mich offenbar missverstanden hat. »Ich möchte, dass wir uns bald treffen. Und ich wollte dir noch für die tolle Party danken.«
»Ja? Ich glaube, ich war an dem Abend ... äh ... ein wenig beschwipst. Ich habe einige Gedächtnislücken«, sage ich lachend.
»Gedächtnislücken? Ich kam am nächsten Tag fast nicht aus dem Bett.«
Und auf einmal ist es wie in alten Zeiten. Du hast einen schlimmen Kater? Was soll ich erst sagen? Das alte Spiel. Und an dieser Stelle muss erwähnt werden, dass ich froh darüber bin.
»Hör zu, Fran, wir haben eine Menge nachzuholen«, sagt Chris weiter, »aber da steht gerade etwas Neues an ...«
Na, bitte. Es gibt immer ein Aber.
»... und du könntest mir helfen. Ich glaube, ich habe Richard bereits davon erzählt, als ich ihn neulich am Telefon hatte, aber ich wollte keine Details erwähnen, bevor ich nicht zuerst mit dir darüber gesprochen habe.«
Oh mein Gott. Es gibt gar kein Aber. Worauf läuft das hinaus?
»Bist du noch dran?«
»Ja, klar, sorry, ich dachte, du bist noch nicht fertig. Sprich weiter.«
»Okay. Wir arbeiten momentan im Auftrag der CRE, der Commission for Racial Equality.«
»Ja«, sage ich langsam.
»Es geht um eine weltweite Antirassismuskampagne. Die Amerikaner haben bereits einen Zwei-Minuten-Spot gedreht, der auf allen Programmen ausgestrahlt werden soll, und wir machen die englische Version für die CRE. Sie soll auf fünf Kanälen gleichzeitig gesendet werden – ich glaube es noch gar nicht, dass wir diesen Spagat tatsächlich hinbekommen haben.«
»Klingt toll«, sage ich und frage mich insgeheim, was mein Part in dieser Geschichte sein soll.
»Allerdings. Das ist fantastisch. Unser Zwei-Minuten-Spot spielt auf einer Einkaufsstraße – Obst- und Gemüseläden, Pommesbuden, chinesisches Fast Food, indische Boutiquen, Kebab und so weiter. Man sieht lauter Menschen mit den unterschiedlichsten Hautfarben. Während die Kamera also dieses Vielvölkergemisch auf der Straße einfängt, nennt der Hintergrundkommentator die Herkunft jedes einzelnen Menschen im Bild. Das Schlagwort lautet ›Sechzig Millionen Menschen, eine Stimme‹ ... Sorry, meine Beschreibung ist wahrscheinlich ziemlich bescheiden, aber der Film ist wirklich toll geworden ...«
Chris’ Stimme klingt geradezu überschwänglich.
»... Bist du noch dran, Fran?«
»Ja, ich versuche das alles gerade zu verarbeiten.« Ich erwähne nicht, dass mir leicht übel ist – ich ahne nämlich, was gleich kommt.
»Wir haben neulich eine Kopie der amerikanischen Version erhalten. Der Hintergrundkommentar wird von Robin Williams gesprochen, und das macht den Spot aus. Williams ist wirklich große Klasse. Er wechselt nahtlos vom Asozialenslang einer amerikanischen Wohnwagensiedlung zur gebildeten Gelehrtensprache. Da kann man nur mit offenem Mund staunen. Wir müssen uns ganz schön ins Zeug legen, wenn wir da mithalten wollen, das kann ich dir sagen.«
Ich muss mich zusammenreißen. Ich weiß genau, was jetzt kommt. In meinem Kopf dreht sich alles. Chris’ Energie und Enthusiasmus machen mich ganz benommen.
»Jedenfalls ist genau das unser Problem, Fran. Der Hintergrundkommentar. Wir haben fünf bis sechs Synchronsprecher gehört, und wir dachten bereits, einen Treffer gelandet zu haben. John Sessions hat uns mit seiner Leseprobe sehr beeindruckt.«
»Oh ja, er ist richtig gut«, sage ich. Ich habe mal mit John zusammengearbeitet, daher weiß ich das.
»Tja, das dachten wir auch. Bis wir die Version mit Robin Williams gesehen haben. John kann da nicht mithalten, fürchte ich.«
Fürchtet er? Fürchte ich. Sehr sogar.
»Wir haben alle zum Vorsprechen eingeladen. Rory Bremner, Roni Ancona, Catherine Tate, Jon Culshaw ... Aber keiner davon hat richtig gepasst. Komm schon, Fran, du weißt, worauf ich hinauswill. Der Text ist wie für dich geschrieben.«
»Aber ich habe seit Jahren nicht mehr in meinem Beruf gearbeitet, Chris.«
»Oh, erspar mir diesen Mist. So ein Talent wie deins vergeht nicht mal so eben ...«
Ach nein?
»... Du warst schon immer die Beste, und daran hat sich nichts geändert.«
Ach ja?
»Also, ja oder nein? Der Aufnahmetermin ist nächste Woche Donnerstag. Ich meine, du kannst natürlich ablehnen ... Aber wenn der braune Mob immer weiter wuchert und die Gesellschaft irgendwann völlig auseinanderfällt, bloß weil wir nicht in der Lage waren, einen annähernd so guten Synchronsprecher wie Robin Williams aufzutreiben, nun, dann hoffe ich, dass du mit deinem Gewissen leben kannst.«
Das war ein Witz, nicht? Natürlich war das ein Witz. Aber Chris meint es auch ernst: Ja oder nein?
»Und ...?«
»Und was?«, frage ich unnötigerweise. Aber ich versuche Zeit zu schinden.
»Du wirst uns doch nicht hängen lassen, oder?«
Ganz ehrlich, kann ich das wirklich? Zu meinem letzten Aufnahmetermin bin ich nicht erschienen. Dann habe ich Isabel und Harvey hängen lassen. Glaube ich wirklich ernsthaft, dass ich es mit einem Superstar wie Robin Williams aufnehmen kann ...?
Ich stehe auf einer winzigen Plattform, vierzig Meter über dem Meeresspiegel ...
»Es ist mir eine große Ehre, dass du mich fragst, Chris. Natürlich lasse ich dich nicht hängen.«
Chris stößt daraufhin einen Freudenschrei aus, und ich mache dasselbe – genau wie damals, als ich mich zum Atlantik hinunterstürzte.