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Ich hätte mich gar nicht so beeilen müssen, da Mrs Gottfried mich ohnehin warten lässt. Ich sitze vor ihrem Büro und überlege, wie ich mich am besten verhalten soll. Thomas ist kein schlechter Junge. Er schikaniert niemanden, er spuckt im Flur nicht auf den Boden, und er prügelt sich auch nicht. Aber den Lehrern macht seine unterdurchschnittliche Sozialkompetenz Sorgen. Altmodisch ausgedrückt, Thomas ist der stille Außenseiter der Klasse. Außerdem macht ihnen seine Unkonzentriertheit Sorgen. Obwohl er – dank der Playstation – im Lesen viel besser geworden ist, bewegen sich seine Leistungen insgesamt im unteren Niveau. Altmodisch ausgedrückt, Thomas ist der stille Außenseiter und das Schlusslicht der Klasse.

Ich habe Thomas’ Lehrer darauf hingewiesen, dass seine Konzentration sich schlagartig bessern würde, wenn er von seinem Platz aus nicht einen hervorragenden Blick auf das Fußballfeld hätte. Das habe ich nicht ohne Grund erwähnt. Ich wollte das Gespräch auf etwas Positives lenken. Auf das besondere Talent meines Sohnes. Immerhin ist Thomas von Chrystal Palace zum Probetraining eingeladen worden, verdammt! (Shit, ich muss dringend diesen Ron anrufen.) Sollte die Schule sich daher nicht vielmehr darüber freuen, dass sich in ihrer Mitte ein – meiner bescheidenen Meinung nach - junger Pele befindet? Doch ich hätte mir den Atem sparen können. Fußball ist eine tolle, wunderbare und großartige Sache ... bis auf eine Besonderheit. Nach dem Schlusspfiff gibt es gewöhnlich einen Gewinner. Was bedeutet, dass es auch einen Verlierer gibt. Zwar befürwortet die Arlington-Philosophie den Konkurrenzkampf ... aber nur vorausgesetzt, jeder kann gewinnen.

Das diesjährige Finale im FA Cup zwischen Arsenal und Liverpool endet 2:0. Arsenal holt die Trophäe ... zusammen mit Liverpool, das hervorragend gespielt hat und das, nicht zu vergessen, in tadellos sauberen Trikots pünktlich zum Anpfiff erschienen ist.

Aber was weiß ich schon, denke ich, als Mrs Gottfried in ihren ungemein vernünftigen Schuhen auf mich zukommt.

»Mrs Clark, danke, dass Sie gekommen sind«, sagt sie – so viel Freundlichkeit bin ich gar nicht von ihr gewohnt. »Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind.«

Bin ich zwar nicht, aber das hüte ich mich zu sagen. Ich folge Mrs Gottfried gottergeben in ihr Büro und nehme auf dem angebotenen Stuhl Platz.

»Ich bedaure sehr, dass ich Sie so früh in diesem Schuljahr zu mir bitten muss«, bemerkt sie, während sie sich hinter ihrem Schreibtisch niederlässt. Sie schenkt mir ein Lächeln, und ich taue ein wenig auf. Mrs Gottfried ist zwar für die meisten Kinder an der Schule eine Hassfigur, aber deshalb darf man sie nicht sofort verurteilen. Und auch nicht wegen ihres leichten deutschen Akzents. Ich darf nicht alles abtun, was sie sagt nur weil sie mit einem komischen Akzent spricht. Nein, das wäre dumm und kindisch und würde mir nicht ähnlich sehen (jedenfalls heute nicht). Heute werde ich Mrs Gottfried eine Chance geben.

Ich beginne mit einer kleinen Präventivrede zur Verteidigung meines Sohnes.

»Ich bin froh über diesen Termin«, erwidere ich. »Ich finde es nämlich großartig, dass die Schule die Eltern ganz selbstverständlich in, äh, schulische Angelegenheiten einbezieht. Aber darf ich erwähnen, dass Thomas mir versprochen hat, sich in diesem Schuljahr mehr anzustrengen? Selbstverständlich liebt er seinen Fußball immer noch heiß und innig, aber er will sich diesmal wirklich dahinterklemmen und –«

»Mrs Clark, verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber wir reden aneinander vorbei. Thomas ist nicht der Grund unseres Gesprächs ...«

Oh Gott, dann geht es also um mich. Aber worum genau? Ich schaue an meiner Kleidung herunter. Jeansjacke, Cargo-Hose und abgewetzte Timberland-Treter. Summer hat vorhin schon den Kopf über mein Outfit geschüttelt. Wird Mrs Gottfried etwa in dieselbe Kerbe schlagen?

»... Nein, es geht um Molly.«

Hat sie Molly gesagt? Unmöglich. Außer es ist so, dass Molly zu gute Leistungen bringt und die Schulleitung wünscht, dass sie sich ein wenig zurückhält, damit die anderen in der Klasse aufholen können – was ja ganz der Jeder-ist-ein-Gewinner-Philosophie entspricht.

»Was hat sie angestellt?«, frage ich, ehrlich überrascht.

»Das ist eine heikle Angelegenheit, Mrs Clark«, erwidert Mrs Gottfried vorsichtig, als wäre ich ein rohes Ei, »aber es ist leider so, dass Molly schon mehrfach durch rassistische Äußerungen aufgefallen ist.«

»Rassistische Äußerungen?«, wiederhole ich bestürzt.

Ich bin baff. Molly weiß gar nicht, was eine Rasse ist, außer bei Hunden. Und sie weiß ganz sicher nicht, dass es davon auch noch einen -ismus gibt.

»Ja, auf dem Schulhof ruft sie immer ›Reis- und Bohnenfresser‹.«

Ich muss lächeln. Mit deutschem Akzent klingt es völlig falsch. Es heißt Reis- und Bohnenfressäääär! Man muss dem Ganzen einen lässigen Jamaica-Slang verpassen. Ich weiß, dass Molly das perfekt beherrscht. Sie hat zwar das Aussehen ihres Vaters, aber die Stimmbänder ihrer Mutter.

»Verzeihung, aber das ist nicht komisch«, sagt Mrs Gottfried als Reaktion auf meine leichte Belustigung. »Die anderen Kinder eifern ihr bereits nach ...«

Die sind nicht einmal halb so gut, wette ich.

»... und als eine der Kantinenmitarbeiterinnen Molly gefragt hat, woher sie das hat, meinte sie, von ihrer Mutter.«

»Das ist richtig«, bestätige ich.

Mrs Gottfried stockt der Atem.

»Das ist ein Zitat aus dem Fernsehen«, erkläre ich. »Aus einer Satiresendung.«

Mrs Gottfried blickt mich ausdruckslos an. Ich spüre, dass sie eine genauere Erklärung braucht, damit wir die Sache zu den Akten legen können.

»Das stammt aus einer Parodie auf Trisha ... die bekannte Talkshowmoderatorin. Der Ausdruck ›Reis- und Bohnenfresser‹ ist eine Art Running Gag. Ich habe irgendwann damit angefangen, und Molly fand es komisch, und, tja, den Rest kennen Sie ja.«

»Wir dulden hier in der Schule keine rassistischen Äußerungen«, sagt Mrs Gottfried mit leiser Stimme.

»Ich auch nicht, Mrs Gottfried. Nichts liegt mir ferner. Aber es handelt sich hier nicht um eine rassistische Äußerung ... sondern ... ich weiß auch nicht ... Es ist einfach nur ein dummer Spruch. Viele Weiße haben nämlich das Vorurteil, dass Latinos sich nur von Reis und Bohnen ernähren. Das ist als Witz gemeint.«

»Nein, das ist eine rassistische Beleidigung von Menschen afro-karibischer Abstammung«, korrigiert Mrs Gottfried mich.

»Aber es stellt vor allem auch die Weißen bloß, die an solchen Unsinn glauben«, versuche ich zu erklären.

»Das wäre dann genauso rassistisch.«

Mein Kiefer klappt nach unten. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Bin ich hier auf einem anderen Planeten?, würde ich am liebsten schreien. Meine süße, unschuldige fünfjährige Tochter wird des Rassismus bezichtigt. Wo zum Teufel soll das noch hinführen?

»Mrs Clark, Sie werden einsehen, dass wir ein solches Verhalten nicht dulden können. Solche Dinge müssen im Keim erstickt werden ...«

Welche Dinge? Wen wird sich Mrs Gottfried in der nächsten Woche herauspicken? Wahrscheinlich Scooby-Doo. Ob sie dann den Trickzeichner antanzen lässt?

»... glauben Sie mir, so hat damals der Holocaust begonnen.«

Ach ja? Und ich hatte immer den Eindruck, dass der Holocaust mit einem wahnsinnigen Massenmörder begann, der seine Anhänger davon überzeugte, dass Juden eine minderwertige Rasse sind – und nicht mit einer Fünfjährigen, die auf dem Schulhof fröhlich »Gefilte Fish« ruft. Aber wer ist hier die verdammte Lehrerin? Und was weiß ich schon über Geschichte?

Mir hat es die Sprache verschlagen. Einerseits vor lauter Ungläubigkeit, andererseits aus Angst, das alles, was ich sage, verdreht und gegen mich verwendet wird.

»Wir müssen Sie bitten, mit Molly ein ernstes Wort zu reden«, teilt Mrs Gottfried mir mit.

»Ich weiß nicht ... Das kommt mir alles ein bisschen ...« Mir liegt »verrückt« auf der Zunge, aber ich beende den Satz nicht.

»Falls Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, bleibt mir keine andere Wahl, als den Rektor zu verständigen ... und eventuell auch das Jugendamt.«

»Das Jugendamt?«

»Es handelt sich hier um eine sehr ernste Angelegenheit. Und sie betrifft nicht nur Molly.«

»Etwa Thomas auch? Warum, was hat er gesagt?«

»Nicht Thomas, Mrs Clark ... sondern Sie. Offenbar haben Sie auch schon gestern bei dem Treffen der Elterninitiative ein Wort benutzt, das ... ein bisschen unglücklich gewählt war.«

»Wovon reden Sie?«, frage ich, obwohl ich sofort weiß, was sie meint. »Mrs Gottfried, eine Person als Latino zu bezeichnen, ist nicht –«

»Bitte, Mrs Clark, es heißt afro-karibisch.«

Himmel, das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe. Warum tue ich mir das überhaupt an? Schließlich ist das hier mein neues Ich. Mein neues Ich, das demnächst vor mächtigen Filmbossen vorsprechen wird (obwohl man besser über den Umstand hinwegsieht, dass es sich um die Rolle eines brutalen Fanatikers handelt). Und mein neues Ich lässt es sich nicht gefallen, dass meine süße, unschuldige Tochter als Rassistin bezeichnet wird.

»Wie viele afro-karibische Menschen kennen Sie persönlich?«, frage ich.

»Ich glaube nicht, dass das hier rele–«

»Sorry, Mrs Gottfried, und ob das relevant ist«, falle ich ihr ins Wort, da ich nun nicht mehr zu bremsen bin. »Die Familie meiner besten Schulfreundin stammte aus Jamaika, und ich bin praktisch von ihrer Mutter erzogen worden. Wir machten ständig Witze über die Unterschiede zwischen Jamaikanern und Engländern – das Essen, die Sprache –, und wir waren nicht rassistisch. Ich weiß, was Rassismus ist. Die National Front war bei uns in der Nachbarschaft sehr aktiv, daher weiß ich, wovon ich rede. Und ich wehre mich dagegen, dass meine Kinder oder ich als Rassisten bezeichnet werden.«

Es ist eine große Rede, aber ich habe tatsächlich ein wenig Ahnung von der Sache. Ich habe im multikulturellen England gelebt, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden wurde. Allein auf unserer Straße wurden fünfzehn verschiedene Sprachen gesprochen. Ich bin sicher, wenn ich in einer feinen Gegend wie dieser hier aufgewachsen wäre, hätte ich nie Karriere als Stimmenimitatorin gemacht. Gut, ich habe natürlich auch ein gewisses Talent dazu, aber die Tatsache, dass ich ständig von fünfzehn verschiedenen Sprachen und tausend verschiedenen Akzenten und Dialekten umgeben war, hat sicher entscheidend dazu beigetragen. Meine beiden Freundinnen damals, Chanda und Amita, konnten nicht genug von meinen Darbietungen bekommen. »Komm schon, mach Rasheed nach, wenn er wütend ist«, forderten sie mich auf, oder »Hey, mach mal Mr Patel nach, wenn wir ihm seine Bonbons klauen ... Bitte!«

Meine andere Freundin Sharon lebte mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder David zusammen. Sharon und ich stürmten manchmal Davids Zimmer und nervten ihn so lange, bis er brüllte, wir sollen uns verpissen, worauf seine Mutter ebenfalls anfing zu brüllen: »David, verflucht, leg gefälligst ein bisschen mehr Reschpäkt an den Tag und lass die Mädchen in Frieden, sonst komme ich und versohle dir deinen schwarzen Hintern, verstanden?«

Gott, hier würde man mit so einer Sprache am Galgen enden.

Sharon liebte es, wenn ich ihre Mutter (siehe oben) oder ihren Bruder (»Fuck off, du dämliches Kleinkind«) nachahmte. Dann entdeckte Sharons Mutter eines Tages mein Talent und bat mich, ihre Schwester zu imitieren, die bei jedem Besuch riesige Töpfe voller Essen mitbrachte. Und während sich Sharons Mutter kaputtlachte, wurde es Amita, Chanda und Sharon langweilig, und sie verzogen sich auf die Straße zum Spielen, ohne mich.

Aber das war eine andere Zeit. Und ein anderer Ort.

In diesem Raum sind multikulturelle Witze nicht erlaubt. Ich kann nur bekräftigen, was ich ganz sicher weiß. »Wir sind keine Rassisten, Mrs Gottfried. So einfach ist das.«

Mrs Gottfried stößt einen tiefen Seufzer aus. »Das behaupte ich auch nicht, Mrs Clark.«

»Was behaupten Sie dann?«

»Dass Mollys Verhalten auf dem Schulhof nicht angemessen ist und Sie daher mit ihr reden müssen.«

Sie hat mir überhaupt nicht zugehört. »Molly ist nicht rassistisch«, wiederhole ich und stehe auf, der Diskussion überdrüssig. Ich kann Mrs Gottfrieds Antwort nicht hören, weil ich die Tür – sehr laut – hinter mir zuknalle.