8
Der Umstand, dass ich eine Sonnenbrille trage, hat rein gar nichts mit der Sonne zu tun, die sich heute ohnehin nicht zeigt. Vielmehr ist dies einzig und allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass ich gestern mehr Alkohol getrunken habe, als gut für mich ist.
Ich habe ein Glas Wein noch nie als Problem betrachtet. Wenn ein Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt und sagt: »Ich brauche einen Drink, Liebling«, ist das dann etwas anderes, als wenn eine Mutter – sprich: ich – sich abends ein Gläschen Wein genehmigt, weil ihre Füße sie umbringen? Für mich hat das nie einen Unterschied gemacht.
Aber heute Morgen bedauere ich, dass ich mir am Wochenende die Kante gegeben habe.
Allerdings war das gestern auch ein Ausnahmefall. Gilt das als Entschuldigung? Immerhin bin ich von meinem Ehemann verlassen worden. Welche Frau würde ihren Kummer da nicht in Alkohol ertränken?
Um sieben heute Morgen habe ich Molly das Frühstück gemacht. Ich war zwar körperlich in der Küche, aber geistig war ich ganz woanders. Ich dachte ständig über Richard nach.
Richard hat jahrelang über mich nachgedacht. Sogar mehr als das, er ist auch aktiv geworden. Er hat viel Zeit und Mühe geopfert, um mich aus meinem Loch herauszuholen. Bestes Beispiel: die Party. Oder der Aufnahmetermin, zu dem ich nicht erschienen bin. Und das sind nur die jüngsten Beispiele aus einer langen Reihe. Selbst in meinen schlimmsten depressiven Phasen war mir immer bewusst, dass Richard sich bemüht ...
Warum habe ich nie reagiert – nicht ein einziges Mal –, wenn er Versprechungen einforderte, wenn er versuchte, mich dazu zu bringen, wieder in meinen alten Beruf einzusteigen, wenn er mich mit einem kinderfreien Wochenende überraschte oder wenn er alte, in Vergessenheit geratene Freunde anrief, um nach langer Zeit ein Treffen zu arrangieren, weil ich zu schüchtern war, um selbst anzurufen?
Gott, es musste ja so kommen. Ich habe Richard vertrieben, ich und sonst keiner.
Ich fühle mich erbärmlich. Ich habe erst reagiert, als ich mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass mein Mann in die Arme einer anderen Frau geflüchtet ist, weil er es mit mir nicht mehr aushält. Ja, und wie ich reagiert habe! Ich habe mich noch mehr hängen lassen. Ich weiß nicht, wer sich gestern Abend in meiner Küche hat voll laufen lassen, ich war es jedenfalls nicht.
Aber wenn ich das nicht war, woher zum Teufel habe ich dann diesen schlimmen Kater?
Mollys Geplapper auf dem Weg zur Schule dröhnt in meinem Kopf wie ein Presslufthammer. Und jetzt streift mich auch noch etwas schmerzhaft am Fußknöchel.
»Oh mein Gott, schon wieder!«, ruft eine Stimme.
Ich drehe den Kopf und sehe Natashas Doppelbuggy beziehungsweise ihr Frühstückscafé und unterdrücke im letzten Moment einen Schmerzensschrei. Wie schon einmal.
»Es tut mir furchtbar leid. Alles okay?«, fragt Natasha, nachdem sie abrupt stehen geblieben ist.
»Keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Wie geht’s?«
»Ach, wissen Sie, der übliche Wahnsinn!«, entgegnet Natasha mit funkelndem Blick hinter getuschten Wimpern und lacht dabei fröhlich, während sie einen alles andere als wahnsinnigen Eindruck macht.
Heute sieht sie sogar besonders umwerfend aus. Sie trägt einen ganz dezenten Lipgloss anstelle des schokobraunen Lippenstifts der vergangenen Woche. Und statt Jimmy Choos hat sie heute gelbe – gelbe! – Espadrilles an. Die Farbe passt gut zu ihrem limonengrünen Diesel-Rock, den sie auch auf der Geburtstagsfeier von Fabian anhatte ...
Erstaunlich. Ich kann mich nicht erinnern, wann mein Mann mich das letzte Mal zum Lachen gebracht hat, aber dafür weiß ich noch ganz genau, was diese Frau an den einzelnen Tagen anhatte. Scheiße! Dabei fällt mir siedendheiß ein, dass ich beinahe etwas vergessen hätte. Nämlich Ron anzurufen, den Fußballscout, damit Thomas’ Gebete endlich erhört werden. Ich nehme mir fest vor, das heute noch zu erledigen.
»Tolle Brille, ist auch bei Rockstars beliebt«, bemerkt Natasha und reißt mich wieder zurück in die Gegenwart. »Immer noch Nachwehen von Samstagabend? Ich habe gehört, Ihre Geburtstagsfeier war ein Riesenhit.«
»Oh, woher wissen Sie das?«, frage ich erstaunt.
»Tja, meinen Augen und Ohren entgeht eben nichts«, erwidert Natasha lachend. »Nein, das war ein Scherz. Ich bin mit Amanda und Adam befreundet.«
Ich blicke sie verständnislos an.
»Adam, der Werbedesigner. Er arbeitet in derselben Firma wie Ihr Mann. Jedenfalls waren er und Amanda gestern bei uns und haben von der Party berichtet.«
Wer zum Geier sind Amanda und Adam? Nun, offenbar waren sie meine Gäste am Samstag. Aber was haben sie mitbekommen? Haben sie die Anspannung zwischen Richard und mir bemerkt? Ist ihnen aufgefallen, dass das Geburtstagskind stockbesoffen war und von allen links liegen gelassen wurde? Oh Gott, und wie unhöflich ich war. Vor allem zu Chris. Zu wem noch? Vielleicht auch zu diesem Adam? Hatten er und Amanda sich an Natashas Sonntagstisch in allen Details über die Party ausgelassen? Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf steigt, was wiederum meine Wangen zum Glühen bringt und das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf nur noch verschlimmert.
»Und?«, fragt Natasha. »War die Party denn so toll, wie die beiden sagen? Ich deute die Sonnenbrille als ein Ja, oder etwa nicht?«
»Oh, Sie wissen ja, wie das ist. Früher habe ich den Alkohol besser vertragen«, entgegne ich, was, wenn man genauer darüber nachdenkt, die absolute und volle Wahrheit ist.
Ich sage mir, dass ich ganz ruhig bleiben muss. Ich sage mir, dass Natasha kaum versucht hätte, mich einzuholen, wenn dieser Adam und diese Amanda mich durch den Dreck gezogen hätten. Es funktioniert, und ich spüre, wie sich mein Herzschlag wieder beruhigt.
»Sagen Sie, haben Sie heute Nachmittag schon etwas vor?«, fragt Natasha mich unvermittelt. »Wenn Sie Lust haben, können Sie mich gerne mit Ihren Kindern besuchen. Ich glaube, es soll richtig schönes Wetter geben.«
Inzwischen haben wir das Schultor erreicht, und ich überlege, ob ich Natashas Einladung dankend ablehnen soll. Thomas sprintet wie immer los, um noch ein bisschen herumzukicken. Allerdings bleiben ihm nur wenige Sekunden, bis die Schulglocke läutet und seine Freiheit beendet ist.
Sie denken, das Spiel ist aus ...
Aber Thomas könnte selbst in diesen wenigen Sekunden drei Tore schießen.
»Na, was meinen Sie?«, lässt Natasha nicht locker. »Die Kinder können im Garten spielen und wir in aller Ruhe plaudern.«
»Bitte, Mummy, sag Ja«, sagt Molly neben mir in flehendem Ton. »Fabian hat ein Baumhaus. Bitte, lass uns hingehen!«
»Großartig«, sagt Natasha, bevor ich einen Rückzieher machen kann. »Dann kommen Sie doch einfach so gegen vier. Ich werde für uns einen leckeren Drink vorbereiten.« Sie zwinkert Molly zu. »Einen ganz leckeren Fruchtsaft. Ist Erdbeergeschmack okay?«
»Hurraaa, Erdbeer!«, ruft Molly begeistert, bevor sie zu ihrem Klassenzimmer rennt und mir vorher noch rasch eine Kusshand zuwirft.
Als ich den Schulhof verlasse, stehe ich noch mehr neben mir als zuvor. Sureya muss mich am Arm festhalten, um sich bemerkbar zu machen. »Fran, ich habe dich schon mehrmals gerufen«, sagt sie, leicht außer Atem, nachdem sie mir hinterhergerannt ist, um mich zu erwischen.
»Sorry, ich habe dich nicht gehört.« Ich versuche zu lächeln. »Wie geht es dir?«
Sureya runzelt die Stirn und sieht mich mit leicht besorgtem Blick an. »Fran, du und Richard, ihr beide habt am Samstag so einen harmonischen Eindruck gemacht. Was soll also die Sonnenbrille? Was ist los?«
Freundinnen. Normalerweise bin ich froh, eine Freundin wie Sureya zu haben. Aber heute nicht. Heute bin ich froh, mich wieder in meine Mutter zu verwandeln, und am liebsten würde ich Sureyas freundliches, schönes, besorgtes Gesicht weit von mir wegschieben. »Nichts, alles okay.« Ich schenke ihr ein strahlendes Lächeln. Große Schauspielkunst. »Ich muss nur nach Hause und eine Mütze voll Schlaf nachholen.«
»Fran ... Ich finde, wir sollten reden.«
»Absolut. Am besten noch diese Woche. Wie wär’s mit morgen?«
»Da kann ich nicht. Wir fahren nach Bath zu Michaels Eltern.« Sie spricht nicht weiter. Ich auch nicht. »Okay, Fran, dann reden wir, wenn ich wieder zurück bin. Ich muss dir dringend etwas erzählen.«
Oh. Sie will mir also etwas erzählen. Und ich dachte, sie will mir die Leviten lesen, wie Summer das regelmäßig tut. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Die immer fröhliche, selbstlose, süße Sureya. Und ich, die Dauerbelastung.
Sie mustert mich genauer. »Bist du sicher, dass alles okay ist?«
»Natürlich.«
Ich weiß zwar nicht, ob sie mir das abkauft, aber wichtig ist nur, dass sie das Thema fallen lässt. Wir plaudern ein wenig über dies und das. Sie bittet mich, während ihrer Abwesenheit ihre Taniswurzel zu gießen oder was für ein Kraut sie auch immer züchtet. Ehrlich, ich mache mir Gedanken. Sureya hat sich zu oft Rosemarys Baby angesehen, und in ihrem Gewächshaus riecht es auch immer so komisch. Vielleicht sollte ich nach einem geheimen Durchgang hinter einer geheimen Wand in einem geheimen Schrank suchen, wenn ich mal wieder bei ihr bin ...
»Wir werden nur ein paar Tage weg sein. Ich rufe dich an, sobald ich wieder da bin«, sagt Sureya. »Und du bist dir auch ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja«, lüge ich erneut.
Und erneut lässt Sureya das Thema fallen.
Seltsam. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.
Als ich die Haustür öffne, höre ich das Telefon klingeln.
»Hi, ich bin’s«, meldet sich Richard.
Der Klang seiner Stimme überwältigt mich so sehr, dass ich zunächst kein Wort herausbringe.
»Mein Flug wird jeden Moment aufgerufen, aber ich hatte das Bedürfnis, mich vorher noch mal bei dir zu melden.«
Mein Herz klopft erneut schneller. Ich möchte etwas Nettes sagen. Ich will nicht verzweifelt oder hilflos klingen. Nur nett.
»Ist sie bei dir? Steht sie neben dir und hört mit?«
Ich wollte das nicht sagen.
»Sei nicht albern, Ich bin alleine. Ich wollte nur –«
»Aber sie ist mit dir am Flughafen, nicht? Sie wartet auf dich, um mit dir an Bord zu gehen, oder?«
»Bitte, hör auf damit –«
»Sie ist doch da, oder?«
»Ja. Ja, sie ist hier. Und auch Grant und Susan, meine Mitarbeiter. Das ist eine Geschäftsreise, Fran, und kein romantischer Kurztrip ...«
Gut, sie ist also da. Das dachte ich mir schon. Und ich will immer noch etwas Nettes sagen.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, kommt Richard mir zuvor.
»Warum denn?«, erwidere ich scharf. »Schließlich bin ich nicht mehr dein Problem, oder?«
Ein Seufzer ... ein langer, tiefer Stoßseufzer. »Geht es den Kindern gut?«
»Ja, den Kindern geht es gut. Sie glauben, du bist auf Geschäftsreise. Sie brauchen ja nicht zu wissen, was für Geschäfte du mit deiner Kundin treibst.« Und ich liebe dich, Richard. Habe ich dir das in letzter Zeit gesagt?
Schweigen. Noch ein Seufzer. Aber dieses Mal von mir.
»Tut mir leid«, sage ich schließlich – netter geht im Moment wirklich nicht.
Ich hatte die Andere im hintersten Winkel meines Gedächtnisses vergraben. Ich wollte mir keine Vorstellungen von ihr machen, zumal ich dazu neige, Dinge verzerrt zu betrachten. Aber jetzt habe ich nur die Andere vor Augen, und ich wünsche mir verzweifelt, dass ihr Bild mich wieder loslässt, weil ich gerade mit Richard telefoniere und doch einfach nur etwas Nettes sagen will.
»Tut mir leid«, entschuldige ich mich erneut. Was anderes fällt mir nicht ein. Etwas Nettes sagen ist gar nicht so einfach.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen ... Wenn sich hier einer entschuldigen muss, dann ich ... und nicht du. Deshalb rufe ich ja an. Wir müssen dringend reden wegen ...« Er verstummt.
»Wegen was, Richard?«, frage ich. Er klingt aufgewühlt und verletzlich, und das gibt mir einen winzigen Hoffnungsschimmer.
»Wegen dieser Geschichte. Wir müssen irgendwie ... ich weiß auch nicht, eine Lösung finden.«
»Was meinst du mit Lösung? Wie soll die denn aussehen?«
Ich stelle mich nicht begriffsstutzig. Ich verstehe wirklich nicht, was Richard meint. Er klingt, als würde er seinen Text ablesen. Vielleicht hat er sich am Flughafen einen Beziehungsratgeber gekauft. Es liegt nicht an dir, sondern an mir: Zehn einfache Methoden für den gestressten Manager, um die Ehefrau in den Wind zu schießen.
»Keine Ahnung«, antwortet Richard in leicht frustriertem Ton. »Aber wir müssen zum Beispiel eine Lösung finden, wann ich die Kinder sehen darf.«
Tja, was habe ich erwartet? Dass er anruft, um sich mit mir zu versöhnen? Um mir zu sagen, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hat? Das ist kein Versöhnungsanruf. Er ist auf dem Flughafen zusammen mit seiner Geliebten, Herrgott noch mal.
»Was hast du den Kindern gesagt?«, fragt Richard.
»Ich habe sie gegen dich aufgehetzt, wenn du das hören willst.«
»So meinte ich das nicht. Hör mal, am besten, du sagst ihnen gar nichts. Jedenfalls nicht bis ...«
»Bis was?«
»Bis wir, du weißt schon, geredet haben ...«
Dabei kommt mir ein Gedanke. Vielleicht brauche ich Thomas und Molly gar nicht zu sagen, dass ihr Vater weg ist. Bisher haben sie nicht nach ihm gefragt. Warum sollten sie auch? Er ist schließlich ständig unterwegs. Geschäftlich.
»Ich weiß, du hasst mich jetzt sicher, Fran ...«
Das ist richtig. Aber ich hasse dich nur, weil ich dich liebe.
»... und ich kann dir auch keinen Vorwurf daraus machen. Aber ich bin nicht so ein mieses Schwein, wie du denkst. Gut, mir ist diese Geschichte passiert, aber zwischen dir und mir hat es doch schon viel länger gekriselt. Lange, bevor Bel und ich ...«
Es ist wie ein Schlag in die Magengrube. Statt Fran und ich heißt es jetzt Bel und ich. Ist es so einfach, nach all den Jahren? Braucht man nur den Namen auszutauschen?
»Wir müssen darüber reden, wie es in Zukunft weitergehen soll.«
Richtig. Eine Lösung finden.
»Musst du nicht deinen Flieger kriegen?«, frage ich.
Ich will nicht darüber reden, wie es weitergehen soll. Ich möchte alles so lassen, wie es ist. Gut, momentan hängt zwar alles in der Schwebe, aber wenn ich dabei bleibe, bedeutet das, dass Richard noch bei mir ist. Und solange unsere Trennung nicht offiziell ist – solange ich es weder den Kindern noch meiner Mutter noch meinen Freundinnen erzähle –, bedeutet das, dass die Chance besteht, dass Richard zurückkommt. Das ist so. Ich bin mir dessen sicher.
»Leg jetzt auf, sonst verpasst du deinen Flug«, sage ich, nicht gehässig, aber entschieden. »Wir reden, wenn du wieder da bist.«
»Okay«, erwidert Richard langsam. »Es tut mir wirklich sehr leid, Fran. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Ich lege auf, bevor er herausfindet, wie sehr er mich verletzt hat.
Im Laufe des Tages klingelt öfter das Telefon, aber ich bin zu beschäftigt, um dranzugehen. Ich muss mich auf vier Dinge konzentrieren: im Bett liegen, qualmen, saufen und aus dem Fenster glotzen. Wie viele andere Frauen kann auch ich mehrere Dinge gleichzeitig. Allerdings habe ich mir das Denken verboten. Das weckt einfach zu viele schmerzhafte Erinnerungen. Ich klettere aus dem Bett und gehe nach unten. In der Diele bleibe ich vor dem Anrufbeantworter stehen und drücke auf »Play« ...
Summer möchte mit mir über ihre Schwangerschaft und einen gewissen Laurence – der Kerl, der sie geschwängert hat? – sprechen. Und noch was mit George Clooney – hoffentlich ist der nicht der Vater! Summers Nachricht ist sehr schlecht zu verstehen, aber immerhin kann ich durch das Rauschen heraushören, dass sie mit Phoebe Schluss gemacht hat. Und dass sie mich davor warnt, auf junge, durchgeknallte Stylistinnen mit einem überhitzten Lockenstab hereinzufallen ...
Es gibt noch weitere schlecht verständliche Nachrichten. Eine von der Bank, die mir irgendwas andrehen will, was ich nicht brauche. Eine von Ruby oder Wendy, die sich für die gelungene Party bedankt, und eine von einem Don oder Ron – apropos, sollte ich nicht einen Don oder Ron anrufen? Eine von meiner Mutter, die mir nochmals freudig versichert, wie gerne sie die Kinder nimmt, und eine von einer gewissen Isabel.
Isabel! Eine Mischung aus StarTrek und Die Waltons oder so ähnlich. Der Auftrag, den Richard mir aufschwatzen wollte.
Dabei kommt mir ein Gedanke. Vielleicht hat Richard nur deshalb versucht mich zu bewegen, wieder arbeiten zu gehen, weil er sein schlechtes Gewissen erleichtern wollte. Es dauert nicht lange, um mich von diesem Gedanken zu überzeugen. Ich hasse Richard, nicht weil ich ihn liebe, sondern weil ich ihn verabscheue.
Und ich hasse seine schicke doofe neue Tussi. Jetzt taucht auch mit aller Gewalt ihr Bild wieder vor mir auf, das ich vorhin so erfolgreich unterdrückt hatte. Sie hat eine Figur wie ein Topmodel, und wenn sie es mit Richard treibt, was häufig vorkommt, knistert die Luft vor ungezügelter, wilder Erotik, und das Licht bleibt an. Warum sollte eine Frau, die Gucci repräsentiert, beim Sex das Licht ausmachen? Und hinterher – selbst ein so leidenschaftliches Paar muss irgendwann eine Pause einlegen – steckt sie sich eine Zigarette an, was ihre von Natur aus vollen Lippen nur noch sinnlicher wirken lässt, und Richard wedelt nicht genervt den Rauch von sich fort. Vielmehr liegt er neben ihr und saugt gierig ihren Geruch ein, ohne sich an dem Qualm zu stören.
Denken ist keine gute Idee. Ich muss ohnehin los. Die Kinder abholen. Und dann zu Natasha. Ich habe gerade noch Zeit, mein T-Shirt zu wechseln, weil das, das ich anhabe, vom vielen Herumliegen im Bett ganz zerknittert ist.
Ich eile rasch nach oben und ziehe ein frisches Oberteil an. Obwohl, ganz so frisch ist es nicht. Leider bemerke ich den Fleck erst, als ich mit den Kindern vor Natashas Tür stehe ...
»Halloooo!«, ruft Natasha fröhlich. »Kinder, ihr geht am besten direkt nach hinten durch in den Garten. Quinn ist oben im Baumhaus, Thomas. Geh ihn mal besuchen.«
Molly flitzt sofort los, während Thomas mit hochgezogenen Schultern gemächlich hinterhertrottet. Da Quinn eine Klasse unter Thomas ist und folglich noch ein Baby, hat mein Sohn auf ihn genauso viel Lust wie auf das Baumhaus – nämlich null.
»Setzen wir uns nach draußen«, schlägt Natasha vor und führt mich durch eine große Küche auf die Terrasse.
Draußen sehe ich als Erstes Thomas, dem schier die Augen aus dem Kopf fallen. Der Garten ist so groß wie ein Fußballplatz, und ganz hinten steht sogar ein richtiges Fußballtor. Thomas wird hier klarkommen.
»Wir können uns dort drüben auf der Bank in die Sonne setzen, oder wir bleiben hier auf der Terrasse im Schatten«, sagt Natasha. »Sie können es sich aussuchen.«
Ich entscheide mich für die Terrasse und setze mich an einen großen Tisch aus Teakholz unter einen riesigen Sonnenschirm. Ich sehe Natasha hinterher, die wieder in der Küche verschwindet, um die Getränke zu holen. Dabei fällt mir auf, dass sie die Espadrilles von heute Morgen gegen bequeme Birkenstock-Latschen getauscht hat – in Hellblau, passend zu dem Jeans-Minirock, den sie jetzt trägt. Wieder ertappe ich mich dabei, dass ich sie bewundere. Diese Frau schafft es sogar, mehrmals am Tag ihre Garderobe zu wechseln.
Jetzt bin ich doch froh, dass ich hier bin. Je weniger Zeit ich habe, mich mit meiner eigenen Gesellschaft herumzuquälen, desto besser. Seit wir hier wohnen, bin ich von Frauen umgeben, die all das sind, was ich nicht bin – beispielsweise Cassie und Annabel, um nur zwei zu nennen. Aber Natasha ist anders. Sie ist zwar auch alles, was ich nicht bin, aber bei ihr ist das zur Abwechslung einmal ganz erfrischend.
Natasha kehrt mit einem Krug Pimm’s zurück. Das ist in Ordnung. Pimm’s ist ja kein richtiger Alkohol, bloß ein Erfrischungsgetränk für Erwachsene. Natasha schenkt zwei Gläser ein und reicht mir eins. »Auf die letzten Sonnenstrahlen, die wir in diesem Jahr wohl zu sehen bekommen. Cheers!«
Wir stoßen an, und ich trinke einen ganz kleinen Schluck von der prickelnden Brause.
»Ich hole uns noch was zu knabbern«, sagt Natasha. »Und danach können Sie mir von der Party berichten.«
Bei dem Wort »Party« versteife ich mich leicht. Mag ja sein, dass es früher mein Beruf war, in Rollen zu schlüpfen, aber mir spontan etwas aus den Fingern zu saugen, um die schlimmste Nacht meines Lebens schönzureden, ist mir doch eine Nummer zu groß. Dennoch zwinge ich mich innerlich zur Ruhe. Ich verdränge die schreckliche Erinnerung an Samstagabend, indem ich meine Umgebung betrachte. Natashas Haus ist riesig, mit einer Vorder- und einer Hinterveranda. In so einer Villa hält man als Gast sein Staunen tunlichst zurück, um sich keine Blöße zu geben.
Ich lasse den Blick über den Garten schweifen. Molly klettert gerade hinter Fabian die Leiter zum Baumhaus hoch, das allein schon groß genug ist, um für eine sechsstellige Summe von einem Immobilienmakler angeboten zu werden. Quinn und Trist beugen sich oben aus den Fenstern und blicken auf Thomas herab. Sie zählen laut: »Sechsundzwanzig ... siebenundzwanzig ... achtundzwanzig ...« Sie werden zählen, bis sie heiser sind – Thomas ist nämlich einsame Spitze im Balljonglieren. Es kann Stunden dauern, bis er den Ball auf den Boden fallen lässt.
Im Moment – mit seinem besten Freund am Fuß und ehrfürchtig staunenden Zuschauern auf der Haupttribüne – gibt Thomas sein Bestes, und das gibt mir wiederum Hoffnung. Sowohl für ihn als auch für mich.
»Hier, probieren Sie. Die sind einfach göttlich«, sagt Natasha, die in diesem Moment mit einer Schüssel Oliven zurückkehrt. »Ja, stellen Sie es einfach dorthin, Anna, danke.«
Ein junges Mädchen mit kurzen Haaren und gepiercter Braue, stellt ein Tablett mit einer Auswahl an Chips und Nüssen auf den Tisch und verschwindet dann wieder wortlos im Haus.
»Anna ist eine große Hilfe«, raunt Natasha mir zu. »Sie ist Tschechin. Ich wüsste nicht, was wir ohne sie täten. Oder doch. Meine Kinder würden sicher verhungern. Anna ist unsere Lebensretterin. Und durch sie habe ich meine Hilfsgärtnerin gefunden, die den grünsten aller Daumen hat.« Sie hält ihre erstklassig manikürten Hände hoch. »Dagegen sondert mein Daumen höchstwahrscheinlich Gift ab, weil alle Pflanzen sterben, die mit ihm in Berührung kommen.«
Natasha hat also Personal. Mindestens zwei Leute, wenn nicht sogar mehr. Vielleicht noch einen Butler? Einen persönlichen Sekretär? Einen Kissenaufschüttler? Natasha hat Hausangestellte, sie wechselt mehrmals täglich ihre Garderobe, sie ist anscheinend so eine Art Vorstadt-Britney-Spears.
Hör auf damit, Fran. Ich hätte ebenfalls eine Haushaltshilfe oder ein Au-pair-Mädchen haben können. Oder sogar einen Kissenaufschüttler. Aber aus irgendeinem Grund habe ich das nie in Anspruch genommen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mit etwas Unterstützung auch die Zeit gehabt hätte, mich um mein Leben zu kümmern. Natasha ist ein gutes Beispiel dafür, dass das funktionieren kann.
Es ist nie zu spät, tröste ich mich. Ich muss an das Telefonat mit Richard denken. Vielleicht könnte die Lösung, die er sich für uns vorstellt, Hauspersonal beinhalten. Mit Unterstützung einer Stylistin und eines Kochs könnte ich meinen Mann mit wechselnder Tagesgarderobe und kulinarischen Leckereien nach Hause locken. Das ist mein voller Ernst. BEI NATASHA FUNKTIONIERT ES AUCH. Ich kann das nicht oft genug betonen.
»Neunundachtzig ... neunzig ...«, skandieren Quinn, Molly, Fabian und Trist im Baumhaus. Thomas zeigt erste Ermüdungserscheinungen, aber er gibt nicht auf. Und ich auch nicht.
Es ist noch alles drin.
Die Sonne strahlt am Nachmittagshimmel, Natasha scheint mich sympathisch zu finden, und die Kinder haben ihren Spaß. Ich bin mir sicher, dass Richard und ich gemeinsam einen Weg finden werden.
Ich bin mir ganz sicher.
»Sie haben ein wundervolles Haus, Natasha. Und Sie sehen immer tipptopp gestylt aus. Als würde Sie das alles nicht die geringste Mühe kosten.« Ich sage das ohne jegliche Verbitterung, weil ich keine empfinde.
»Papperlapapp. Ich habe eher den Eindruck, das trifft auf Sie zu.«
Ich will ihr entgegnen, dass es durchaus stimmt, dass ich mir nicht die geringste Mühe gebe, aber sie lässt mich nicht.
»Und was mich betrifft«, fährt sie fort, »ich sehe aus, als wäre ich einem blinden Stylisten in die Hände gefallen. Richtig zum Fürchten.«
Ihre Halskette passt zu ihrem Armband, und die Farbe ihres Haarbands passt zu der Farbe ihres Oberteils. Wo sieht sie denn zum Fürchten aus? An den Ohren? Nun, ich erspähe in der Tat einen Leberfleck auf ihrem Ohrläppchen. Vielleicht ist das ja ihr Problem.
»Vermissen Sie eigentlich Ihren früheren Beruf?«, frage ich.
Natasha lacht. »Als Verkäuferin? Warum sollte ich den vermissen? Nein, ich bin mit all dem hier schon genug ausgelastet.« Sie macht eine ausladende Geste, die das Haus, den Garten und die Ansammlung von Söhnen umfasst. »Aber an Ihrer Stelle würde ich meinen Beruf schon vermissen«, sagt sie weiter. »Sie waren früher Stimmenimitatorin, nicht wahr?«
»Ja, so ähnlich«, entgegne ich, wobei ich mich frage, wie sich das bis zu Natasha herumgesprochen hat. »Ich überlege zurzeit, ob ich wieder in meinen alten Beruf einsteigen soll.«
»Fantastische Idee. Was hindert Sie noch daran?«
Gute Frage. Es ist mir schon nicht gelungen, Richard darauf eine befriedigende Antwort zu geben. Wie soll es mir also jetzt gelingen?
»Ach, wissen Sie, die Kinder nehmen mich ganz schön in Anspruch. Sie kennen das sicher selbst«, verstecke ich mich hinter der praktischsten Ausrede, die es für eine Frau gibt.
»Unsinn!«, ruft Natasha. »Besorgen Sie sich ein Au-pair-Mädchen, und Ihrer Karriere steht nichts mehr im Wege«, sagt sie lachend.
Das waren auch Summers Worte, wenn ich mich recht erinnere.
Natasha füllt erneut mein Glas, das irgendwie leer ist. Typisch Pimm’s: Der rinnt einem einfach so durch die Kehle – obwohl Natashas Glas noch ziemlich voll ist, wie mir auffällt.
»Sie sollten wirklich wieder einsteigen, wenn das Ihr Wunsch ist. Adam hat mir erzählt, dass Richard Sie in diesem Punkt hundertprozentig unterstützt.«
»Oh ja, das tut er«, erwidere ich, wobei ich wünschte, ich könnte mich an diesen Adam erinnern.
»Das sollte er auch. Die Männer haben nämlich immer leicht reden. Sie verschwinden den ganzen Tag im Büro und tun auch noch so, als wäre es anstrengend, eine Sekretärin zu haben. Wenn Sie mich fragen, ist das hier der anstrengendere Part. Zu Hause bleiben und die Kinder großziehen und den alltäglichen Trott bewältigen.«
»Finden Sie wirklich?«, frage ich, während neue Hoffnung in mir aufkeimt. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die Schwierigkeiten hat, sich in der Mutterrolle zurechtzufinden.
»Zum Teufel, ja.« Natasha nickt. »Die Männer sind nie zu Hause, und wenn sie doch mal da sind, dann erwarten sie von uns, dass wir ihnen den Arsch hinterhertragen, ohne dass es sie kümmert, was wir für einen Tag hinter uns haben. Männer sind Egoisten.« Sie schließt die Augen und schüttelt sich leicht. »Eben Männer, nicht wahr?«
Ich bin fast sprachlos. Wie kann jemand, der so selbstbewusst wirkt, sich unterdrückt fühlen? Einerseits denke ich, dass Natasha etwas zu sehr verwöhnt ist. Hätte ihr Mann nicht so einen gut bezahlten Job, gäbe es keinen großen Garten mit einem Baumhaus und auch keine Kompanie von Kissenaufschüttlern oder was auch immer. Aber andererseits bin ich davon überzeugt, dass Natasha und ich gar nicht so verschieden sind.
Bevor ich ihr meine volle Zustimmung geben kann, fährt sie in gereiztem Tonfall fort: »Aber was schimpfe ich über die Männer? Was ist denn mit den Frauen hier? Zum Beispiel Cassie. Hat die mir doch tatsächlich die blöden Hüte aufs Auge gedrückt!«
Mein Herz setzt einen Moment lang aus. »Was meinen Sie damit?« Noch während ich die Frage stelle, glaube ich, die Antwort bereits zu kennen.
»Ich darf die Hüte für die Weihnachtsaufführung basteln. Ehrlich gesagt, stinkt mir das gewaltig. Ist dieser Frau eigentlich nicht klar, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mich um den verdammten Zauberer von Oz zu kümmern?«
Cassie muss es sich offenbar anders überlegt haben, gleich nach dem sie mich wegen der Hüte gefragt hatte. Immerhin hat sie nicht viel Zeit verloren, um den Job jemand anderem zu geben, oder? So ist das also. Ich bin nicht einmal fähig, einen blöden, popligen, ehrenamtlichen Auftrag zu behalten. Warum zum Teufel verschwende ich überhaupt einen Gedanken daran, wieder einer bezahlten Arbeit nachzugehen? Aber ich wollte diese dummen Hüte sowieso nicht machen. Warum versetzt es mir dann einen Stich, dass ich ausgebootet wurde?
»Diese verfluchte Cassie. Offenbar steht auf meiner Stirn groß und fett geschrieben: ›Gutmütiger Trottel‹. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wie ich das mit den Hüten rechtzeitig schaffen soll«, sagt Natasha lachend, wie immer, wenn sie spricht.
Ich muss an all die berufstätigen Mütter denken, die sich nicht nur mit so einem Mist herumplagen müssen, sondern zusätzlich auch noch mit ihrem Job. Ich meine nicht die Sorte Mütter, die nebenher arbeitet, um sich selbst zu verwirklichen, und die trotzdem noch genügend Zeit für ihre Kinder hat. Sondern die Sorte, die fünfzig bis sechzig Stunden in der Woche schuftet, damit ihre Kinder Schuhe zum Anziehen haben. Ich hatte mal so eine Mutter.
Natasha repräsentiert eine Welt, der ich damals, Anfang zwanzig, als ich noch nicht lange von Bethnal Green weg war, nichts Positives abgewinnen konnte. Was ich mit meinen Stimmen zum Ausdruck brachte, die alle lustig fanden, sogar die Imitierten selbst. Aber heute sehe ich das anders. Mittlerweile bin ich erwachsen und trinke Pimm’s bei einer reichen Bekannten, die unter anderem ein Baumhaus besitzt, in das meine Mutter und ich vor fünfundzwanzig Jahren mit Freude eingezogen wären, weil es für uns eine Verbesserung unserer Wohnsituation bedeutet hätte. Natasha hat offenbar kein Problem damit, sich mit mir anzufreunden, und dieses Gefühl tröstet mich. Richard hat immer gesagt, dass ich leicht Kontakt schließe, dafür müsse ich nur vor die Tür gehen.
Richard.
Es ist noch alles drin ...
»Ja, ja, Cassie. Dabei fällt mir etwas ein«, sagt Natasha und nippt vorsichtig an ihrem Glas. »Morgen Vormittag trifft sich die Elterninitiative. Cassie sucht noch Freiwillige für das Herbstfest. Leider werde auch ich meinen Beitrag leisten müssen. Wieder einmal.« Sie stößt ein damenhaftes Stöhnen aus. »Hey, Sie könnten mich ja begleiten!«
»Ich?«
»Bitte, kommen Sie mit. Wenn Sie dabei sind, wird es viel lustiger. Mit wem soll ich denn sonst über die anderen lästern?«
Ich soll zu einem Treffen der AREI gehen? Mag ja sein, dass ich versuche, positiver zu denken, aber ich glaube, so weit bin ich noch nicht.
»Ich bin doch gar nicht eingeladen«, wende ich ein.
»Na und? Die freuen sich über jeden Freiwilligen.«
Ich bin mir wirklich nicht sicher. Irgendwie geht mir das zu schnell.
»Hinterher gibt es auch einen kleinen Umtrunk«, versucht Natasha mich zu locken.
Hätte sie das mal gleich gesagt. »Okay, ich komme mit.«
Natasha stößt einen kleinen Jubelschrei aus, und ich falle ein, wobei ich feststelle, dass ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten spontan reagiere.
»Einhundertneunundneunzig ... zweihundert!«, skandieren Quinn & Co.
Thomas lässt abschließend den Ball vom Kopf auf den Fuß fallen und drischt ihn mit einem satten Volleyschuss in die rechte obere Ecke des Tors in Echtgröße.
Als ich im Bett liege, spüre ich immer noch Hoffnung in mir.
Wir waren erst kurz nach sieben wieder zu Hause. Die Kinder konnten sich einfach nicht losreißen. Bei Molly wundert mich das nicht, sie ist überall glücklich. Man kann sie auf einer Müllkippe aussetzen, und sie macht daraus Neverland. Aber Thomas? Selbst Thomas wollte gar nicht mehr weg. Auf dem Weg nach Hause erzählte er mir von Quinn, der zwar ein ganzes Jahr jünger ist, in dem aber offenbar ein verborgenes Talent schlummert – und wer könnte das besser zutage fördern als mein Sohn, der Fußballtrainer? Gut, er war sehr ernst, und sein kleiner Körper war ganz angespannt, während er erzählte, aber, hey, er redete! Und das gleich, oh, bestimmt mehrere Minuten lang.
Ich erlebte, wie mein Sohn aus sich herausging. Ich konnte das vorhin ebenfalls. Die drei Stunden bei Natasha hatten mich meine ganzen Sorgen vergessen lassen. Und das hatte nichts mit den zwei Krügen Pimm’s zu tun, die Natasha und ich in den drei Stunden geleert haben ...
Als wir von Natasha aufbrachen, beschloss ich, mich nicht mehr länger von meinen ganzen Problemen herunterziehen zu lassen. Natürlich bin ich nicht so bescheuert zu glauben, dass das einfach ist. Schließlich habe ich große Probleme, angefangen bei meinem Ehemann, der mich verlassen hat, bis hin zu meiner Wenigkeit, die der Grund ist, weshalb er mich verlassen hat.
Aber es ist noch alles drin.
Obwohl Natasha mich kaum kennt, hat sie sich mir heute Nachmittag geöffnet. Es war ein gutes Gefühl, das Vertrauen eines anderen Menschen zu genießen. Und es war auch gut, nicht ständig über mich selbst nachzudenken, sondern zur Abwechslung mal über jemand anderen. Denn während ich vor meinem Schicksal kapituliere, nimmt Natasha ihres in die Hand – was wie einer von Sureyas Sprüchen klingt, aber was soll’s? Natasha lebt ihr Leben weiter. Mit einem Lächeln im Gesicht. Ich habe sie gefragt, was ihr Geheimnis ist. Ihre Antwort hat mich fast umgehauen.
»Prozac.«
Ganz richtig. Natashas Lächeln ist medikamentös!
Sie blickte in mein schockiertes Gesicht und lachte. »Das ist keine große Sache«, sagte sie. »Beziehungsweise doch. Prozac ist ein wahres Wundermittel. Man fühlt sich glücklich, aber immer noch wie man selbst ... falls das Sinn macht.«
Ich fühlte mich geehrt, weil Natasha mir etwas anvertraut hatte, was bislang nur sie und ihr Arzt wussten.
Und nun liege ich im Bett und fühle mich immer noch geehrt. Und inspiriert. Es ist wirklich höchste Zeit, dass ich mein Leben wieder in den Griff bekomme.
Gleich morgen werde ich Isabel anrufen wegen der Sprechrolle. Wo auch immer ich meinen Mumm in all den Jahren verlegt habe, ich werde ihn wiederfinden und dann das tun, was ich am besten kann: Stimmenimitationen. Das ist der erste Schritt.
Schritt zwei: Ich werde meinen Alkoholkonsum runterfahren, der, wie mir aufgefallen ist, in letzter Zeit etwas gestiegen ist. Heute habe ich bereits einen Anfang gemacht. Ich habe nämlich keinen Alkohol getrunken. Und bevor Sie etwas sagen, der Pimm’s zählt nicht.
Schritt drei: Ich werde mir Hauspersonal zulegen. Nun, das heißt, ich werde mir ein Au-pair-Mädchen besorgen. Es kann sich um die Kinder kümmern, wenn meine Karriere wieder ins Rollen kommt, und auch um den Haushalt, was mir die Zeit verschafft, mich meiner Schönheit zu widmen. Okay, ich weiß, würde ich Wert darauf legen, halbwegs anständig auszusehen, dann bräuchte ich dafür kein tschechisches, wenig gesprächiges Au-pair, das die ganze Zeit hier im Haus herumwuselt und mir ein schlechtes Gewissen macht, weil es an Heimweh leidet und gerade mal einen Hungerlohn bekommt ... Im Grunde habe ich gar keine Ahnung, wovon ich rede. Wer weiß schon, ob es mit einem Au-pair klappt; wichtig ist doch nur, dass es psychologisch betrachtet für mich ein Schritt nach vorn ist, fremde Hilfe anzunehmen. Und diesmal weiß ich, wovon ich rede, weil ich das in dem Klappentext des blöden Psychoratgebers gelesen habe, den Sureya mir zum Geburtstag geschenkt hat.
Und, Schritt vier, der größte: Sobald Richard aus Mailand zurück ist, müssen wir uns zusammensetzen und reden. Richard muss klar werden, dass die Gucci-Tussi nur ein dummer Ausrutscher ist und dass für unsere Ehe noch eine Chance besteht. Es wird nicht viel nötig sein, ihn davon zu überzeugen, weil ich vor seinem Erscheinen zwei Stunden damit zubringen werde, Make-up aufzutragen, meine Haare zu stylen und etwas zum Anziehen zu finden, das nicht nach Kleidergröße XL aussieht. (Offensichtlich sollte Schritt drei auch eine Diät beinhalten, aber Richard ist nur drei Tage weg, und ich bezweifle, dass ich in so kurzer Zeit zehn Kilo oder mehr abnehmen kann. Realistisch betrachtet, muss ich mich damit begnügen, mein Übergewicht mit der richtigen Kleidung zu kaschieren.)
Und schließlich Schritt fünf: Ich muss wieder Anschluss an die Außenwelt finden – jedenfalls zumindest an die Welt der Arlington-Road-Grundschule. Aber, wenn wir ehrlich sind, was gibt es schon für eine andere Welt? Das Treffen der Elterninitiative morgen wird der erste Schritt sein, um mein neues, proaktives Leben anzutesten.
Ich weiß, es hat zwar lange gedauert, aber jetzt bin ich bereit zu großen Veränderungen. Ich bin es leid, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie ich in dieses tiefe Loch fallen konnte. Ab jetzt lautet mein oberstes Ziel, endlich wieder herauszukriechen.
Natasha, du hast ja keine Ahnung, was du ins Rollen gebracht hast!