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Natasha ist ganz begeistert von meiner Küche. »Toll, wirklich«, schwärmt sie, da sie offenbar vergessen hat, dass meine Küche verglichen mit ihrer wie eine Mini-Kochnische aussieht. »Du hast den Raum optimal genutzt. Hast du die Küche selbst eingebaut?«

»Ja, zusammen mit meinem Mann. Wir haben sie vor fünf Jahren renoviert«, antworte ich stolz.

Wir waren ein gutes Team, Richard und ich. Und wir werden auch wieder eins sein.

Natasha und ich sitzen am Küchentisch, dessen Beine absichtlich auf antik getrimmt sind, um die Illusion zu wecken, dass im vorletzten Jahrhundert darauf noch auf echtem Silbergeschirr serviert wurde. Über unseren Köpfen hängt das komplette Kupferpfannenset, das mich auf dem Foto in House & Garden so begeistert hat. Es verleiht der Küche einen professionellen Touch, genau wie der Herd, der majestätisch an der Seite thront. Die Küche ist von Hand angefertigt, maßgeschneidert, hochmodern und voll ausgestattet, um jedes beliebige Gericht der Welt zu kochen.

Während ich hauptsächlich Fertiggerichte zustande bringe, kann Richard nämlich ganz fantastisch kochen. Als wir vor fünf Jahren das Haus komplett renovierten, trösteten wir uns während der ganzen Schufterei mit einem Traum. In dem Traum kochte Richard ein fantastisches Fischgericht, das er mit mediterranen Kräutern bestückte (jawohl, bestückte, nicht einfach nur achtlos darüber streute) und mit Balsamico, jawohl, beträufelte. Während Richard uns ein köstliches Essen zauberte, saß ich in einem wallenden Kleid aus Chiffon da und schaukelte mit einer Hand unsere kleine Molly in ihrer Babyschale, in der anderen Hand ein Glas Weißwein ...

Verstehen Sie, wir mussten dieses doofe Kupferpfannenset zum Aufhängen einfach haben. Sonst hätte sich unser Traum nicht erfüllen können.

Was aus dem Traum geworden ist? Nun, unser Baby schlief nie. Ich benutzte die Babyschale nicht mehr, nachdem ein neugieriger und verspielter (um nicht zu sagen eifersüchtiger und rachsüchtiger) Fünfjähriger sich einen Spaß daraus machte, seine kleine Schwester ständig herauszukippen. Ich besaß nie ein Kleid aus wallendem Chiffon, wozu auch, wenn ich drei Paar passende Leggings besitze? Und natürlich hat Richard uns nie irgendwelche Köstlichkeiten gezaubert, ob bestückt, beträufelt oder sonst wie be ... Das Einzige, was sich von dem Traum erfüllt hat, war das Glas Weißwein.

Im Moment steht wieder eins vor mir. Ich schicke mich an, Natashas Glas aufzufüllen, aber sie legt die Hand darüber.

»Danke, dass du mich zu dem Treffen der Elterninitiative eingeladen hast«, sage ich. »Das war sehr unterhaltsam.«

»Lügnerin, du hast dich zu Tode gelangweilt«, erwidert Natasha lachend. »Genau wie ich, um das mal zu sagen. Aber leider kann man sich nicht ständig vor solchen Dingen drücken, stimmt’s?«

Nein?

Zumindest dachte ich das mal.

Ich bin froh, dass ich Natasha zu mir eingeladen habe. Die Kinder spielen im Garten. Heute ist es ziemlich kühl draußen, weshalb wir uns entschieden haben, drinnen zu bleiben, im Gegensatz zu den Kindern, denen die Kälte beim Herumtoben nichts ausmacht.

»Mir gefällt deine Einrichtung wirklich sehr«, sagt Natasha und lässt begeistert den Blick durch die Küche schweifen; und ich glaube, sie meint es aufrichtig.

»Na ja, verglichen mit deiner Küche ist das hier eine Abstellkammer«, entgegne ich ebenso aufrichtig.

Natasha rümpft kurz die Nase. »Nun, letzten Endes ist alles nur Mauerwerk, nicht wahr? Ich würde jedenfalls gerne mit dir tauschen. Du hast einen Mann, der dich uneingeschränkt unterstützt. Allein darauf kommt es an.«

Ich spüre zwei Stiche. Der erste ist sehr schmerzhaft. Mein Mann ist nicht hier, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche. Der zweite Stich rührt an mein schlechtes Gewissen. Ich habe Natasha nicht erzählt, was passiert ist, und obwohl wir uns erst seit kurzem näher kennen, kommt es mir vor, als würde ich sie belügen, weil ich mich ihr nicht anvertraue.

»Du hast großes Glück, Fran«, sagt Natasha weiter. »Du hast eine Familie, die fest zusammengeschweißt ist.«

Ich beobachte Trist, Quinn und Fabian, die mit Molly draußen auf der Veranda spielen. Natashas Söhne mögen vielleicht bescheuerte Namen haben (so sympathisch ich Natasha auch finde, aber diese Namen sind unverzeihlich), doch immerhin spielen sie zusammen. Ich muss an Thomas denken, der oben alleine in seinem Zimmer vor seiner Playstation hockt, und frage mich, wie Natasha darauf kommt, dass unsere Familie fest zusammengeschweißt ist.

»Weißt du, ich genieße unsere gemeinsame Zeit sehr«, sagt Natasha.

»Geht mir genauso«, erwidere ich. »Warum haben wir uns eigentlich nicht schon früher zusammengetan?«

»Gute Frage. Aber jetzt haben wir es ja geschafft, also machen wir das Beste daraus.«

Wir stoßen mit unseren Gläsern an, und ich trinke einen großen Schluck. Ich bemerke, dass Natashas Lippen kaum den Rand ihres Glases berühren.

»Du bist mit dieser hübschen, dunkelhäutigen Frau befreundet, nicht?«, sagt Natasha weiter. »Au weia, da ist es passiert, aber hier kann ich das doch sagen, oder? Es gibt hier ja hoffentlich keine versteckte Kamera oder so.«

»Nein, keine Kamera. Bloß ein Tonband, das ich später der AREI geben werde ... Ja, Sureya, sie ist eine gute Freundin von mir. Sie hat zur Hälfte malaiisches Blut in sich. Im Moment ist sie allerdings ein paar Tage weg, weshalb ich dir exklusiv zur Verfügung stehe.«

»Du Arme, ganz alleine und verlassen«, spottet Natasha. »Dein Mann ist momentan ebenfalls weg, nicht wahr?«

»Ja, aber er kommt morgen wieder. Spätestens am Donnerstag. Er kann nicht sagen, wie lange es noch dauert, aber das Meiste ist bereits geschafft ...« Ich schwafle. Richards Bild, das sich mir automatisch aufdrängt, bringt mich etwas aus dem Gleichgewicht.

»Du vermisst ihn offenbar sehr, nicht wahr? Wie niedlich.« Natasha lacht, und ich bemerke die feinen Fältchen um ihre Augen, genau wie bei mir. Aber irgendwie auch nicht. Bei Natasha sind das nämlich Lachfältchen und keine Krähenfüße. »Und, woran arbeitet dein Mann gerade?«, fragt Natasha.

»Oh, er kümmert sich um einen neuen Kunden. Offenbar ein lukrativer Auftrag. Und der hält ihn ganz schön auf Trab.« Ich lache betont fröhlich in der Hoffnung, dadurch meine innere Aufgewühltheit zu überspielen.

»Respekt, du unterstützt deinen Mann mindestens genauso sehr wie er dich. Kein Wunder, dass ihr so eine harmonische Ehe führt. Ich beneide dich. Wenn ich nicht so nett wäre, Fran, würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, dich um die Ecke zu bringen, um deine Identität anzunehmen.«

Ich lache ganz besonders fröhlich und zermartere mir gleichzeitig das Hirn nach einem Thema, das nichts mit Richard oder Ehe oder sich gegenseitig unterstützenden Paaren zu tun hat.

»Ich habe mich gefragt ...«, beginne ich, obwohl ich keinen Schimmer habe, was ich mich gefragt habe. Das ist wie bei einer Improvisationsübung im Theaterkurs. Schnell, lass dir was Gutes einfallen ...

»Sprich weiter.« Natasha beugt sich interessiert vor.

»Ich habe mich gefragt ... wie man an Prozac herankommt«, sage ich, wobei ich mich plötzlich total unwohl in meiner Haut fühle.

Ich fühle mich unwohl, weil ich mit einem Mal gegen das Bedürfnis ankämpfen muss, Natasha mein Herz auszuschütten. Völlig absurd! Ich habe nicht einmal meinen beiden besten Freundinnen von meinem Kummer erzählt, doch aus irgendeinem Grund – vielleicht weil Natasha mir ihr Vertrauen geschenkt hat, vielleicht weil der Gedanke an Richard mich völlig aus dem Konzept gebracht hat – verspüre ich das überwältigende Bedürfnis, ihr mein Herz auszuschütten, mir meinen Kummer von der Seele zu reden.

»Warum fragst du mich nach Prozac?«, erwidert Natasha. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«

Ich lache nervös. Wenn ich Natasha anblicke, sehe ich eine Frau, die alles verkörpert, was ich auch sein möchte. Sie ist immer fröhlich und hat sich im Griff, und sie ist beliebt. Vielleicht ist Prozac gar keine so schlechte Idee.

»Nein, nicht wirklich. Es ist nur so, dass die Dinge manchmal nicht so sind, wie sie zu sein scheinen, nicht? Wer zeigt vor den anderen schon sein wahres Gesicht? Und, ja ... ich habe halt darüber nachgedacht ... Prozac ... Warum auch nicht?«

»Weil das keine ›Warum auch nicht?‹-Sache ist«, entgegnet Natasha ernst. »Meine Ärztin hat mir tausend Fragen gestellt, bevor sie mir das Rezept gegeben hat. Was ist eigentlich los, Fran?«

Ich stehe schwankend am Rand, dicht vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Natasha hat mich in ihr Vertrauen gezogen, vielleicht sollte ich es nun erwidern. Sie mag mich – das spüre ich. Verflucht, warum also nicht?

Weil du niemandem außerhalb der Familie sagst, was du denkst, darum.

Nein, das ist dumm. Das klingt eher nach Richard (und dem weitaus weniger bekannten Marlon Brando) als nach mir. Ich sollte mehr mit anderen Leuten reden – mich mehr öffnen.

Ich nehme einen kleinen – okay, großen – Schluck von meinem Wein und mache einen Anfang ... ganz vorsichtig. »Ich kenne mich nicht so aus damit, aber ... ist Prozac nicht ein Aufputschmittel?«

»Meine Ärztin würde sich zwar gegen diese Definition sträuben, aber ich schätze, man kann es so ausdrücken ... Hör mal, ich möchte ja nicht neugierig sein, aber gibt es etwas, das du mir verschweigst?« Natashas Augen scheinen vor lauter Mitgefühl feucht zu werden.

»Ich, tja, ich glaube, ich hatte in letzter Zeit ... eine Menge Stress«, fasle ich. Ich will mich ja öffnen, aber es fällt mir schwer, über meinen Schatten zu springen. Natashas Augen sind fest auf mich gerichtet. Ich nehme noch einen Schluck, um meine Nerven zu beruhigen. Sorry, Richard, aber das hast du dir selbst zuzuschreiben. Von wegen treuer Ehemann. Ich sage Natasha jetzt, was für ein mieser, hinterhältiger Betrüger du in Wirklichkeit bist.

Ich bemerke, dass das Glas in meiner Hand zittert. Die Nerven? Die Verzweiflung? Keine Ahnung.

Natasha wagt einen Vorstoß. »Fran, kann es sein, dass du zu viel trinkst? Ist das dein Problem?«

»In letzter Zeit trinke ich tatsächlich mehr als sonst«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Mir ist neulich aufgefallen, dass der Pimm’s ziemlich schnell durch deine Kehle floss.« Natasha lächelt. »Aber das ist schon okay. Wir brauchen alle mal einen kleinen Stimmungsheber, wir, die Desperate Housewives. Ich schlucke meine Pillen, du trinkst deinen Wein. Keine große Sache.«

»Mein Vater war Alkoholiker«, sage ich ... Keine Ahnung, warum mir das herausgerutscht ist. Bevor ich es verhindern konnte, war es bereits geschehen. Ich weiß, ich wollte mich öffnen, aber das bezog sich nur auf meine Ehe. Nicht auf meine traurige Familiengeschichte.

»Hast du Angst, dass es dir genauso ergehen könnte?«, fragt Natasha behutsam.

»Nein, nein, Gott bewahre«, stammle ich.

Natasha legt den Kopf schief und sieht mich besorgt an.

»Nun, ich schätze, ich trinke fast jeden Tag ...«, gestehe ich zögernd. »Aber wie du schon sagtest, wer braucht abends nicht einen kleinen Muntermacher?«

»Aber wo ziehst du die Grenze?«, fragt Natasha weiter.

Welche Grenze?, denke ich. Was meint sie damit?

»Hast du schon einmal daran gedacht, dich an jemanden zu wenden?«, lässt sie nicht locker.

»Wie, du meinst die Anonymen Alkoholiker?«, brause ich entrüstet auf. »Ganz ehrlich, so schlimm –«

»Nein, nein, das meinte ich nicht«, unterbricht Natasha mich verlegen. »Aber du könntest dich zum Beispiel an einen Arzt wenden ... falls du dir deswegen Sorgen machst ... Weil, nun ja ... Alkoholismus ist vererbbar ... oder?«

Mist, warum habe ich ihr bloß von Dad erzählt? Ich möchte am liebsten nicht an ihn denken, geschweige denn über ihn reden. War mein Unterbewusstsein dafür verantwortlich, dass mir ausgerechnet mein Vater als Erstes in den Sinn kam, um nicht über meinen untreuen Ehemann reden zu müssen? Aber Richard ist das eigentliche Thema, und nicht mein Trinkverhalten und auch ganz bestimmt nicht das meines längst verblichenen, längst vergessenen Vaters. Wie zum Teufel kann ich dieses Thema abwürgen?

»Weißt du, ganz ehrlich, so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, versichere ich Natasha im Bemühen, die Dinge wieder klarzustellen. »Ich muss halt ein Auge darauf haben, dass es nicht zu viel wird. Das schadet sonst der Figur.«

Natasha schiebt ihre Hand über den Küchentisch und legt sie auf meine.

»Du musst dich deswegen nicht schämen, Fran. Ich kenne hier niemanden, der nicht irgendeiner heimlichen Sucht frönt.«

»Etwa auch Cassie?« Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während ich insgeheim bete, dass Natasha nicht zu viel in das bisschen hineininterpretiert, das ich ihr anvertraut habe.

»Ja, sogar die ...«

Froh darüber, von mir abgelenkt zu haben, warte ich darauf, dass Natasha mir offenbart, welches Laster Königin Cassie hat, allerdings vergeblich.

»Kennst du Maureen?«, fragt sie mich. »Die Mutter von Lucy?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nun, Maureen leidet an Bulimie, und das schon seit vielen Jahren. Ihr Mann ist so gut wie nie zu Hause, und sobald sie abends die Kinder ins Bett gebracht hat, plündert sie den Kühlschrank – sie schafft eine ganze Torte alleine. Und danach geht sie ins Bad und erbricht alles in die Toilette.«

»Das ist furchtbar. Die Arme.« Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Ich war völlig auf mich selbst fixiert – als wäre ich die Einzige hier, die Probleme hat. »Hat sie dir das selbst erzählt?«

»Nein, sie hat es Mia anvertraut. Die beiden sind gute Freundinnen. Mia hat es mir nur weitererzählt, weil sie weiß, dass ich absolut diskret bin und schweigen kann wie ein Grab. Ich kenne dich zwar noch nicht so gut, Fran, aber irgendwie vertraue ich dir«, sagt Natasha und drückt meine Hand. »Du kannst mir auch vertrauen ... Das weißt du doch, oder?«

»Ja, das weiß ich«, erwidere ich, während ich gegen die Tränen ankämpfen muss.

»Alkoholismus ist kein Grund, sich zu schämen«, flüstert sie. »Okay?«

Stopp, Augenblick mal. Ich bin keine Alkoholikerin, liegt mir auf der Zunge. Sie hat mich völlig missverstanden. Ich möchte ihr gerne von den Panikattacken und dem Mangel an Vertrauen und dem Ehemann erzählen, der mich wegen einer besseren Alternative sitzen gelassen hat, und von dem ganzen Rest. Ich werde ihr jetzt alles erklären, damit sie mich besser versteht. Doch in diesem Augenblick werden wir von einer Horde auf acht Beinen unterbrochen, die aus dem Garten hereinpoltert.

»Wir haben Hunger!«

»Wir wollen Tee!«

Das Gespräch endet mit der Fütterung von vier hungrigen Mäulern. Beziehungsweise von fünf, wenn man Thomas mitzählt, der sich mit einem Tablett in sein Zimmer verkrümeln wird. Wie kann man sein Essen auch besser genießen als alleine?

 

Erst als Natasha weg ist und ich den Tisch abräume, fallen mir zwischen dem ganzen Chaos die beiden leeren Weinflaschen auf, die neben Natashas Glas stehen.

Das noch genauso voll ist wie am Anfang, als ich es gefüllt habe.