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Die Kinder sind im Bett, und ich knabbere an einem Sandwich. Ich zwinge mich zu etwas, was ich in letzter Zeit stark vernachlässigt habe: Essen. Essen ist lebenswichtig. Himmel, seit wann klafft eine Lücke zwischen meinem Bauch und meinem Hosenbund?
Ob mir die Lücke etwas ausmacht? Ich bin davon begeistert!
Nachdem Richard gegangen war, habe ich mich ein wenig nützlich gemacht. Staub gewischt, die Böden gesaugt, bis es Zeit war, die Kinder abzuholen. Das war immer noch besser, als nichts zu tun und ins Grübeln zu kommen. Danach war ich durch die Kinder abgelenkt. Jedenfalls so lange, bis ich Thomas durch das Küchenfenster beobachtete, als er wieder einmal mit dem Ball herumzauberte und ein paar Tricks für das Probetraining einstudierte. Vor Thomas lag eine glänzende Zukunft. Er hatte alle Möglichkeiten. Im nächsten Augenblick wich meine Freude jedoch schlimmen Gewissensbissen.
Die arme Sureya.
Die arme Rosa.
Ich zwang mich weiterzumachen. Räumte ein paar Küchenschränke aus und putzte sie von innen. Eine Beschäftigungsmaßnahme, um mich abzulenken, eine Verdrängungsstrategie ... Jedenfalls überstand ich so den Nachmittag, bis ich schließlich nicht mehr konnte. Was für ein Tag - im Grunde sogar zwei Tage, obwohl sie in dem Durcheinander nicht mehr zu unterscheiden waren. Aber dieser Tag wird bald ein Ende nehmen, denn mir fallen jetzt schon beinahe die Augen zu.
Richard hat sich nicht mehr gemeldet, aber nachdem er eineinhalb Tage auf sein Büro verzichten musste, werden wir wohl vorerst nichts von ihm hören. Ich frage mich, wie es wohl Sir Colin geht? Der Gedanke bringt mich zum Lächeln, allerdings nicht lange. Mir wird nämlich gleich darauf bewusst, dass nicht nur Richard sich nicht gemeldet hat, sondern auch Michael nicht. Ich möchte gerne wissen, wie es Sureya geht, aber ich will nicht aufdringlich sein. Morgen bringt Michael mir die Zwillinge, dann kann ich ihn ja fragen.
Nachdem ich das Sandwich aufgegessen habe, sehe ich auf die Uhr. Kurz nach neun. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr so früh ins Bett gegangen, aber heute mache ich eine Ausnahme.
In diesem Moment klingelt das Telefon, und ich hebe sofort ab, in der Annahme, dass es Michael ist.
»Darling, ich bin’s!«, sagt eine rauchige Stimme, die ganz und gar nicht nach Michael klingt.
»Wer spricht da?«
»Na, ich! Fiona!«
Ich kenne nur eine Fiona. Meine schreckliche Schwägerin. Was will sie? Bestimmt nicht mit mir sprechen. Sonst ruft sie nur an, wenn sie sich halbwegs sicher ist, dass Richard zu Hause ist.
»Hallo, Fiona. Richard ist noch im Büro«, sage ich automatisch, bereit, mir von ihr eine Nachricht diktieren zu lassen, als wäre ich Richards Sekretärin.
»Ich weiß«, entgegnet Fiona, was mich verwirrt. »Ich habe gerade mit ihm gesprochen. Ich kann nicht glauben, was passiert ist. Ich bin völlig erschüttert.«
Seltsam. Fiona kennt Sureya nicht einmal.
»Ja?«, sage ich.
»Aber sicher, Fran«, erwidert Fiona entrüstet. »Das ist ganz schrecklich.«
Vielleicht kennen sich Sureya und Fiona ja doch. Habe ich die beiden vielleicht auf der Party miteinander bekannt gemacht?
»Ja, es ist furchtbar«, sage ich. »Aber solche Dinge passieren nun einmal. Wichtig ist jetzt nur, sie in Ruhe zu lassen. Sie muss das alles erst einmal verarbeiten.«
»Fran, warum sprichst du von dir in der dritten Person?«
»Tu ich doch gar nicht.«
»Und von wem sprichst du dann?«
»Von Sureya«, entgegne ich, obwohl ich bereits weiß, dass ich nicht nur auf dem verdammten Holzweg bin, sondern auch im völlig falschen Wald.
»Und ich habe von dir und Richard gesprochen«, sagt Fiona. »Er hat es mir erzählt, Fran. Ich weiß alles.«
Ich bin überrascht. Nein, streichen Sie das wieder, ich bin total baff. Warum weiht Richard seine Schwester ein? Ich bin geradezu sprachlos, aber Fiona – die ja ihre Klappe nicht halten kann – füllt das Schweigen. »Eigentlich wollte ich euch beide am Freitagabend einladen. Um meinen Aufstieg zur Juniorpartnerin zu feiern. Ehrlich, ich kann es nicht glauben.«
»Ich schon. Du machst deine Arbeit schließlich gut. Weißt du noch, der eine Fall, von dem du mir erzählst hast, der, den du damals gewonnen hast, als –«
»Fran, ich habe nicht von meinem Job gesprochen.«
Fiona ist jetzt leicht genervt, weil ich schon wieder auf dem Holzweg bin und in die völlig falsche Richtung laufe. Diese Missverständnisse zwischen uns sind nicht neu. Das Problem besteht, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich das ein oder andere Mal, Sie wissen schon, absichtlich dumm gestellt habe. Nicht jedoch heute Abend – ich bin zu müde für Spielchen.
»Ich spreche von eurer Trennung«, erklärt Fiona. »Davon, dass mein Bruder eine andere hat. Das tut mir ganz schrecklich leid.«
Nun, das kann ich fast nicht glauben. Allerdings brauche ich mich nicht zu wundern, dass Richard ihr alles erzählt hat. Fiona kann nämlich sehr hartnäckig sein. Mag sein, dass ich ganz Nord-London vorspielen kann, dass im Hause Clark alles in bester Ordnung ist, allerdings funktioniert das nicht mit Richard. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er nach wenigen Minuten vor Fiona eingeknickt ist und eine Beichte abgelegt hat mit allen Details, beispielsweise was wir anhatten und wo genau wir standen, bevor sich unsere Wege trennten. Was mich nur wundert, ist Fionas plötzliches Mitgefühl. Eigentlich hasst sie mich. Man kann nicht gerade behaupten, dass wir uns besonders nahe stehen. Vermutlich stehe ich Sir Colin näher, und der hält mich für eine andere.
»Das braucht dir nicht leid zu tun«, erwidere ich. »Du weißt ja, wie das ist. Solche Dinge passieren.«
»Ja, aber das ist doch ein Jammer. Wie kann er nur? Schließlich hast du all die Jahre immer nur zurückgesteckt, für ihn und seine Scheißkarriere. Das ist furchtbar, Fran.«
Fiona klingt aufrichtig empört. Wenn sie sich noch weiter hineinsteigert, werde ich gleich sie trösten müssen.
»Wirklich, voll das Klischee«, fährt Fiona fort. »Sie arbeitet für eine Modefirma, sie ist zehn Jahre jünger als er ...«
Sie ist erst neunundzwanzig? Himmel, diese Dinge will ich eigentlich gar nicht wissen.
»... Ehrlich, ich hätte Richard mehr Niveau zugetraut. Ich hätte nie gedacht, dass er der Typ ist, der in eine dumme, lächerliche Midlifecrisis stürzt. Ich schäme mich für ihn.«
Verflucht. Redet sie etwa tatsächlich von ihrem Bruder, der Wasser in Wein verwandelt und an guten Tagen Tote wieder auferweckt? Höre ich da tatsächlich Kritik?
»Nun, die Sache ist etwas komplizierter«, sage ich.
Nehme ich Richard etwa in Schutz?
»Fran, du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich kenne meinen Bruder. Ich kenne ihn so gut wie sonst keiner.«
Das könnte ein versteckter Seitenhieb gewesen sein, aber ich gehe stillschweigend darüber hinweg.
»Wie geht es dir?«, fragt Fiona.
»Ach, weißt du, ich versuche hier vor den Kindern den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten.«
»Die arme Molly«, sagt Fiona. »Sie ist noch so jung ...«
Und was ist mit Thomas?
»... Was wirst du ihr sagen?«
Offensichtlich interessiert Thomas nicht.
»Vorerst nichts. Jedenfalls nicht, bevor ich mit Richard geredet habe, damit wir eine gemeinsame Lösung finden. Dann können wir uns immer noch Gedanken darüber machen.«
»Warum sprichst du dir deinen Kummer nicht von der Seele?«, fragt Fiona sanft. »Vielleicht hilft es ja.«
Mit Fiona reden? Da würde ich eher meine Mutter ins Vertrauen ziehen, und das will was heißen.
»Fiona, tut mir leid, aber ich muss jetzt Schluss machen. Da ist jemand an der Tür.«
»Du hast doch ein schnurloses Telefon, oder?«
Verdammt.
»Ja, aber es sind die Leute, die heute Abend gegen, äh ... den neuen Waschsalon protestieren.«
»Um diese Uhrzeit? Was für ein neuer Waschsalon?«
Ja, was für ein neuer Waschsalon?
»Nun ja ... auf dem Broadway soll demnächst ein Waschsalon eröffnen. Aber die Anwohner sind der Meinung, dass ein Waschsalon hier in der Gegend nichts zu suchen hat. Weil das kein gutes Bild abgibt. Die sind ziemlich aufgebracht. Ich gehe jetzt besser mal an die Tür, um zu sehen, was die wollen, bevor die mir noch eins ihrer Plakate ins Fenster schmeißen.«
»Oje, soll ich dich in ein paar Minuten wieder anrufen?«
»Nein, nicht nötig, ich melde mich bei dir. Das kann aber bis morgen dauern. Also, bis dann, tschüss!«
Ich lege auf, bevor sie noch etwas sagen kann.
Ich kann nicht glauben, dass ich lache. Und ich kann Fiona nicht glauben. Als ich noch zur Familie gehörte, war ich für sie Luft. Und jetzt, wo ich außen vor bin, will sie plötzlich meine Freundin sein? Ich bin zu müde, um mir darauf einen Reim zu bilden.
Geh ins Bett, Fran.
Ich bin schon halb die Treppe oben, auf halbem Weg zu süßer und hoffentlich traumloser Bewusstlosigkeit, als das Telefon erneut klingelt.
Fiona? Um zu erfahren, ob die militante Anti-Waschsalonliga wieder abgerückt ist? Ich habe keinen Bock mehr auf die Dame.
Ich weiß, was ich mache.
Cherie Blair hat mich inspiriert.
Vor Jahren habe ich mal den Filmkommentar zu einem Teenie-Horrorstreifen gesprochen. Das erscheint mir hier passend. Ich gehe wieder nach unten und nehme den Hörer ab. »Hallo. Sie sind mit der Potterton Klinik verbunden«, intoniere ich mit unmenschlicher Grabesstimme. »Wenn Sie wegen unserer Besuchszeiten anrufen, drücken Sie bitte die Eins. Wenn Sie sich bei uns bewerben wollen, drücken Sie bitte die Zwei. Und vergessen Sie nicht, Sie müssen nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten, aber es hil–«
»Fran, lass das«, unterbricht mich meine Mutter. »Was soll das? Ich dachte, du hättest mit diesem Unfug aufgehört, als du fünfzehn warst. Weißt du noch, was für einen Ärger du dir damit früher eingehandelt hast?«
Sie hat recht. Das mit Cherie war nicht mein erster Spaßanruf. Ich wäre einmal fast von der Schule geflogen, weil ich als Cilla Black bei unserem Direx angerufen hatte. Ich erzählte ihm, dass wir eine Sondersendung von Herzblatt nur mit Lehrern machen wollten und dass das bestimmt eine Riesengaudi würde ... Oh, glückliche Zeiten.
»Sorry, Mum«, sage ich verlegen. »Ich versuche nur Druck abzubauen.«
»Was für einen Druck?«, fragt sie mit besorgter Stimme.
»Oh, einer Freundin von mir ist was Schreckliches passiert. Niemand, den du kennst«, entgegne ich in beiläufigem Ton. Ich will mich heute nicht mehr über schlimme Dinge unterhalten. Schließlich ist das Jahr noch lang, da muss sich nicht alles auf diesen einen Tag konzentrieren.
Während ich meiner Mutter zuhöre, die mir von ihrer Woche berichtet, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Ich kann zwar den Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Konzerns glauben machen, dass ich die Frau des englischen Premierministers bin, aber meiner Mutter kann ich nichts vormachen. Niemals.
»Und, was meinst du?«, fragt sie im Moment.
Ach herrje, wieder nicht aufgepasst. »Sorry, Mum, worum ging es gerade?«
»Um das Wochenende«, entgegnet sie. »Die Kinder können von Samstag auf Sonntag bei uns übernachten, und Richard und du, ihr könnt mal wieder zusammen ausgehen. Ich bin sicher, dein Mann arbeitet zu viel. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe ...«
Soll ich es ihr sagen? Wäre das nicht der perfekte Moment, um es ihr zu sagen? Fiona weiß schließlich auch Bescheid. Warum nicht auch meine Mutter? Und wenn ich es ihr sage, ist es ja nicht so, als würde ich es in einer ganzseitigen Anzeige in der Tagespresse veröffentlichen, als wäre ich irgendein Promi, der sein Ehedrama zu PR-Zwecken ausschlachtet ...
Hunk Hollywood und Starlet Sparkle bedauern sehr, ihre sofortige Trennung bekanntgeben zu müssen, und beide möchten ihren Fans für die Unterstützung in dieser schweren Zeit danken. Zudem haben beide den Wunsch geäußert, dass die Medien ihre Privatsphäre respektieren, obwohl Ms Sparkle heute Abend um halb acht leicht mitgenommen, aber wie immer wunderschön vor dem Eingang des Ivy gesichtet wurde.
Sie ist meine Mutter. Irgendwann muss ich es ihr sagen. Oder etwa nicht?
Aber wenn ich ihr sage, dass Richard mich verlassen hat, ist es definitiv. OFFIZIELL. Ist es überhaupt möglich, ihr das auf Dauer zu verschweigen? Nicht, dass meine Mutter wegen ihrer sitzen gelassenen Tochter in Tränen ausbrechen würde. So ist sie nicht. Aber ihr hartnäckiges Schweigen, das sie so gut beherrscht, würde mir den Rest geben. Will ich mir das im Moment wirklich antun?
»Das ist eine tolle Idee, Mum«, sage ich. »Ich bringe die Kinder nach dem Training zu dir. Einverstanden?«
»Prima. Al möchte Thomas zur Kartbahn in Hadley Wood mitnehmen. Ich finde, das klingt zwar gefährlich, aber Jungs sind eben Jungs.« Sie lacht.
Al ist ein großer Motorsportfan. Ein Mann am Steuer irgend einer lauten und schnellen Maschine ist automatisch ein Held. Kein Wunder, dass Al plant, aus Thomas einen Helden zu formen, indem er ihn erst einmal hinter das Steuer eines schnuckligen kleinen Gokarts setzt. Das große Vorbild von Al ist Ayrton Senna. Ein Mann, der so gestorben ist, wie er gelebt hat – mit über dreihundert Stundenkilometern. Das war ein ganzer Mann.
»Thomas wird sich sicher freuen«, entgegne ich und versuche das Bild seines kleinen, schlaffen Körpers zu verdrängen, der aus einem völlig verbeulten Gokartwrack geborgen wird. Oh Gott, wieso musste mir auch ausgerechnet Ayrton Senna einfallen?
»Ich werde die Kinder am Sonntag rechtzeitig zurückbringen«, sagt meine Mutter. »Du weißt ja, wegen dem Herbstbasar.«
Scheiße!
Nach nur einem kurzen Besuch der Kinder weiß sie über die Schulveranstaltungen besser Bescheid als ich. Das Herbstfest hätte ich beinahe vergessen. Ich brauche gar nicht an tödliche Gokart-Massenkarambolagen zu denken, ich habe ein viel größeres Problem. Sureyas Tragödie hat mich die AREI komplett vergessen lassen. Ich habe Cassie, Annabel und die abscheuliche Natasha komplett aus den Augen verloren und glücklicherweise auch aus dem Sinn. Aber jetzt sind sie wieder da. Dieser blöde Schulbasar. Ich wünschte, er wäre schon vorbei. Aber ich habe mich freiwillig gemeldet. Für den Entenstand!
Dafür ist keine besondere Erfahrung nötig.
Verfluchter Mist. Was soll ich tun? Die Oberhexe anrufen und ihr sagen, dass ich nicht kann? Dann bin ich hier endgültig unten durch. Oder soll ich einfach hingehen und die verstohlenen Blicke ignorieren? Was auf dasselbe herauskommt. Wie ich es auch anstelle, ich kann nicht gewinnen. So eine verdammte Scheiße.
Vielleicht sollte ich einfach nichts unternehmen. Schließlich habe ich Übung darin, Termine platzen zu lassen. Und wenn ich mit der Enttäuschung und Wut von Isabel und Harvey klarkomme, dann brauche ich mich auch vor Cassie nicht zu fürchten, oder? Der Unterschied dabei ist natürlich, dass ich Is und Harv nie wieder zu sehen bekomme, während ich Cass und Co. mindestens für die nächsten sechs Jahre beinahe täglich ertragen muss.
Meine Mutter beendet irgendwann das Gespräch, im Gegensatz zu mir glücklich. Ich habe heute fast gar nicht geraucht, und bei dem Gedanken greife ich nach der Zigarettenschachtel. Ich zünde mir eine an, lasse mich auf eine Treppenstufe plumpsen und nehme einen langen, verzweifelten Zug.
Menschenskind, Fran, reiß dich zusammen.
Meine beste Freundin hat gerade ihr Kind verloren, und ich mache mir hier in die Hose wegen eines doofen Entenstands.
Du gehst jetzt sofort ins Bett.