11

 

Sabbat. Ein Ruhetag? Von wegen. Es herrscht Ausnahmezustand. Die Aula der Arlington-Grundschule wurde von einer Gruppe militanter Spendensammler eingenommen und in ein Kriegsgebiet verwandelt. Die Arlington-Road-Elterninitiative ist am Werk. Man sollte die Nation warnen.

Ich stehe mitten in der Aula und versuche, das Treiben in mich aufzunehmen. Alle wuseln geschäftig herum. Stände werden aufgebaut. Wände werden mit Postern und Schildern geschmückt. Wimpel werden aufgehängt. Aber dennoch liegt ein Hauch von Nervosität in der Luft, wie kurz vor einem Rockkonzert, wenn einer feststellt, dass die Kabel auf der Bühne noch nicht angeschlossen sind.

»Aaagh! Schnell, schick jemanden zu Eric Clapton, um zu fragen, ob er auch unplugged spielen kann.«

Vor lauter Anspannung habe ich feuchte Hände. Es ist nur der Schulbasar, Menschenskind. Ich sollte wirklich wieder öfter unter Leute gehen.

»Francesca!«, bellt plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich fahre erschrocken herum, und Cassie steht vor mir. Sie hält einen Berg Stofftiere in den Armen. »Die freiwilligen Helfer sollten eigentlich alle um neun Uhr hier sein«, sagt sie und ringt sich mühsam ein Lächeln ab, als wäre sie nicht wütend auf mich, was jedoch genau das Gegenteil beweist. »Wir hätten Sie hier schon früher gebrauchen können.«

»Oh, tut mir leid, das wusste ich nicht.« Zittern etwa meine Knie? Vergiss dein Vorhaben, wieder öfter unter Leute zu gehen. Ich wusste, ich hätte zu Hause bleiben sollen.

»Hast du denn das Faltblatt nicht gelesen?«, trällert eine Stimme, die mir leider nur allzu vertraut ist. Natasha gesellt sich an meine Seite. Sie hält einen großen braunen Karton in den Händen, der jeden Moment auseinanderzuplatzen droht. »Fran, ich habe dich vermisst!«, säuselt sie. »Wir haben uns schon seit einigen Tagen nicht gesehen. Hör mal, ich muss weitermachen. Ich muss das ganze Essen, das ich mitgebracht habe, aus dem Wagen räumen, und mein Stand ist auch noch nicht aufgebaut.«

»Dein Stand?«, frage ich begriffsstutzig.

»Ja, gebrauchte Markenklamotten. Du solltest nachher mal vorbeischauen, es lohnt sich, bei mir zu stöbern.« Strahlend mustert Natasha mich kurz von oben bis unten. »Ich habe alles, von Gap bis Gucci. Und alles zu Schleuderpreisen. Bis später.«

Ich vermute, Natasha kann sich ihren triumphierenden Blick erlauben. Die Markenklamotten schlagen den Entenstand wahrscheinlich um Längen.

Cassie scheint von Natashas Auftritt genauso erschlagen zu sein wie ich. Ich hätte selbst dann nicht gewusst, was ich sagen soll, wenn Natasha mir die Chance gegeben hätte zu antworten. Ich bin immer noch sprachlos, als ich plötzlich eine Stimme vernehme, die mich noch mehr erschüttert.

»Hier noch jemand Tee?«

Ich wirble herum und erblicke Richard, der zwei dampfende Plastikbecher in den Händen hält.

»Richard. Was machst du denn hier?«

»Ich dachte, ich schaue mal vorbei und biete meine Hilfe an«, entgegnet er und schenkt Cassie ein gewinnendes Lächeln.

»Cassie, ich weiß nicht, ob Sie sich schon kennen«, sage ich und versuche Natasha aus meinen Gedanken zu verbannen. »Das ist Richard, mein Mann. Kann er sich vielleicht nützlich machen?«

»Das wäre großartig«, erwidert Cassie mit einem erleichterten Seufzer, als wäre Richard Moses, der das Meer teilt, damit wir uns alle in Sicherheit bringen können. »Dort drüben steht ein Karton mit Luftballons. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Sie aufzublasen? Leider ist die Luftpumpe kaputt.«

»Sicher, kein Problem«, entgegnet Richard und zieht die Mundwinkel noch ein Stück höher.

»Danke. Vielen Dank«, säuselt Cassie.

Sehen Sie? Das Meer ist geteilt, und wir können durchgehen.

»Und ich, wo soll ich hin, Cassie?«, breche ich den Bann.

»Sie gehen am besten direkt zu Ihrem Stand. Die Türen werden in zehn – nein, in fünf Minuten aufgeschlossen. Ihr Stand ist ganz dort hinten. In der Ecke. Ich muss nun weitermachen. Ich muss nämlich noch eine Tonne Karottenkuchen aufschneiden.« Und weg ist sie, wobei sie eine Spur aus flauschigen Stoffhasen hinterlässt.

Richard lächelt mich an. »Die scheint ganz nett zu sein.«

»Nett? Sie ist eine Hexe – und zwar die schlimmste von allen.«

»Ich denke, du redest dir was ein. Bestimmt wird nicht halb so viel über dich getratscht, wie du glaubst.« Er lacht, als wäre ich Mia Farrow und würde fantasieren, dass alle mir mein Baby wegnehmen wollen.

»Du kannst mich mal, Richard. Was machst du überhaupt hier?«

»Ich freue mich, dich zu sehen.«

»Sorry, aber du bist der Letzte, mit dem ich hier an diesem Tag gerechnet hätte.«

»Molly hat mich gestern bearbeitet, zu kommen. Ich dachte, ich überrasche sie.« Er lächelt. »Besser, ich blase jetzt die Luftballons für meine neue Freundin Cassie auf.«

Ich wende mich um und mache mich auf zu meinem Termin mit den Plastikenten.

 

Ich sitze in der hintersten Ecke der Aula auf einem Hocker und halte einen Stab, an dessen Ende ein kleiner Haken befestigt ist. Der Hocker steht auf einer Plastikunterlage neben einem kleinen, bis zur Hälfte mit Wasser gefüllten Planschbecken, in dem sich sechs Plastikenten befinden, die entweder auf der Seite trudeln oder unten auf dem Grund liegen. Für fünfzig Pence dürfen die Kinder eine Ente aus dem Wasser angeln, und FÜR JEDE ENTE GIBT ES EINEN PREIS. Bis jetzt hat sich allerdings lediglich ein Kind daran versucht. Und das auch nur, weil es erst drei Jahre alt war – zu jung, um einen langweiligen Stand zu erkennen. Und eigentlich auch nur, weil ich es umsonst habe angeln lassen.

Die Aula ist gerammelt voll, aber alle machen einen großen Bogen um meine Ecke. Ich glaube, da hat sich jemand – nennen wir sie Annabel – einen kleinen Scherz mit mir erlaubt.

Ich blicke auf das muntere Treiben vor meinen Augen. Glocken werden mit lustigen großen Holzhämmern geschlagen, Kokosnüsse werden geworfen, Lehrer werden mit Sahnetorte beschmiert, und Kasperle prügelt die Scheiße aus dem Krokodil ... Nein, natürlich nicht. Das wäre ja Tierquälerei. Hier in der Arlington-Schule muss Kasperl sich schriftlich zu einer gewaltfreien Darbietung verpflichten. Wahrscheinlich gibt er den Kindern gerade sein Rezept für Linsensuppe.

Vor den anderen Ständen scharen sich die Menschen, um Bastelschmuck, selbstgemachte Marmelade und selbstgebackenen Kuchen zu kaufen. Und natürlich Markenklamotten. Auf der Bühne am anderen Ende der Aula steht eine hübsche, gut gekleidete Frau mit einer dieser neuen Handtaschen, die überall Schnallen haben ... Ach ja, und die Frau ist farbig. Sie spricht in das Mikro mit dem natürlichen Selbstvertrauen einer erfahrenen Fernsehmoderatorin. Sie macht ihre Sache gut, aber trotzdem, das wäre genau mein Job gewesen. Doch nein, ich bin für Enten zuständig, die nicht schwimmen können.

Klingt nach großem Selbstmitleid, nicht wahr? Das ist es auch. Ich komme mir total überflüssig vor.

Gleich darauf sehe ich, wie eine Warze auf mich zusteuert. Sie sitzt auf einer Nase. Annabels Nase. Ich setze mein bestes falsches Lächeln auf.

»Ist das Richard dort drüben?«, fragt sie, als sie mich erreicht.

»Ja.«

Cassie konnte Richard dazu überreden, das Eselreiten zu über nehmen. Natürlich nicht auf einem richtigen Esel – das wäre ja wiederum Tierquälerei –, sondern vielmehr auf dem Schulrektor und dem Sportlehrer in einem Eselskostüm. Richard hilft den Kindern, auf das Biest aufzusteigen, und führt sie dann eine kleine Runde zwischen den Ständen herum. Mindestens ein paar Dutzend kreischende Kinder stehen bei ihm an, um für fünfzig Pence auf dem Esel zu reiten.

»Er macht das hervorragend.« Annabel strahlt.

Ja, danke, das sehe ich selbst.

»Normalerweise bekommen wir Ihren Mann hier an der Schule ja nie zu Gesicht. Wie läuft es denn bei Ihnen?«, fragt sie.

Die Schmach, dass alle Welt von meiner kaputten Ehe weiß, ist zu viel für mich. Ich spüre, wie ich rot werde. »Danke, gut«, erwidere ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Uns allen geht es sehr gut.«

»Meine Frage bezog sich eigentlich auf den Entenstand«, entgegnet Annabel patzig.

Oh Gott. Bitte, liebes Loch im Boden, tu dich schnell auf ... Ich bringe gerade noch heraus: »Oh, toll, danke, alles super.«

»Fein. Dann bis später.«

Fein. Großartig. Wundervoll.

Ich möchte am liebsten sterben.

 

Meine Mutter und Al sind mit den Kindern seit einer halben Stunde hier. Als sie ankamen, habe ich sie alle fest umarmt, aber Thomas galt mein besonderes Augenmerk.

»Wie geht es ihm, Mum?«, fragte ich.

»Er ist ziemlich still. Aber er hatte großen Spaß, als Al ihn zur Kartbahn mitgenommen hat. Er wird sich von dem Schock erholen.«

»Sicher«, sagte ich. »Das gestern war lediglich ein kleiner Rückschlag. Thomas wird nämlich für Arsenal spielen, weißt du?«

»Die nehmen doch nur Franzosen«, bemerkte Al verächtlich.

Jetzt wusste ich, von wem Thomas das hat. Hätte ich mir denken können.

Fünf Minuten später ließen sie mich wieder alleine. Thomas machte sich mit Al auf zu den Wurfständen. Mum ging mit Molly auf die Suche nach dem Café, um ein leckeres Stück Kuchen zu essen. Aber das ist hier die Arlington-Schule, schon vergessen? Ich habe die beiden gewarnt, dass sie sich nicht allzu große Hoffnungen auf einen Zuckerflash machen sollen.

Momentan befinden sich fünfzig Pence in meinem Eimer. Die ich selbst hineingelegt habe. Molly wollte eine Ente angeln, und ich habe mich verpflichtet gefühlt, für sie zu bezahlen. Ich sehe auf meine Uhr. Ich bezweifle, dass ich das auch nur eine Minute länger ertrage. Es ist nicht nur die Einsamkeit. Es sind vor allem die Blicke der anderen, und die bilde ich mir sicher nicht ein; genauso wenig wie das verstohlene Aufmichzeigen der Frauen, die ihre Männer leise warnen, die Kinder möglichst von mir fernzuhalten. – Am besten, wir machen einen großen Bogen um sie. Sie ist ein Neonazi, und für eine Flasche Grauburgunder würde sie sogar ihren Körper verkaufen.

Vielleicht drehe ich auch langsam durch. Bilde ich mir das etwa alles nur ein ...?

Aber Mia Farrow hatte recht! Schließlich waren diese Satansanhänger tatsächlich hinter ihrem Baby her. Und zwar alle, die nette alte Minnie, ihr Mann Roman, ihre Freunde, selbst der nette Doktor Sapperstein. Sie alle waren mit dem Teufel im Bunde ...

Plötzlich taucht John Cassavetes wie aus dem Nichts auf – ich meine natürlich Richard. »Fühlst du dich einsam?«, fragt er, noch leicht außer Atem von der ganzen Eselei.

»Ja.« Ich versuche zu lächeln, lasse es dann aber wieder. Wozu? »Um ehrlich zu sein, Richard, ich habe die Schnauze voll. Das stehe ich keine zwei Stunden mehr durch.«

»Aber du darfst nicht aufgeben. Was willst du? Dass man dir auch noch nachsagt, du wärst ein Drückeberger?«

»Oh, mir wird weitaus Schlimmeres nachgesagt. Im Ernst, Richard, mir reicht’s. Ich gehe nach Hause und koche das Abendessen. Du kannst gerne mitkommen, falls –«

»Du gehst nicht nach Hause«, widerspricht Richard mir in bestimmtem Ton.

In diesem Moment erscheint Thomas und macht ein finsteres Gesicht. »Mum, ich fange gerade an, mich zu amüsieren. Sag jetzt nicht, dass wir schon nach Hause fahren.«

»Nun, du kannst ja mit Daddy bleiben, wenn du willst. Aber ich bin müde, und außerdem ist ja eh bald Schluss hier, und –«

»Hör auf, immer Daddy zu sagen!«, schreit Thomas mich an. »Ich bin kein kleines Baby mehr. Was hast du für ein Problem? Zuerst kommst du zu spät zu meinem Training, und jetzt willst du früher gehen. Echt ätzend. Das ganze Wochenende ist für den Arsch!«

Thomas’ Frust bricht nun endgültig hervor, und ich bin zunächst richtig geschockt. Richard beugt sich zu ihm herunter und legt den Arm um seine Schulter, aber Thomas schüttelt ihn wütend ab. Er hat Tränen in den Augen, die er jedoch vehement abwischt, als zwei seiner Klassenkameraden sich uns nähern – kleine Jungs, die wie Motten heranschwirren, wenn es irgendwo laut wird.

Meine Mutter taucht nun ebenfalls auf. »Hallo!«, ruft sie fröhlich, nichts von der anschwellenden Hysterie ahnend, in die sie hineingeplatzt ist. Molly an ihrer Seite kaut eine Karotte. Offenbar haben sie das Café gefunden.

Mum raschelt mit einer Papiertüte. »Möchte jemand einen Doughnut? Schmecken allerdings etwas seltsam, wenn ihr mich fragt. Die sind mit wenig Fett und ohne Zucker. Da fragt man sich, was daran noch ein Doughnut sein soll, nicht wahr?«

Thomas beruhigt sich wieder ein wenig. Ob mit oder ohne Zucker, bei Doughnuts kann er nicht widerstehen. Während er genüsslich in einen hineinbeißt, kann ich nicht anders und lasse meinen allseits beliebten Homer­Spruch los: »Mmmm, lecker ... Es geht doch nichts über Doughnuts.«

Es funktioniert. Thomas lächelt. Gut, er grinst zwar nicht gerade von einem Ohr zum anderen, aber es ist immerhin ein Anfang. Und sein Lächeln wird breiter, als er auf seine Klassenkameraden blickt. Die starren mich nämlich mit großen Augen und offenem Mund an. Einer der beiden findet seine Sprache wieder und fragt Thomas: »Kann sie das noch mal machen?«

Ja, kann sie, aber jetzt möchte sie nach Hause.

»Sicher kann sie das«, entgegnet Thomas lässig, schiebt sich den Rest seines Doughnuts in den Mund und greift erneut in die Tüte. »Mach schon, Mum.«

»Nein, lieber nicht«, erwidere ich, da ich mir etwas albern vorkomme.

»Oh, bitte«, fleht mich der Klassenkamerad an. »Machen Sie noch mal Homer.«

»Machen Sie Bart«, sagt sein Freund.

»Mach schon, Mum«, drängt Thomas erneut.

Na gut, noch ein einziges Mal. Nur für Thomas. Ich hole Luft und sage mit der Stimme von Bart »Ich bin fertig mit der Arbeit. Arbeit ist was für Hornochsen«, bevor ich wieder zu Homer wechsle: »Sohn, ich bin stolz auf dich. Ich war doppelt so alt wie du, als ich das herausgefunden habe.«

Thomas versucht seinen Stolz zu verbergen, während seine Klassenkameraden sich vor Lachen biegen. Mit einem Mal – wenn auch nur für einen flüchtigen Moment – hat mein Sohn etwas ganz Seltenes: eine coole Mutter. Ich glaube nicht, dass ich vorher eine war. »Sie kann jeden nachmachen, wisst ihr«, sagt Thomas betont lässig.

»Ja, Mummy, mach Lisa«, piepst Molly dazwischen.

»Okay, aber das ist das letzte Mal«, gebe ich nach. Ich rassle schnell Lisas »Ruhig bleiben? Ich kann nicht ruhig bleiben! Und ich kann auch nicht klein beigeben, einlenken oder ... Nur zwei Synonyme? Oh mein Gott, ich verliere meinen Scharfsinn!« herunter und Marges »Du solltest auf dein Herz hören, nicht auf die Stimmen in deinem Kopf«, bevor ich mit einem klassischen Bart ende: »Haben wir nicht die wahre Bedeutung von Weihnachten vergessen? Ihr wisst schon, die Geburt vom Nikolaus.«

Und plötzlich stehen nun dort, wo zuvor zwei staunende Klassenkameraden von Thomas standen, gleich ein halbes Dutzend davon. »Wen können Sie noch?«, fragt einer.

»Sie kann jeden«, informiert Thomas den Fragesteller.

»Jeden auf der Welt?«

»Jeden im Universum.«

»Was? Sogar Mrs Gottfried?«

»Mrs Gottfried?«, entgegnet Thomas angeberisch. »Die ist doch pipileicht. Hey, Mum, mach doch mal den doofen Mr Williams nach.«

»Thomas, sprich nicht so über deine Lehrer«, tadelt Richard ihn in autoritärem Ton. Was hat es nur mit Teilzeitvätern auf sich? Sie denken immer, sie können sich überall einmischen und bestimmen, wo es langgeht. Es ist gut zu sehen, dass Richard denselben Einfluss hat wie ich als Vollzeitmutter – nämlich keinen. Die Jungs sind jetzt erst recht Feuer und Flamme und rufen mir einen Lehrernamen nach dem anderen zu.

Ich ziehe meine Jacke an, bereit zu verschwinden. Es kommt selten vor, dass Thomas im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht – außer auf dem Fußballplatz –, und die Gelegenheit scheint günstig, mich zu verkrümeln.

»Fran, wir haben neulich diesen Film gesehen, Was geschah wirklich mit Baby Jane?«, sagt meine Mutter scheinbar aus dem Nichts. »Ein sehr düsteres Drama. Mach doch mal Bette Davis. Sie hat so eine böse Stimme.«

Böse? Kann ich das? Aber ich kann der Herausforderung nicht widerstehen. Ich hefte einen starren Baby-Jane­Blick auf meine Mutter und sage mit schleppender Stimme: »Blanche, weißt du, dass wir ... Ratten im Keller haben?«

Al, der mich noch nie in Aktion erlebt hat, bricht in schallendes Gelächter aus, und Mum verzieht das Gesicht so sehr, dass ich nicht sagen kann, ob vor Begeisterung oder vor Abscheu.

»Hey, ihr solltet dafür fünfzig Pence in den Eimer werfen«, bemerkt Richard.

»Das war brillant«, ruft Al begeistert. »Dafür gebe ich ihr sogar ein ganzes verdammtes Pfund.«

Aber die Kinder können mit toten Filmstars nichts anfangen. Sie wollen ihre Lehrer, und zwar jetzt.

»Bitte, mach Mr Williams.«

»Nein, Mrs Poulsen.«

»Mrs Gottfried!«

Mein Instinkt sagt mir Nein. Aber die kleinen, erwartungsvollen Gesichter ... – insbesondere das meines Sohnes. Selbst Richard sieht mich in gespannter Erwartung an.

»Mach schon, Mummy«, bettelt Molly. »Biiitte

Und mit einem Mal ist es wie damals beim Bungeespringen. Während die anderen ungeduldig in der Schlange warten, stehe ich wie angewurzelt da, weil ich Angst habe zu springen.

Was rede ich da? Das lässt sich überhaupt nicht miteinander vergleichen. Schließlich gibt es hier keinen Abgrund, der über vierzig Meter tief ist. Bloß eine Horde aufgedrehter Kinder, die sich von mir Imitationen wünschen. Ein paar Seitenhiebe auf die Lehrer können keinen Schaden anrichten. Oder?

Ich hole tief Luft und präsentiere meinen Zuhörern einen Ausbruch von Mr Williams, der nicht nur mit starkem schottischen Akzent spricht, sondern auch, als würde er unter Beruhigungsmitteln stehen, und gehe dann nahtlos über zu Mrs Gottfried. Eine subtile Imitation. Nun ja, ich lasse sie schließlich wie Hitlers Schwester klingen. Man könnte sagen, meine Parodie auf die Frau, die mich des Rassismus bezichtigt, ist schwärzeste Satire. Oder vielleicht sicherer Selbstmord. Sollen die Kritiker das beurteilen.

Mein Publikum ist von meiner Darbietung jedenfalls restlos begeistert. Der laute Jubel zieht immer mehr Kinder an, während die Mütter und Väter neugierig herüberblicken und sich fragen, was der Auslöser für diesen Tumult ist. Ich kümmere mich nicht darum, weil Thomas im siebten Himmel schwebt.

Und natürlich tue ich ihm weiterhin den Gefallen. Ich nehme mir alle Lehrer vor, die ich gut genug kenne, um sie zu imitieren. Und während ich mein Programm abspule, registriere ich, wie Richard mit dem Eimer losgeht.

»Rückt das Kleingeld heraus, Kinder«, sagt er und reicht den Eimer weiter. Al wirft eine Zwei-Pfund-Münze hinein, dem weiteres Kleingeld folgt, als Thomas’ Freunde Richards Aufforderung nachkommen.

»Richard«, zische ich. »Du kannst den Kindern doch kein Geld abnehmen.«

»Warum denn nicht? Schließlich sind sie deswegen hier. Um Geld auszugeben. Ist ja für einen guten Zweck, nicht ...? Okay, noch jemand, der einen Vorschlag machen möchte? Kommen Sie, treten Sie näher! Ein Pfund für eine Stimmenimitation! Jede beliebige Person!«

Hört, hört. Für wen hält der sich? Für einen Marktschreier? Als Nächstes erzählt er mir, dass wir am Ende des Tages Millionäre sein werden.

»Richard, hör auf damit, bitte. Du machst mich verlegen.«

»Keine Zeit für Diskussionen, Fran. Dein Publikum wartet.«

Er hat recht. Woher kommen auf einmal all die Leute? Meine vorher völlig verwaiste Ecke in der Aula platzt mit einem Mal aus allen Nähten. Und die Vorschläge fliegen nur so auf mich zu.

»Barbara Windsor!«

»Mariah Carey!«

»Sharon Osbourne!«

»Nein, Kelly!«

»Joan Bakewell!« (Was nur von einer der Arlington-Mütter stammen kann.)

»Ich gebe dir zwei Pfund für Katie Price!« (Was nur von Al stammen kann.)

Was kann ich tun, außer mich fügen? Ich kann nicht entkommen, selbst wenn ich es versuchen würde. Ich bin in die Ecke getrieben, im wahrsten Sinne des Wortes. Am besten, ich finde mich damit ab.

 

Ich bin völlig erschöpft. Meine Kehle fühlt sich rau und trocken an, und meine Stimme ist ganz heiser. Aber nun ist die Show vorüber. Fran Clark hat die Bühne verlassen. Nun ja, zumindest ihre Stimme. Ihr Körper steht immer noch neben dem Planschbecken, leicht benommen, und hält sich nur durch den Adrenalinschub aufrecht.

Richard steht neben mir und blickt ungläubig in den Eimer. Er greift hinein und zieht einen Zehn-Pfund-Schein hervor.

»Wow. Wer hat den reingetan?«, frage ich leise murmelnd.

»Irgendein Zuhörer. Das war für deine Hillary Clinton. Ich frage mich, wie viel er dir erst für deine Cherie Blair gegeben hätte.«

Die Aula leert sich allmählich, aber die Menschenansammlung um mich herum löste sich als Letztes auf. Offenbar sind Stimmenimitationen ein ziemlicher Renner. Und offenbar bin ich ziemlich gut darin. Der Großteil meines Publikums blieb bis zum bitteren Ende – bis ich mich weigerte, meine Victoria Beckham ein sechstes Mal zum Besten zu geben. Thomas und Molly – die mein gesamtes Repertoire schon zur Genüge kennen, wie man fairerweise erwähnen muss – hatten bereits vor einer halben Stunde genug. Ich gab Mum den Haustürschlüssel, und sie brachte die beiden nach Hause.

»Du warst einsame Spitze, Fran«, sagt Richard.

Ich widerspreche ihm nicht, was nur teilweise daran liegt, dass meine Stimme hinüber ist.

»Du solltest mit der Nummer auf Tournee gehen. Damit kannst du richtig fett absahnen ... O-oh, da kommt die Chefin.«

Ich habe bereits gesehen, dass Cassie im Anmarsch ist.

»Tja, das war ja mal was«, sagt sie gleich darauf zu mir.

»Danke«, erwidere ich, obwohl ich mir beim Klang ihrer Stimme nicht sicher bin, ob das ein Kompliment war.

»Ich habe zwischendurch kurz zugehört, und es war ja ganz spaßig – aber eigentlich waren Sie für den Entenstand eingeteilt«, sagt Cassie mit Blick auf das Planschbecken.

»Ja, das ist richtig«, entgegne ich mit kläglicher Stimme, »aber die Enten haben niemanden interessiert.«

Cassie verdreht die Augen. »Wir haben uns heute alle ein Bein ausgerissen, Francesca.« Ich bemerke, dass nun sogar das spöttische Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden ist. »Wenn Sie mit dem Stand überfordert waren, den man Ihnen zugewiesen hat – ich hätte jede Menge Freiwillige gehabt, die Ihre Aufgabe liebend gerne übernommen hätten. Wissen Sie, wir erreichen unsere Spendenziele nur, wenn jeder einzelne sein Bestes gibt. Das nennt man Teamwork, wenn alle zusammen an ein –«

Cassie wird von einem satten, metallischen Scheppern unterbrochen, wie von klimpernden Münzen – vielen Münzen. Richard hat den Eimer auf den Hocker gestellt. Cassies Augen weiten sich, genau wie meine. Der Eimer ist bis zum Rand voll. Ich wusste gar nicht, dass ich so gut war.

»Bitte sehr, Cassie. Das dürfte helfen, ihr Spendenziel zu erreichen«, sagt Richard. Er schenkt ihr ein subtiles Lächeln, das er nach fast zwanzig Jahren im Marketing perfekt beherrscht. »Wir gehen jetzt. Viel Spaß noch beim Aufräumen.«

Dann schnappt er meinen Arm, und wir gehen zum Ausgang.

Nein, als Gehen kann man das nicht bezeichnen. Eher als Stolzieren.

Draußen werfe ich einen Blick nach hinten, um mich zu vergewissern, dass uns niemand gefolgt ist.

»Verdammte Scheiße«, stoße ich hervor. »Was glaubst du, wie viel das war in dem Eimer?«

»Oh, das war recht ordentlich«, entgegnet Richard in beiläufigem Ton. »Ich schätze zwischen drei- und vierhundert.«

»Unmöglich. Das war niemals so viel.«

»Glaube ich schon. Die Leute haben ständig Geld hineingeworfen. Außerdem war ich vorher bei der Bank. Ich hatte ein bisschen Bargeld bei mir – knapp zweihundert Pfund. Die habe ich heimlich in den Eimer gesteckt, als Cassie dich gerade heruntergeputzt hat.«

»Bist du bescheuert? Warum hast du das getan?«

»Weil du recht hattest. Cassie ist eine Hexe. Ich konnte den Ton, den sie dir gegenüber angeschlagen hat, unmöglich dulden. Zuerst wollte ich ihr die Meinung sagen, aber dann kam mir der Gedanke, dass Geld die einzige Sprache ist, die solche Leute verstehen ... Egal, scheiß auf Cassie. Scheiß auf sie alle. Diese beschissenen Arschlöcher.«

Richards plötzliche Schimpfkanonade schockiert mich, nicht weil ich Vulgärausdrücke missbillige, sondern weil ich dachte, Richard würde sie missbilligen. »Ich dachte, Vulgärsprache ist was für Leute, die nur über einen beschränkten Wortschatz verfügen und sich nicht richtig ausdrücken können«, sage ich.

»Oh, mein Wortschatz ist alles andere als beschränkt, aber beschissene Arschlöcher trifft den Nagel einfach auf den Kopf.«

 

Wie konnte das passieren? Meine Küche riecht plötzlich wie eine. Als Richard und ich nach Hause kamen, hatte meine Mutter das Huhn und die Kartoffeln bereits in den Ofen geschoben und den Tisch für das Abendessen gedeckt. Jetzt spielen Thomas und Molly im Frühstückszimmer, Richard steht am Herd und bereitet die Sauce zu, und Al ist draußen und fegt die Veranda. Für einen Augenblick kommt es mir so vor, als wären wir die bürgerliche englische Ausgabe der Waltons.

Reich mir mal den Balsamico, John Boy.

Sicher, Jim-Bob. Pa, leihst du mir heute Abend deinen Lexus?

Wir sind eine richtige Bilderbuchfamilie. Okay, ich bin ja nicht blöd. Natürlich sind wir keine Bilderbuchfamilie, nicht einmal mit viel Fantasie. Sagen wir daher einfach, dass wir ein sehr idyllisches Bild abgeben, angesichts ... angesichts allem.

Ich halte ein Glas Wein in der Hand, und das ist gut. Ich genieße es, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Diese blöde Natasha. Ich bin genauso wenig eine Alkoholikerin, wie sie ein netter Mensch ist.

»Weißt du was? Deine Bette Davies vorhin war große Klasse, Fran«, bemerkt Mum, während sie eine Karotte schält. »Hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, in deinen Beruf zurückzukehren?«

Ich muss mich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Ob ich jemals darüber nachgedacht habe, in meinen Beruf zurückzukehren? Ich denke, ich habe die postnatale Depression bereits erwähnt. Aber mit einem Mal scheint das Ewigkeiten zurückzuliegen.

»Ja, hast du schon einmal darüber nachgedacht?«, fragt Richard grinsend.

»Vielleicht irgendwann mal«, entgegne ich. Ich überlege, ob ich den beiden von meinem Telefonat mit Chris Sergeant erzählen soll, doch dann klingelt das Telefon. Ich gehe in die Diele und hebe ab.

Es ist Summer. »Ich wollte mich noch mal für gestern bedanken«, sagt sie. »Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Oh doch, das war nötig.«

»Nein, das war es nicht.«

»Du verstehst nicht«, beharre ich. »Ich musste das tun, um das Navigationsgerät auszuprobieren.«

Summer lacht. »Ich bin so froh, dass du mich davon abgehalten hast. Unglaublich, ich stand ganz dicht davor ... die Sache durchzuziehen. Aber ich will dieses Kind. Ich verstehe gar nicht, dass ich das nicht schon früher erkannt habe. Manchmal bin ich so dumm.«

Ich will gerade im Stil von Sureya antworten, dass man im Leben immer dazulernt (ich bin mir sicher, dass Sureya so etwas mal gesagt hat, allerdings bezog sich das damals womöglich auf ihre neue Frisur), aber Summer spricht bereits weiter.

»Was rede ich da? Nicht ich bin dumm, er ist der verdammte Blödmann. Willst du wissen, was er zu mir gesagt hat?«

»Ich nehme an, du sprichst von Laurence?«

»Von wem sonst? Er wollte wissen, wie ich mir sicher sein kann, dass das Kind von ihm ist.«

Ich pruste laut los, und Summer stimmt in mein Lachen ein. Aber sie ist mit Laurence noch nicht fertig. Noch lange nicht. Ich lasse sie ihren ganzen Frust auskotzen und werfe nur gelegentlich »Oh Mann, was für ein Idiot« und manchmal sogar ein klischeehaftes »Männer!« ein. Das Reden tut Summer offenbar gut. Sie befreit sich gerade von ihrem seelischen Müll, lässt den ganzen Mist aus sich heraus. Ein Ausdruck, der ganz sicher von Sureya stammt. Das waren ihre Worte, als sie mir ihr »fantastisches« Abführmittel auf Kräuterbasis gab, das leider überhaupt keine Wirkung zeigte.

Summer kommt nun zum Ende.

»Das war’s«, sagt sie. »Laurence ist Geschichte. Wenn du den Namen von diesem Vollidioten auch nur noch ein einziges Mal erwähnst, bringe ich dich um, okay? Was anderes, sag mir, wie geht es Sureya?«

»Ich musste auch gerade an sie denken, obwohl, eigentlich muss ich ständig an sie denken. Ich werde sie morgen besuchen. Verstehst du, nur damit sie weiß, dass sie immer noch auf mich zählen kann.«

»Sag ihr, dass ich ganz oft an sie denke. Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen.«

Zwischen Summer und mir entsteht betretenes Schweigen. Was gibt es auch noch zu sagen?

Ich breche das Schweigen: »Hör mal, wir zwei sollten mal wieder zusammen ausgehen. Wie wär’s mit Donnerstag? Ich bin tagsüber ohnehin in der Stadt wegen dem Aufnahmetermin.«

»Sicher! Lass uns das tun. Aber ich werde keinen Tropfen trinken. Ach ja, ich werde in letzter Zeit immer so früh müde, daher würde ich mich lieber früher als später mit dir treffen. Und bitte, ich möchte nirgendwohin, wo es laut ist. Oder wo die Luft vor Qualm steht.«

»Na, dann treffen wir uns am besten in der Bücherei.«

»Ja, das ist gut. Das wird bestimmt zum Schießen.«

Wir beenden das Telefonat, jede auf ihre Art zufrieden, denke ich.

Ich will gerade in die Küche zurückkehren, als das Telefon erneut klingelt.

»Mrs Clark? Hier ist Ron. Ron Penfold.«

»Ron.« Was will der denn am Sonntagabend?

»Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich möchte Ihnen noch gerne ein paar Takte zu gestern sagen. Ich schätze, Thomas war ziemlich am Boden.«

»Allerdings. Aber wissen Sie, das ist kein Beinbruch. Mir ist klar, dass Sie mit der Entscheidung nichts zu tun haben. Aber trotzdem sehr nett von Ihnen, dass Sie sich noch einmal melden.«

»Ich sage Ihnen, Mrs Clark, hätte ich zu entscheiden gehabt, ich hätte Ihrem Jungen eine Chance gegeben. Thomas ist zwar etwas klein geraten, aber das kann sich ändern. Und falls nicht, kann er die fehlenden Zentimeter mit seinem Talent wettmachen. Terry ist ein guter Trainer, aber unter uns gesagt, ich finde, er hat gestern die falsche Entscheidung getroffen.«

»Danke. Ich werde das an Thomas weitergeben. Das wird sein Selbstvertrauen stärken.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es ihm persönlich sage? Es wäre wirklich jammerschade, wenn er jetzt aufgibt. Vielleicht nützt es ja was, wenn ich mit ihm rede. Vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen.«

»Selbstverständlich nicht. Ich bin Ihnen sogar dankbar.«

»Das brauchen Sie nicht. Wenn Thomas den Durchbruch schafft, gelte ich als sein Entdecker. Das ist Dank genug.«

Ich rufe Thomas ans Telefon und lasse ihn dann alleine. Nun ja, fast jedenfalls, denn ich bleibe an der Küchentür stehen und lausche heimlich. Thomas sagt nicht viel, aber ich kann ein Lächeln in seinem Gesicht sehen, und das ist für mich ebenfalls Dank genug.