14.

Kurz vor elf morgens schreckte Thomas Keller aus seinen Albträumen hoch. Das Bettlaken und die Decke waren schweißnass. Er riss die Augen auf und rollte sich schwerfällig aus dem Bett, als hätte man ihn von einer Streckbank losgebunden. Die harte Landung auf dem Boden nahm er in Kauf. Müde kam er auf alle viere und kroch in eine Ecke des verdreckten Zimmers. Dort kauerte er und schaute sich gehetzt um, denn er witterte Gefahr. Sie drohte ihm vom Waisenhaus, von den Arbeitskollegen, von der Polizei …

Dann endlich registrierte er, wo er sich befand, und entspannte sich. Er atmete langsam ein und aus und rieb sich den Nacken, während er in das Licht blinzelte, das durch die behelfsmäßigen Vorhänge fiel.

Eine geschlagene Viertelstunde verharrte er in dieser kauernden Position und versuchte, sich in seinem Umfeld zu orientieren. Abertausend Eindrücke wirbelten ihm durch den Kopf. Unzählige Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf, fremde Stimmen flüsterten ihm ein, dieses und jenes zu tun – doch die Stimmen wurden sich nicht einig: Sie drängten ihn dazu, die Frau in dem unterirdischen Gewölbe zu töten und sich selbst das Leben zu nehmen. Dann wieder riefen sie ihm zu, er solle sich selbst umbringen und die Frau verschonen. Eine andere Stimme flüsterte ihm ein, seine Mutter zu suchen und zu töten.

Bring sie um und renn weg … Nein, töte deine Kollegen und dann dich … Geh ins Kinderheim und töte alle, die dir über den Weg laufen … Hast du schon deine alte Schule vergessen? Oder all die möglichen Adoptiveltern, die dich zurückgewiesen haben? … Überleg doch mal, wer dich alles im Leben abgewiesen hat! Dich nicht akzeptiert hat! … Töte so viele von ihnen wie möglich … Töte sie alle!

»Nein!«, schrie er, als die hässlichen Gedanken ihn zu überwältigen drohten. Gedanken, die ihn an die letzte Nacht erinnerten. Wie gut es sich angefühlt hatte, dieser Hure die Luft abzudrücken! »Das war anders«, kreischte er. »Sie hat mich verraten!«

Er sprang auf, stolperte zu der Kommode, in der er die kostbaren Briefe aufbewahrte. Am ganzen Körper zitternd, riss er die Schublade auf, tastete sich durch die Bündel, bis er die Briefe fand, die er suchte. Ein Bündel Briefe, alle an Hannah O’Brien adressiert. Hastig entfernte er das Gummiband, schüttete die Briefe auf der Kommode aus und verteilte sie so, dass er möglichst viele gleichzeitig sehen konnte. In seinem fiebrigen Eifer merkte er gar nicht, dass er sich längst in die Hose gefasst hatte. Seine Finger schlossen sich um sein Glied, bewegten sich auf und ab. Ja, redete er sich ein, bei all den anderen hast du dich geirrt, aber jetzt hast du die richtige Sam gefunden!

Er würde sie retten, und dann würde sie ihn vor den schrecklichen Gedanken bewahren. Ja, so war es vorherbestimmt. Sobald er Sam befreit hatte, würde er die anderen Briefe in eines der Ölfässer stopfen und verbrennen. Endlich wäre er auch die hässlichen Gedanken los. Aber was, wenn sie nicht verstand, was er tun musste? Würde sie die Opfer zu würdigen wissen, die er hatte bringen müssen? Ja, sicher, beruhigte er sich, das versteht sie schon, sie wird nicht über dich urteilen, das hat sie noch nie getan.

Aber zuerst musste er einen Fehler ausbügeln. Langsam zog er die Hand von den Briefen zurück und schlurfte ins Badezimmer.

*

Sally parkte den Wagen gut fünfzig Meter entfernt von der Adresse, die Trewsbury ihnen unter der Hand überlassen hatte. Falls Keller zu Hause war, wollten sie ihn nicht zu Tode erschrecken, indem sie mit kreischenden Reifen vor seiner Haustür hielten. Sie stiegen aus und gingen die vernachlässigte Straße entlang, die von dreistöckigen viktorianischen Reihenhäusern gesäumt war. Die meisten Wohneinheiten waren zu Apartments umgestaltet worden. Corrigan befürchtete bereits, dass Keller seinem Arbeitgeber eine falsche Adresse angegeben hatte oder, noch wahrscheinlicher, längst umgezogen war, ohne die neue Wohnung zu melden. Schließlich war er Postbote, sodass es kein Problem für ihn wäre, Post umzuleiten, die an ihn persönlich adressiert war.

Als sie sich dem Haus näherten, kamen auch Sally Zweifel an der Vorgehensweise.

»Sollten wir das nicht der TSG überlassen? Ein Zugriff, und sie haben ihn«, schlug sie vor.

»Nein.« Für Corrigan kam die Territorial Support Group, eine Sondereinsatzgruppe, auf die Sally anspielte, nicht infrage. Er ließ den Blick über die Fassade des Hauses schweifen. Selbst wenn Keller da war, bestand kein Zweifel, dass Deborah Thomson woanders festgehalten wurde. »Schauen wir uns zuerst hier um. Die TSG können wir immer noch rufen.«

»Wir könnten ihn beschatten lassen«, überlegte Sally. »Vielleicht führt er uns zu Deborah. Wenn wir ihn jetzt fassen, macht er den Mund vielleicht nicht auf. Wer weiß, wenn er’s drauf anlegt, lässt er die Frau in irgendeinem Loch verhungern, und wir können nichts machen.«

Corrigan schüttelte den Kopf. »So viel Zeit haben wir nicht. Karen Green wurde entführt, sieben Tage später lag sie tot im Wald. Louise Russell wird entführt, und wir finden sie fünf Tage später.« Er blieb stehen und wandte sich Sally zu. »Er zieht das Tempo an, Sally. Die Intervalle zwischen den Entführungen und den Morden werden kürzer. Wie viele Tage mag Deborah noch haben? Vier? Drei? Noch weniger?«

Er ging weiter. Sally folgte ihm. Sie musste beinahe laufen, um mit Corrigan Schritt halten zu können, bis sie die drei Stufen erreichten, die hinauf zur Haustür führten. Corrigans Blick fiel auf sechs Klingelknöpfe. Vermutlich sechs Wohneinheiten. Die Farbe an der Tür blätterte ab, und an vier von sechs Klingeln stand kein Name. Offenbar waren die Wohnungen nur vorübergehend an schwierige Sozialfälle vermietet – an Mietnomaden, die in der Großstadt nicht richtig sesshaft wurden und von Wohnung zu Wohnung zogen.

Corrigan drückte auf den einzigen Klingelknopf, neben dem ein halbwegs leserlicher Name stand. Nach einer Zeitspanne, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, meldete sich eine Stimme über die rauschende Sprechanlage.

»Ja?« Es war die Stimme einer Frau.

»Polizei«, sagte Corrigan so leise wie möglich in die Wechselsprechanlage. »Wir hätten da eine Frage.«

Schweigen. »Worum geht’s denn?«, hörten sie aus dem Rauschen und Knacken heraus.

»Wenn Sie uns die Tür aufmachen, erkläre ich es Ihnen.«

»Augenblick. Ich komme runter.« Sie warteten und hörten, dass irgendwo im Treppenhaus Türen geöffnet wurden und wieder zufielen. Schlurfende Schritte näherten sich dem Hauseingang. Dann rastete eine Sicherheitskette ein, und die Tür wurde ein Stück weit geöffnet. Das rundliche, gerötete Gesicht einer Frau Mitte fünfzig erschien im Türspalt. Als sie den Mund aufmachte, konnte man ihre fleckigen Zähne erahnen – Spuren jahrzehntelangen Zigarettenkonsums.

»Ja?«, fragte sie argwöhnisch und mit starkem Südlondon-Akzent.

Corrigan musterte die Frau durch den Türspalt, die alten, ausgetretenen Pantoffeln an ihren Füßen, die ausgefranste Strickjacke und das graue Haar, das ihr strähnig um den Kopf hing. Sie schien nicht mehr gut laufen zu können; ihre Beine waren geschwollen.

»Detective Inspector Corrigan«, stellte er sich vor und hielt der Frau den Dienstausweis hin.

Der Blick der Frau schweifte zu Sally. Offenbar gab sie sich mit einem Dienstausweis allein nicht zufrieden. Sally seufzte, zückte ihren Ausweis und zeigte ihn der argwöhnischen Frau, die sofort wieder Corrigan anschaute.

»Wir wollen wissen, ob hier ein bestimmter Mann wohnt. Könnten wir kurz reinkommen?«

Der Blick der Frau wanderte zwischen Corrigan und Sally hin und her. Kostbare Zeit verstrich. »Wenn’s sein muss«, murmelte sie schließlich vor sich hin. Gemächlich löste sie die Kette und ließ zu, dass Corrigan die Tür aufdrückte und über die Schwelle trat. Sally folgte ihm. Im muffigen Hausflur wurde es bereits mit drei Personen eng.

»Möchten Sie was trinken? Ein Tee?«

Corrigan hatte eine schmutzige Tasse mit abgestandenem Tee vor Augen. »Nein, danke, wir sind sehr in Eile …«

»Also, mir macht’s nichts aus. Wollte sowieso gerade Wasser aufsetzen.«

Corrigan sprach einfach weiter. »Mrs. ...?«

»Miss. Miss Rose Vickery.«

»Miss Vickery, sagt Ihnen …«

»Aber Sie können Rose zu mir sagen.«

»Rose. Sagt Ihnen der Name Thomas Keller etwas? Wohnt jemand mit diesen Namen hier im Haus?«

»Hier ist ein Kommen und ein Gehen«, klagte sie. »Keiner bleibt lange. Außer mir. Ich wohne hier fast zwanzig Jahre. Damals kannte man noch die Nachbarn. Heute weiß ich nicht mehr, wer wo wohnt. Ein Kommen und ein Gehen ist das. Ich höre, wie Türen schlagen, aber nie sehe ich jemand. Deshalb bleibe ich lieber für mich.«

»Wohnen Sie hier zur Miete, Rose?«

»Ja, sicher. Alle Wohnungen hier sind vermietet. Unser Vermieter ist Mr. Williams.«

Corrigan wollte schon nach der Telefonnummer des Mannes fragen, als Sally ihn unterbrach. »Chef.« Er sah, dass sie ein Bündel Briefe in der Hand hielt, die sie vom Boden aufgeklaubt hatte. Das meiste waren offenbar Werbeflyer. Sie ging die Post durch und reichte ihm einen Brief. Corrigans Blick fiel auf den Namen und die Anschrift: Thomas Keller, Apartment 4, 184 Ravenscroft Road, Penge.

»Das ist doch hier 184 Ravenscroft Road?«

»Ja«, kam die verhaltene Antwort. Die Frau war nervös.

»Und hier steht der Name des Mannes, nach dem ich Sie gerade gefragt habe. Thomas Keller.«

»Ja, aber ich guck mir nicht die Post anderer Leute an«, protestierte sie. »Außerdem kommt hier immer noch Post für Leute, die längst nicht mehr hier wohnen.«

»Kommen Sie«, sagte Corrigan. »Sie sehen doch die Namen auf den Briefen, wenn Sie Ihre eigene Post durchgehen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Damit will ich sagen, dass Sie genau wissen, wer hier wohnt und wer nicht. Also, wohnt Thomas Keller in Apartment vier? Ich muss das wissen!«, verlangte er mit scharfer Stimme.

Rose zuckte zusammen. »Ich weiß es nicht«, beharrte sie und zog sich die alte Strickjacke enger um die Schultern.

Corrigan überlegte. »Er ist Postbote. Vielleicht erinnern Sie sich, ihn schon mal in Dienstkleidung gesehen zu haben.«

»Oh, ja«, sagte Rose und lächelte befreit, »den meinen Sie? Den Postjungen? Ja, der hat hier mal gewohnt. Aber er ist weggezogen. Bestimmt schon vor zwei Jahren. Kommt immer mal wieder, um seine Post zu holen. Ich vermute, dass er immer noch den Schlüssel für die Haustür hat – haben viele der alten Mieter. Habe ihn noch vor ein paar Wochen gesehen. Ich erinnere mich, weil ich ihn fragte, warum er sich die Post nicht nachsenden lässt. Da er doch Postbote ist, wissen Sie?«

Corrigan und Sally sahen einander an. Sie mussten weiter.

»Sie kennen nicht zufällig seine neue Adresse?« Corrigan machte sich keine Hoffnungen. Es war nur ein Schuss ins Blaue.

»Nein, mein Bester«, antwortete Rose mit einem milden Lächeln.

»Was jetzt?«, fragte Sally.

Corrigan starrte auf das Schreiben in seinen Händen und biss sich gedanklich an dem Namen fest. »Ich kenne diesen Namen, verdammt«, sagte er. »Aber wo habe ich den gesehen?« Er schüttelte den Kopf, als müsse er sich von unnützem Ballast befreien. »Bleibt noch Samantha Shaw«, sagte er dann. »Wir müssen zu ihr. Vielleicht weiß sie, wo er jetzt wohnt.«

»Soll ich ihm sagen, dass Sie ihn suchen?«, fragte Rose. »Dem Postjungen, meine ich. Soll er sich bei Ihnen melden, wenn ich ihn sehe?«

»Nein«, sagte Corrigan. »Machen Sie sich keine Gedanken, Rose. Ich sehe ihn früh genug.«

*

Anna war auf dem Revier in Peckham gewesen, als der Anruf kam. Sie sollte nach New Scotland Yard kommen. In der Wache hatte niemand gemerkt, dass sie zur Tür hinausgeschlüpft war. Im sonntäglichen Verkehr gelangte man recht schnell von einer Seite der Themse auf die andere, und die Gehwege rund um New Scotland Yard, auf denen sich sonst die Menschen drängten, waren überschaubar. Anna ging an den bewaffneten Wachmännern vorbei, die offen ihre Maschinenpistolen zur Schau stellten. Vor etwa zehn Jahren wäre dieser militärische Anblick in Londons Straßen undenkbar gewesen.

Anna zeigte den Wachleuten in Zivil, die am Eingangsbereich neben dem Metalldetektor standen, ihren Ausweis und ging den langen Flur hinunter, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte. Dort befanden sich die Aufzüge. Sie fuhr bis in den vorletzten Stock, in dem Chief Constable Robert Addis sein Büro hatte, der stellvertretende Chef der Abteilung für schwere Verbrechen und Bandenkriminalität.

Als Anna den Vorraum betrat, schaute sie sich nach der stets präsenten Sekretärin um, die Addis’ Büro wie ein Schießhund bewachte und von ihrem Platz aus jeden argwöhnisch musterte, der die Stirn hatte, eine Audienz bei der Gottheit nebenan zu erbitten. Doch der Stuhl am Schreibtisch war leer. Anna ging ein paar Schritte weiter in den Raum und hörte das leise Rascheln von Papier aus dem angrenzenden Zimmer. Vorsichtig ging sie in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und fuhr zusammen, als sie die dröhnende Stimme eines Mannes hörte.

»Anna! Schön, dass Sie kommen konnten. Kommen Sie rein, setzen Sie sich.«

Sie nahm auf der anderen Seite des großen Schreibtisches Platz und schaute Addis an, der lächelte und die Hände wie zum Gebet gefaltet hatte.

»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, fragte sie. »Hier kommen doch bestimmt jede Menge Leute vorbei.«

»Aber nicht an Sonntagen. Selbst die viel gelobte Metropolitan Police lässt es dann langsam angehen. Sollte ich je in Erwägung ziehen, ein Verbrechen zu begehen, würde ich mich für einen Sonntag entscheiden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Commissioners auch sonntags arbeiten«, meinte Anna. »Wären Sie nicht lieber zu Hause bei Ihrer Familie?«

»Meine Familie kennt das«, versicherte Addis ihr, und das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. »Außerdem erwartet niemand von mir, dass ich sonntags arbeite. Ich will es so. Ich war immer schon der Ansicht, dass der Sonntag ein ausgezeichneter Tag ist, um sich mit einigen der … sagen wir, delikateren Angelegenheiten zu beschäftigen. Und der Sonntag bietet weitere Vorteile. Es sind nämlich kaum Leute da, die zufällig irgendwas aufschnappen, was sie nichts angeht.«

»Sie sprechen von Ihrer Sekretärin?«

Das Lächeln kehrte in Addis’ Gesicht zurück. »Haben Sie ihn mitgebracht? Den Bericht?«

»Ja. Er ist so gut wie fertig. Allerdings habe ich angesichts der Umstände unter enormem Zeitdruck gestanden. Außerdem erwies sich die Person, um die es geht, nicht als sonderlich kooperativ.«

»Sie haben trotzdem genug Informationen?«

»Ich denke, ja. Aber ich habe Bedenken, da es um vertrauliche Dinge geht. Sie wissen ja, dass ich in meinem Beruf der Schweigepflicht unterliege. Für mich ist es ethisch ein bisschen zweifelhaft, einen Bericht wie diesen aus den Händen zu geben. Meine Klienten können sich stets auf meine Verschwiegenheit verlassen.«

»Klienten? Verschwiegenheit?« Addis bewegte die Finger der betenden Hände. »Aber meine liebe Anna, ich bin doch Ihr Kunde, haben Sie das schon vergessen? Ich habe Sie beauftragt, ein psychologisches Profil zu erstellen. Als Gegenleistung gewähre ich Ihnen Zugang zu Bereichen und Informationen, von denen andere Mitglieder Ihres Berufsstandes nur träumen können. Ein Arrangement in beiderseitigem Einvernehmen, da würden Sie mir doch zustimmen?«

»Aber was ist mit seinen Grundrechten? Er hat ein Recht darauf, über diese Schritte informiert zu werden.«

»Anna, Anna. Er ist Polizist. Ich fürchte, dass wir in unserem Beruf nicht immer in den Genuss dieser Vorteile kommen. Informationsfreiheit, Recht auf Streik, Gesundheits- und Sicherheitsauflagen, Begrenzung der Arbeitszeit – all diese Dinge sind für uns nicht selbstverständlich. Würde das alles für uns gelten, würden wir kaum etwas schaffen, nicht wahr? Also, zum Bericht, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Anna seufzte, zog eine Akte aus ihrer Tasche und schob sie dem ernst dreinblickenden Addis über den Tisch zu.

»Da steht alles drin«, sagte sie. »Zumindest alles, was ich in der kurzen Zeit in Erfahrung bringen konnte.«

»Gut.« Versonnen strich Addis mit einer Hand über die Aktenmappe. »Und er ahnt nichts?«

»Ich glaube nicht. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Er ist sehr intelligent. Ein paar Mal habe ich versucht, mich intensiver mit ihm zu unterhalten, aber er blieb argwöhnisch und machte schnell dicht. Die meisten Erkenntnisse in diesem Bericht habe ich durch Beobachtung und Gespräche mit seinen Kollegen gewonnen.«

»Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie gelangt?«

»Steht alles in meinem Bericht.«

»Sicher, aber vielleicht wären Sie so nett, die wichtigsten Details zusammenzufassen. Umso leichter wird der Einstieg für mich.«

»Also gut. Wie gesagt, er ist sehr intelligent, hat eine ausgeprägte Beobachtungsgabe und Entschlusskraft. Ich würde ihn nicht unbedingt als klassische Führungspersönlichkeit bezeichnen, aber seine Untergebenen folgen ihm bereitwillig. Man kann sagen, dass sie ihm vertrauen, vor allem auf seine Fähigkeiten. Und seine Frau und die Kinder geben ihm Halt. Er braucht diesen Ruhepol, damit er seine Fähigkeit ausspielen kann, sich auf die kompliziertesten Fälle einzulassen. Darüber hinaus besitzt er die unglaubliche Fähigkeit, die Vorstellungskraft mit der Erfahrung zu verbinden. Auf diese Weise ist es ihm möglich, Geschehnisse nicht nur zu rekonstruieren, sondern zu visualisieren.«

»Was genau meinen Sie damit?«

»Dass er vergangene Ereignisse wieder aufleben lassen kann. Wenn er an einem Tatort ermittelt, laufen die Dinge, die sich dort abgespielt haben, sozusagen noch einmal vor ihm ab. Dann sieht er vor seinem geistigen Auge, was geschehen ist.«

»Bewegen wir uns hier im Bereich der übersinnlichen Fähigkeiten?«

»Nein. Und wenn Sie mich fragen, hat niemand übersinnliche Fähigkeiten. Corrigan hat lediglich eine hoch entwickelte imaginierte Projektion, das heißt, mithilfe seiner Vorstellungskraft formen sich die Eindrücke lebendig heraus. Diese Fähigkeit dürfte bei Polizisten, insbesondere Detectives, häufiger vorkommen, als man denkt. Wenn man etwas mehrmals gesehen hat und später herausfindet, was zu diesem Ereignis führte, wird man die Tatorte sicher in einem anderen Licht sehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man regelrecht sieht, was geschehen ist, noch bevor Indizien oder Zeugenaussagen ausgewertet sind.«

»Und mehr macht er nicht?«, fragte Addis. »Er verbindet seine Erfahrung mit der Imagination?«

»Größtenteils.«

»Aber nicht nur?«

»Nein, nicht ausschließlich.«

»Da ist also noch etwas anderes? Etwas, das ihn dazu befähigt, diese … Einblicke zu haben?«

»Davon bin ich überzeugt. Gibt es etwas in seiner Vergangenheit, irgendein Ereignis im Dienst, das ihm psychisch zugesetzt haben könnte? Gab es einen Vorfall, unter dessen Folgen er längere Zeit gelitten hat? Eine posttraumatische Belastungsstörung?«

Addis verneinte mit einem Kopfschütteln. »Nein. Ein paar kleinere Verletzungen, aber nichts Ungewöhnliches für einen Ermittler.«

»Seiner Akte entnehme ich, dass er sich undercover in einen Pädophilenring eingeschleust hat. Wenn ich es richtig behalten habe, sind die Dinge im Laufe dieser Operation ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Könnte ihn das belastet haben?«

»Ich bin mit dem Ablauf dieses Einsatzes vertraut«, bestätigte Addis. »Corrigan kehrte in seinen normalen Tätigkeitsbereich zurück. Es gab keinen Grund, spezielle … Vereinbarungen zu treffen.«

»Wirklich?«, hakte Anna nach. »Mir ist nämlich aufgefallen, dass der Leiter der damaligen Undercover-Operation, Detective Sergeant Chopra, Bedenken hatte, der Einsatz könne sich auf die Psyche von DI Corrigan auswirken. Er hat sogar mit dem Gedanken gespielt, die Aktion abzubrechen.«

»Eine Überreaktion«, wiegelte Addis ab. »Der Einsatz wurde erfolgreich zu Ende geführt, und Corrigan hat seinen Job gemacht. Also, gibt es sonst noch etwas? Vielleicht in seiner Vergangenheit? Ehe er in den Polizeidienst eingetreten ist?«

»Möglich«, räumte sie ein. »Aber wenn es da etwas gibt, hat er es so tief in seinem Unterbewusstsein vergraben, dass niemand Zugriff darauf hat. Auch ich kann nur Vermutungen anstellen.«

»Und in welche Richtung tendieren Sie?«

»Das steht im Bericht. Sie sollten ihn in Ruhe lesen.«

»Also gut«, sagte Addis. »Ich freue mich drauf.«

*

Seitdem Deborah Thomson vor Stunden mit angesehen hatte, wie Louise Russell aus dem Verlies gezerrt worden war, hatte sie nichts anderes tun können, als durch die Gitterstäbe ihres Gefängnisses zu starren. Im trüben Licht erahnte sie den anderen Käfig, dessen Tür wie als Mahnung offen stand. Immer noch hoffte sie auf das Quietschen und Knarren der Kellertür … sie wünschte, Louises Stimme zu hören und zu sehen, wie der Irre sie wieder in den Käfig sperrte. Alles wäre ihr lieber gewesen als die Einsamkeit in diesem kalten Verlies. Doch tief im Innern wusste sie, wie die Wahrheit aussah: Louise würde nie mehr zurückkehren. Sie war tot.

Deborah hatte schon so lange in der Dunkelheit geweint, dass sie keine Tränen mehr hatte. Infolge der Dehydrierung war ihre Haut trocken, schlaff und empfindlich geworden. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas getrunken hatte, und ihr Mund und ihre Kehle waren ausgetrocknet. Die Zunge klebte am Gaumen fest, und allmählich zog sich das Zahnfleisch über die Zähne zurück. Noch ein Tag ohne Wasser, und der Körper würde die lebenswichtigen Organe nicht mehr mit ausreichend Flüssigkeit versorgen können. Jetzt schalt sie sich dafür, so viele kostbare Tränen vergossen zu haben – Wasser, das auf den harten Boden getropft und verdunstet war.

Was ihre Brüder wohl von ihr gedacht hätten, hätten sie ihre Schwester in diesem Zustand gesehen. Eine Memme, die in der Ecke hockte und wie ein Kind heulte, anstatt sich Gedanken über die Flucht zu machen! Müsste sie nicht längst überlegen, wie sie sich gegen diesen Bastard zur Wehr setzen konnte? Ja, ihre Brüder hätten sich für ihre kleine Schwester geschämt – die taffe Deborah ließ sich von einem kranken Freak unterkriegen. Bei nächster Gelegenheit würde sie alles auf eine Karte setzen, trotz der angeschlagenen Kniescheibe. Beinahe hätte sie diesen Mistkerl niedergerungen. Wäre sie nicht auf der Treppe gestürzt, wäre sie ihm entkommen.

Deborah schwor sich, denselben Fehler nicht noch einmal zu machen. Beim nächsten Mal würde sie nicht Hals über Kopf fliehen, sondern sich diesem Psycho stellen und so lange auf ihn einprügeln, bis er sich nicht mehr rührte. Dann würde sie fliehen und Hilfe holen. Vielleicht wäre es sogar besser, ihren Brüdern zu erzählen, was dieser Bastard mit ihr angestellt hatte. Die Jungs würden schon dafür sorgen, dass er dafür bezahlte. Dann bräuchten sie die Polizei gar nicht erst einzuschalten. Es gäbe keine Verhöre, keine peinlichen Aussagen vor Gericht. Ja, ihre Brüder würden den Hurensohn leiden lassen. Seine Qualen wären noch schlimmer als das, was sie, Deborah, hatte erdulden müssen. Und wenn sie mit ihm fertig waren, würden sie ihn lebendig in irgendeinem Loch verscharren. Das wäre die gerechte Strafe.

Ihre Rachefantasien und Foltervisionen machten ihr kurzzeitig Mut, aber als das Vorhängeschloss oben gegen die Metalltür schlug, kehrten die Schrecken der letzten Stunden mit aller Macht zurück. Vergessen waren die großen Brüder und die Möglichkeit der Flucht. Einen flüchtigen Augenblick gab Deborah sich der Hoffnung hin, jemand anders könnte an dem Schloss hantieren. Allein bei der Vorstellung, dass man sie gefunden hatte, raste ihr Puls. Am liebsten hätte sie mit aller Kraft um Hilfe gerufen und mögliche Retter auf sich aufmerksam gemacht, aber da sie keine Stimmen vernahm, schwieg sie. Sekunden später hörte sie, wie die Metalltür mit schabenden Geräuschen aufschwang. Dann folgten seine langsamen, gleichmäßigen Schritte auf den Stufen.

Wieder starrte Deborah auf den anderen Käfig. Sie war allein. Er war nicht gekommen, um eine Mitgefangene aufzusuchen. Louise war fort.

Er kam ihretwegen.

*

Sally hielt in der stillen Straße in Catford. Die kleinen Neubauten standen nicht in einer Reihe, sondern versetzt, um den Besitzern das Gefühl zu geben, mehr Privatsphäre zu haben. Corrigan stieg schweigend aus und bewegte sich wie ein Schlafwandler auf Haus Nummer 16 in der Sangley Road zu, als würde er von dem hellbraunen Klinker, den weißen Fensterrahmen und der kleinen Garage magisch angezogen – vor allem aber vom Eingangsbereich, der von der Straße aus nicht einsehbar war.

»Kommt einem bekannt vor«, sagte Sally, die neben ihm ging.

Corrigan antwortete nicht, hielt geradewegs auf die Haustür zu. Das Pulsieren hinter seinen Schläfen wurde zu einem dumpfen Dröhnen. In wenigen Augenblicken würde er der Frau gegenüberstehen, die der irre Killer in seiner kranken Fantasie zu einer Göttin stilisiert hatte. Ihn überkam das sonderbare Gefühl, dieser Frau schon zweimal begegnet zu sein … allerdings hatte sie in beiden Fällen nicht mehr gelebt. Während er sich der Tür näherte, erlebte er dasselbe verwirrende Déjà-vu. Deutlich spürte er, dass der Killer an diesem Ort gewesen war … genauso war es auch an den Tatorten gewesen. Corrigan wusste, warum der Mann hier gewesen war.

Er drückte auf den Klingelknopf, trat einen halben Schritt zurück und wartete. Er spürte, dass jemand im Haus war. Dann hörte er gedämpfte Stimmen. Kurz darauf erahnte er eine Gestalt im Hausflur, die zur Tür kam, doch das Gesicht wurde vom dicken Glaseinsatz auf groteske Weise verzerrt. Die Person kam schnellen Schrittes zur Tür, selbstbewusst und resolut, nicht wie jemand, der in ständiger Angst vor Stalkern lebte.

Als die Tür aufging, fiel Corrigans Blick auf eine junge Frau mit kurzem braunem Haar. Sie lächelte charmant, und ihre grünen Augen funkelten vor Vitalität.

»Hi«, grüßte sie arglos. Es war Sonntag, und hier und da brach die Sonne durch die tief hängenden Wolken. Ihr Haar war noch feucht von der Dusche; einzelne Strähnen klebten ihr auf der Stirn und an den Schläfen. Corrigan musste sofort daran denken, wie er der toten Karen Green das Haar sanft aus der kalten Stirn gestrichen hatte, als er in dem einsamen Waldstück neben ihr kauerte. Nie hätte er gedacht, so plötzlich, so schlagartig an die Ermordeten denken zu müssen, die der Killer als Ersatz für die Frau genommen hatte, die jetzt vor ihm stand.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Sam, und ihr Lächeln schwand ein wenig.

Corrigan rief sich in Erinnerung, warum er hier war, und zückte seinen Dienstausweis. »Sie sind Samantha Shaw?«, erkundigte er sich routinemäßig.

»Ja, klar. Stimmt was nicht?« Das Lächeln war verschwunden.

Corrigan ignorierte die Bedenken der jungen Frau, die offenbar befürchtete, einem Familienangehörigen könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. »Ich bin Detective Inspector Corrigan, das ist Detective Sergeant Jones. Es geht um Thomas Keller. Wir müssen wissen, wo er sich aufhält. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«

Sam schaute ihn ungläubig an, ehe sie einen Blick über die Schulter warf und flüsterte. »Tommy? Es geht um Tommy?«

»Ja«, antwortete Corrigan kühl. »Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Warum fragen Sie mich das? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir Kinder waren. Nicht nach …«

»Wir wissen, was damals geschehen ist«, betonte er. »Und wir wissen auch, dass er Sie belästigt hat …«

»Nein«, unterbrach sie ihn energisch. »Er hat mich beobachtet, aber nicht belästigt. Meine Eltern haben den Vorfall damals gemeldet, nicht ich.«

»Das hört sich an, als würden Sie noch so etwas wie Zuneigung für ihn empfinden.« Corrigans Worte klangen anklagend.

»Tommys Kindheit war die Hölle. Er hat mir leidgetan. Ich dachte, ich könnte ihm helfen. Ich wollte nicht, dass es noch schlimmer für ihn wird, vor allem nicht nach …«

»Könnten wir kurz reinkommen und uns weiter mit Ihnen unterhalten?«, fragte Sally.

»Nein, lieber nicht«, sagte Sam. »Ian weiß von alldem nichts, und ich möchte, dass es so bleibt.«

»Haben Sie Thomas Keller je wiedergesehen?«, hakte Corrigan nach. »Seit dem Übergriff und der Belästigung?«

»Nein«, entgegnete sie, und er glaubte ihr. »Er durfte damals nicht mehr auf meine Schule. Später hörte ich, dass er noch im Kinderheim war. Aber ich habe ihn nie wieder gesehen. Ehrlich gesagt hatte ich ihn fast vergessen, bis gerade eben … und ich möchte mich auch nicht mehr mit ihm belasten. Tommy ist nicht mehr mein Problem.«

»Sie wollen mir erzählen, dass Sie ihn so gut wie vergessen haben? Nach allem, was Ihnen als junges Mädchen widerfahren ist?«

»Ja.« Sie war eine schlechte Lügnerin, aber Corrigan wollte es dabei belassen. »Vor einiger Zeit habe ich eine Klassenkameradin von damals getroffen. Sie hat mir erzählt, sie habe Tommy gesehen. Er ist jetzt Postbote. Ich habe mich für ihn gefreut. Ich dachte, vielleicht hat sein Leben sich zum Guten gewendet, trotz all der Dinge, die passiert sind. Es tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

»Verstehe«, erwiderte Corrigan, gab sich aber noch nicht zufrieden. »Eine Sache noch. Wurde in letzter Zeit bei Ihnen eingebrochen? Vor ein paar Wochen oder Monaten? Haben Sie etwas vermisst? Oder ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Samantha sah inzwischen besorgt aus. »Ist Tommy in Schwierigkeiten? Hat er etwas verbrochen? Sind Sie deswegen gekommen?«

»Beantworten Sie bitte meine Frage.«

»Nein«, erwiderte sie scharf. »Hier wurde nicht eingebrochen, und wir vermissen auch nichts.«

»Ich möchte Sie bitten, sich genau zu erinnern«, beharrte Corrigan. »Es geht nicht unbedingt um einen typischen Einbruch. Vielleicht waren es nur Kleinigkeiten, die Sie vermisst haben …« Er sah etwas in ihren Augen aufflackern. »Samantha, Sie können ihn nicht ewig beschützen. Sie sind nicht mehr das Mädchen von zwölf Jahren. Und er ist kein Junge mehr. Er ist gefährlich, sehr viel gefährlicher, als Sie sich auch nur vorstellen können. Ich muss Sie bitten, meine Frage zu beantworten.«

Sie seufzte, schüttelte den Kopf. »Okay, ja. Es ist ein paar Monate her. Ich hatte ein Bad genommen und war im Schlafzimmer. Ich wollte meine Bodylotion holen, aber sie war nicht mehr auf der Kommode. Ich habe überall gesucht, konnte sie aber nirgends finden. Ich habe Ian gefragt, ob er sie woanders hingestellt hat, aber er wusste von nichts. Damals hatten wir gerade eine neue Putzfrau, weil wir beide arbeiten. Ich dachte, sie hätte die Creme vielleicht mitgehen lassen.«

»Fehlte sonst noch etwas?«

»Ein paar Sachen, ja, Kleinigkeiten. Ein Fläschchen Parfum.«

»Black Orchid. Und Ihre Bodylotion ist von Elemis, richtig?«

Sam starrte ihn offenen Mundes an. Ihr Blick wurde argwöhnisch. »Woher wissen Sie das? Von wem haben Sie das gehört?«

»Nur so geraten«, antwortete Corrigan. »Sie haben gerade gesagt, dass noch andere Dinge gestohlen wurden. Um was handelt es sich?«

»Ein paar Kleidungsstücke von mir. Ein Rock, eine Bluse und ein Sweater, glaube ich. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Dauernd verschwindet irgendwas … in der Reinigung, bei der Arbeit.«

Kleidungsstücke.

Natürlich, schoss es Corrigan durch den Kopf. Er ärgerte sich, dass er nicht früher darauf gekommen war. Er gab den Frauen Sams Kleidung, die er immer wieder verwendete, bei jedem seiner Opfer. Deshalb waren die Toten fast nackt gewesen. Er nahm einer Frau die Sachen weg und gab sie der nächsten – immer dann, wenn er sich einredete, doch nicht die richtige Samantha Shaw gefunden zu haben.

»Haben Sie das der Polizei gemeldet?«

»Soll das ein Scherz sein? Die hätten doch gedacht, ich bin nicht ganz richtig im Kopf.«

»Haben Sie überhaupt daran gedacht, dass es Tommy gewesen sein könnte? Tief im Innern, meine ich. Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, er könnte bei Ihnen im Haus gewesen ein? Haben Sie sich nicht vorgestellt, wie er in Ihr Haus einsteigt, Ihr Schlafzimmer betritt und das Parfum und die Creme wegnimmt?«

»Ich … ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, flüsterte Sam.

»Doch. Sie wissen genau, wovon ich spreche«, sagte Corrigan. »Aber für Sie war es wichtiger, die Vergangenheit ruhen zu lassen, anstatt sich jemandem anzuvertrauen und zuzugeben, wovor Sie sich am meisten fürchten.«

»Und wovor sollte ich mich fürchten?«

»Dass er wiederkommt«, sagte Corrigan. »Dass Thomas Keller nach all den Jahren wieder bei Ihnen auftaucht.«

»Sie wissen gar nichts über meine Ängste!«, entgegnete sie kalt.

»Ich weiß mehr, als Sie glauben.«

Sally hatte Corrigan schon in verschiedenen Rollen gesehen, aber diese war sogar für sie neu. »Das führt uns auch nicht zu Keller, Chef«, rief sie ihm in Erinnerung und wandte sich Samantha zu. »Wenn Sie nicht wissen, wo er ist, können Sie uns nicht helfen. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir bleiben in Verbindung.«

Sie blickte Corrigan an, in der Hoffnung, endlich gehen zu können, doch er stand stocksteif vor Samanthas Tür und hielt den Blick der jungen Frau gefangen. Er war überzeugt davon, dass sie ihnen weitere Informationen liefern konnte, auch wenn es ihr selbst noch gar nicht bewusst war. Er überließ das Fragen seinem bohrenden Blick, bis Samantha schließlich antwortete.

»Also gut, da ist nur noch eine Sache. Früher hat Tommy immer erzählt, er wolle sich später mal auf einem Bauernhof niederlassen. Mehr weiß ich aber wirklich nicht.«

Mit einem Mal schaute Corrigan zu Boden, streckte die rechte Hand nach Samanthas Gesicht aus und spreizte die Finger, als wollte er ihre Worte wie mit einem Netz einfangen, ehe sie ihm entglitten und für immer verloren wären. »Was haben Sie da gerade gesagt?«, wisperte er und lauschte, die Augen geschlossen.

»Ich sagte, Tommy hat immer von einem Bauernhof geträumt. Ich nehme an, er wollte möglichst weit weg von den Leuten wohnen …« Sie redete weiter, doch Corrigan wandte sich halb ab und war mit den Gedanken längst woanders. Er entfernte sich ein paar Schritte von der Haustür, zog das Handy aus der Tasche und rief Donnelly an.

»Chef.«

»Sie sind noch im Büro?«

»Sicher.«

»Thomas Keller. Ich weiß jetzt, wo ich diesen Namen zuletzt gesehen habe.« Corrigan machte eine gewichtige Pause. »Im Bericht zweier Streifenpolizisten. Sie haben sich abgelegene Orte in einem bestimmten Umkreis angeschaut. Darunter war eine Art Gehöft. Der Mann, der dort lebt, heißt Thomas Keller.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Donnelly. »Wir haben Hunderte abgelegene Orte überprüft, ganz zu schweigen von den Verkehrskontrollen und anderen Formularen mit Namen, Namen und noch mal Namen.«

»Samantha Shaw hat mir eben erzählt, dass Keller immer von einem Bauernhof geträumt hat. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder … an den Namen in diesem Bericht. Aber ich weiß die Adresse nicht mehr. Der Bericht müsste noch in meinem Büro liegen. Sie müssen ihn finden. Suchen Sie so lange in den Stapeln, bis Sie ihn gefunden haben, Dave.«

»Oh Mann, Chef, Sie wissen doch, wie es in Ihrem Büro aussieht. Das kann Tage dauern.«

»Nein«, beharrte Corrigan. »Die Berichte von den Kollegen, die über Land gefahren sind, liegen auf einem extra Stapel. Genau wie die Formulare von den Befragungen der Nachbarn. Dann die Verkehrskontrollen, alles hübsch voneinander getrennt. Der Stapel, den wir brauchen, müsste kleiner sein als die anderen. Ich bleibe in der Leitung, während Sie suchen …«

Donnelly quälte sich aus seinem Stuhl und ging in Corrigans Büro. »Bin unterwegs, Chef, Augenblick.« Er überflog die Stapel, bis er den richtigen gefunden hatte. »Also, das haben wir gleich …« Er setzte sich an Corrigans Schreibtisch und blies die Wangen auf, während er einen Bericht nach dem anderen im Schnelldurchlauf überflog und nur auf die Namen achtete. Währenddessen wartete Corrigan ungeduldig. Er spürte, dass seine Hand zitterte. Immer wieder hörte er, wie Donnelly einen Bericht nach dem anderen zur Seite legte. »Der nicht …« Dann: »Auch nichts … der auch nicht …« Wieder verstrichen Sekunden. »Nichts«, bis Donnellys Tonfall sich schlagartig änderte. »Verdammte Scheiße«, entfuhr es ihm. »Wie haben Sie sich daran erinnern können?«

Corrigan brauchte nicht nachzufragen, wusste er doch, dass Donnelly fündig geworden war. »Die Adresse, Dave.«

»Das Gehöft liegt in Keston, an der Grenze zu Kent, in der Nähe von Shire Lane. Scheint früher eine Geflügelfarm gewesen zu sein. Der Mann dort hat unseren Beamten seinen Führerschein gezeigt, da er offenbar den Ausweis nicht zur Hand hatte. Keine weiteren Vorkommnisse, laut Bericht. Soll ich die Sondereinsatzgruppe benachrichtigen? Oder den Hof beschatten lassen? Auf diese Weise finden wir heraus, ob er Deborah Thomson dort festhält.«

»Nein«, sagte Corrigan. »Wir müssen damit rechnen, dass der Hof nicht sein fester Wohnsitz ist. Ich schaue mich zunächst dort um, allein. Sobald ich weiß, ob er da ist, rufe ich Sie an. Dann überlegen wir, ob wir die Sondereinsatzgruppe holen.«

Donnelly hatte seine Zweifel. »Also gut, Chef, wenn Sie es so haben wollen.«

»Ja, genau so.« Corrigan beendete das Gespräch. Er spürte, dass Sally hinter ihm stand. »Wir wissen, wo er wohnt.«

»Woher?«

»Erkläre ich Ihnen unterwegs.« Corrigan ging bereits zum Wagen.

»Unterwegs wohin?«

»Was glauben Sie? Wir fahren zu dem Hof, auf dem Keller wohnt.«

»Nur wir beide? Sollten wir nicht das Sondereinsatzkommando benachrichtigen oder zumindest das Team zusammentrommeln? Wir wissen doch, dass der Kerl Elektroschocker benutzt. Und wenn er draußen auf einem Hof lebt, könnte er noch andere Waffen haben.«

»Keine Sorge«, versicherte er ihr. »Wir nehmen ihn ja nicht fest. Wir überprüfen nur, ob er dort wirklich wohnt.«

Sally sah, wie Corrigan ins Auto stieg, und verspürte ein krampfartiges Ziehen in der Magengegend. Eine unbestimmte Furcht überkam sie. Sie ahnte, dass Corrigan sie an Orte führen würde, die tief in ihrer Seele lagen … Orte, die zu betreten sie noch nicht bereit war. Aber sie spürte auch, dass er die Fährte aufgenommen hatte wie ein Jagdhund, der seine Beute witterte. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten. Corrigan war wie ein Güterzug, der ungebremst auf einen Rammbock zuraste.

Noch einmal drehte Sally sich zu Samantha Shaw um, die kreidebleich an der Haustür stand und sich eine Hand vor den Mund hielt.

Dann ging Sally zum Wagen und stieg ebenfalls ein.

*

Der Schmerz war genauso unerträglich gewesen wie die Erniedrigung. Sein stinkender Atem widerte sie an, als er dicht an ihrem Ohr keuchte. Sie war körperlich so ausgelaugt und von Schmerzen gezeichnet, dass sie sich ihm nicht hatte widersetzen können. Denn er hatte sie immer und immer wieder mit dem Viehtreiber gebrandmarkt, bis sie schließlich unterlag. Endlich war ihre Tortur zu Ende.

Schnaufend kroch er aus dem Käfig, zerrte die schmutzige Matratze aus der Öffnung und nahm Deborah die Kleidung weg, nur nicht die dreckige Unterwäsche. Zitternd zog sie sich den verschmierten Slip hoch und schluchzte jämmerlich.

Seine Stimme dröhnte in ihren Ohren. »Das war es doch, was du wolltest, oder, du kleine Nutte? Fühlst du dich jetzt besser? Du dreckige Hure … du widerst mich an.« Er knallte die Käfigtür zu und brachte das Vorhängeschloss an. Mühsam raffte er die Matratze und die Kleider zusammen. »Ich brauche eine Dusche«, stieß er keuchend hervor. »Ich muss mir deinen Dreck abwaschen. Der Geruch deiner Fotze macht mich ganz krank.« Er hielt auf die Treppe zu, blieb dann taumelnd stehen und drehte sich noch einmal um. Abscheu lag in seinem Blick, als er sie auf dem kalten Boden liegen sah. »Und ich dachte, du wärst anders als die anderen«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich dachte, du wärst sie, aber das bist du nicht. Du hast mich belogen, hast mir was vorgemacht. Ausgetrickst hast du mich, Miststück. Aber du wirst dafür bezahlen, mich wie einen Idioten dastehen zu lassen. Verdammt, das werdet ihr alle noch büßen.«

Mit diesen Worten zog er an der Kordel und knipste die Glühbirne aus, ehe er langsam die Stufen hinaufstieg, das Bündel Kleidungsstücke unterm Arm. Sonnenlicht strömte die Treppe herunter, und bald zeichneten sich die gekrümmten Umrisse seiner Silhouette vor dem Tageslicht ab.

*

»Fahren Sie nicht zu nah ran«, warnte Corrigan, als Sally von der Shire Lane in einen unbefestigten Weg abbog, der zu einer Ansammlung von Gebäuden führte, die noch ungefähr hundert Meter entfernt in einer kleinen Senke lagen. »Ich will ihn nicht aufschrecken. Parken Sie da drüben.« Sally kuppelte aus und brachte den Wagen am Wegesrand zum Stehen. Im Schutz der Bäume und Hecken war das Auto vom Hof aus kaum zu sehen. »Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter«, erklärte Corrigan. »Zuerst folgen wir der Baumreihe, bleiben im Schutz des Waldstücks da drüben, umrunden das Gehöft und kommen wieder hierher zurück. Dann wissen wir, ob sich da was tut.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Sally. »Lassen Sie uns Hilfe anfordern. Ein Sondereinsatzkommando sollte diesen Irren festnehmen. Sobald wir wissen, dass er in Handschellen ist, können wir den Hof in aller Ruhe durchsuchen.«

»Nein«, widersprach Corrigan mit Nachdruck. »Ich muss einen Moment mit ihm allein sein.«

»Sie können noch genug Zeit mit ihm verbringen, wenn Sie ihn verhören. Dann können Sie ihn alles fragen, was Ihnen durch den Kopf geht.«

»Und wenn er dann seine Anwälte um sich schart? Oder wenn sich psychiatrische Gutachter einschalten? Dann kann ich nicht mehr frei mit ihm reden … jedenfalls nicht so, wie ich es mir vorstelle. Nein, ich muss mit ihm allein sein.«

»Ich verstehe nicht, wieso Sie …«

»Ich muss wissen, warum er es getan hat.«

»Das wissen Sie doch längst«, hielt Sally dagegen. »Sie können besser als jeder andere nachvollziehen, warum er was getan hat. Womöglich wissen Sie es besser als er selbst.«

»Nein, ich weiß es nicht.« Corrigan blieb hart. »Ich bin nah an ihm dran, aber noch denke ich nicht so wie er. Nicht in jeder Hinsicht. Ich muss wissen, wie er tickt, was in seinem Kopf vorgeht.«

»Aber was bringt es Ihnen, wenn Sie …«

»Verdammt, Sally, verstehen Sie denn nicht? Es ist wichtig für das nächste Mal, für den Fall danach und den übernächsten Fall und so weiter. Ich muss einfach wissen, was diese Bastarde dazu bringt, sich lebendig zu fühlen, wenn sie andere quälen und töten. Was riskieren sie, um etwas zu fühlen, das sie befriedigt?«

»Wieso reden Sie jetzt von mehreren Leuten, Sean?«, fragte Sally. »Was soll das?«

»Kommen Sie, gehen wir.« Corrigan öffnete die Tür und wollte aussteigen, doch kräftige Finger schlossen sich um seinen Unterarm.

»Ich habe Angst, Sean«, gab Sally zu. »Sie denken vielleicht, dass ich wieder so weit bin, aber das stimmt nicht. Ich habe Angst davor, wie ich reagiere, wenn wir ihn finden … wenn wir Deborah Thomson finden. Ich weiß nicht, wie ich mich dann verhalte. Und ich habe Angst um Sie, Sean. Wenn ich daran denke, was Sie vielleicht tun werden …«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Als Donnelly Sie und diesen Lawlor fand, an den Bahngleisen, hat Lawlor Ihnen vorgeworfen, Sie hätten ihn fast erwürgt. So hat Dave es mir erzählt.«

Corrigan erstarrte. Eisige Finger griffen nach seinem Verstand und entfesselten aberhunderte dunkle Erinnerungen, die er vor sich selbst hatte verbergen wollen. Er schwieg. Dann blickte er Sally fest in die Augen.

»Ist es wahr, Sean? Wollten Sie Lawlor umbringen?«

Es gelang Corrigan, den Kopf zu schütteln und ein kleines Lächeln zustande zu bringen. »Die Leute erzählen immer irgendwelchen Mist«, log er. »Kantinengerede, mehr nicht …«

»Sind Sie sicher? Denn wenn mehr dahintersteckt, sollten Sie zumindest darüber nachdenken, eine Auszeit zu nehmen von all diesen Dingen. Von den Irrsinnigen und den Bluttaten, von all der Trauer, die diese Psychopathen hervorrufen und die immer nur wir und die Hinterbliebenen spüren. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihnen an den Gleisen die Sicherung durchgebrannt ist, sollten Sie sich jetzt zurückhalten.«

»Hören Sie, Sally«, versuchte er sie zu beruhigen, »dieser Lawlor ist Abschaum. Ich war wirklich stinksauer und hätte ihn am liebsten durchgeprügelt, aber das ist auch schon alles. Ich schwör’s.« Sie musterte ihn eine Zeit lang und versuchte, seine Gedanken zu lesen, wie sie es immer bei Verdächtigen tat. »Kommen Sie, Sally«, munterte er sie auf. »Ich brauche Sie an meiner Seite. Wir tun nichts anderes, als der Baumreihe dort zu folgen, bis wir die Gebäude besser sehen können. Dann beobachten wir das Gelände und warten. Mehr brauchen wir nicht zu tun, ich verspreche es.«

Schließlich willigte sie ein, auch wenn sie wusste, dass Corrigan nie einfach nur beobachten und abwarten würde. Nicht, wenn er so dicht an der Beute war.

Sally ließ seinen Arm los. Sie stiegen aus dem Auto und drückten die Türen leise zu. Sally blieb hinter Corrigan und schüttelte ab und zu den Kopf, weil sie sich selbst nicht erklären konnte, auf was sie sich eingelassen hatte. Als Corrigan einen Durchgang zwischen zwei Bäumen fand, schlichen sie tiefer in das Waldstück, das sich an einer Seite der hässlichen, halb verfallenen Gebäude entlangzog. Sie kamen an einen fast mannshohen Lattenzaun, der das Gehöft im Halbbogen einfasste. Genau wie die einzelnen Gebäude war auch der Zaun vernachlässigt und an mehreren Stellen verfault. Auf der anderen Seite des Zauns standen vereinzelt Bäume, die kleiner und jünger waren als die Bäume des Waldgürtels. Dort, wo der Baumbestand ganz aufhörte, fiel das grasbewachsene, offene Gelände leicht zu den Gebäuden ab, die in einer kleinen Senke standen. Corrigan entfernte eine der morschen Latten vom Zaun und behielt das Gehöft im Auge. Nirgends war jemand zu sehen, aber Corrigan und Sally hatten keinen freien Blick auf das gesamte Gelände; ein Teil blieb im Verborgenen. Corrigan sah sich um und entdeckte ein Stück den Zaun entlang eine Stelle, von wo aus man das Gehöft besser beobachten konnte.

»Wir müssen weiter«, sagte er leise. »Da drüben ist eine bessere Stelle, keine fünfzig Meter von hier. Der ideale Beobachtungsposten. Sobald sich auf dem Hof etwas tut, kriegen wir es mit.«

»Okay«, willigte Sally ein. »Sie gehen vor.«

Corrigan nickte kurz und schlich weiter. Trockene Äste knackten unter seinen Schuhsohlen. Als ihm die frischen Zweige der jüngeren Bäume ins Gesicht peitschten, war er unweigerlich wieder in dem Wald, in dem sie Louise Russell gefunden hatten. Er dachte an den Wahnsinnigen, der seine halbnackten Opfer nachts auf die Lichtung trieb: Ihre bloßen Füße bluteten, ihre weiche Haut war aufgerissen von Dornenranken und Gestrüpp. Und immer sah er den gesichtslosen Mann, der sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte und hinter seinen Opfern ging, geschützt vor Kälte und Regen und dem Zorn des Waldes. Schon bald würde der Psychopath ein Gesicht haben, und Corrigan würde ihm in die Augen sehen. Er spürte, wie die Aufregung zunahm und der Körper verstärkt Adrenalin ausschüttete. Am liebsten hätte er den maroden Zaun durchbrochen, wäre über die Böschung zum Hof gestürmt und hätte Thomas Keller gestellt, hätte den Bastard in die Enge getrieben und dann

Als er glaubte, die geeignete Stelle gefunden zu haben, löste er weitere Latten vom Zaun. Ganz leicht glitten die rostigen Nägel aus dem weichen Holz. Vorsichtig lehnte Corrigan die Latten an den Zaun und spähte durch die Öffnung. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Züge, als er sich in seiner Vermutung bestätigt sah: Das Gehöft war keine vierzig Meter mehr entfernt, hell beschienen von der Sonne. Corrigan hatte alles im Blick.

»Sehen Sie?«, flüsterte er und machte Platz, damit Sally durch den Zaun spähen konnte. Sie warf nur einen kurzen Blick durch die Lücke, ehe sie Corrigan sofort wieder das Terrain überließ. »Hier wohnt unser Mann«, fügte er hinzu und blickte unentwegt auf die Gebäudeansammlung. »Dieser Ort ist perfekt für ihn. Das Waldstück, die Abgeschiedenheit. Er hält seine Opfer hier fest … er braucht sie in seiner Nähe, wenn er …« Er unterbrach sich, als ihm einfiel, dass Sally neben ihm stand. »… zu ihnen will. Er hat sie nicht irgendwo Meilen entfernt eingesperrt, weil er dann jedes Mal das Auto benutzen müsste, wenn er zu ihnen will. Er ist wie ein Sammler, der seine Trophäen liebt. Er muss die Gewissheit haben, sie jederzeit sehen zu können, immer genau dann, wenn es ihm gerade passt …«

»Seine Trophäen?«, hakte Sally nach.

Corrigan wollte es näher erläutern, als er auf dem Hof eine Bewegung wahrnahm. Die Schatten vor einer offen stehenden Tür eines kleinen Gebäudes aus Backsteinen veränderten sich.

»Da unten ist jemand«, wisperte er. Während er sprach, trat der Schatten unten an der Tür ins Licht und nahm die Konturen eines Mannes an. »Er hat etwas unter dem Arm …«

»Was?« Sally schlug das Herz bis zum Hals. Sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Hof je zu betreten.

»… eine Matratze … und Kleider … ja, das müssen Kleidungsstücke sein. Schauen Sie«, forderte er sie auf.

Sally spürte, wie aufgeregt er war, und spähte noch einmal durch die Lücke im Zaun. »Sieht wie ein Toilettenhaus draußen aus.«

Als Corrigan wieder seine alte Position einnahm, sah er, wie der Mann die Sachen ablegte und die Tür mit einem Vorhängeschloss sicherte. Dann bückte er sich, packte die Kleidungsstücke auf die Matratze und schleifte sie quer über den Hof zu einer halb verfallenen Hütte – das Haus, in dem er wohnte. »Das ist keine Toilette«, sagte er. »Ein Toilettenhäuschen sichert man nicht mit einem Vorhängeschloss. Und die Matratze und die Klamotten … nein, das muss der Eingang zu einem alten Luftschutzbunker sein. Ein Kellerverlies.« Er holte tief Luft und trat einen halben Schritt vom Zaun zurück. »Er hält sie da unten fest«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Sally. »Deborah Thomson ist dort unten.«

»Sind Sie sicher, dass der Mann Thomas Keller ist?«, fragte Sally.

Corrigan kramte das Bild in seinem Gedächtnis hervor: Kellers Bewerbungsfoto, das Leonard Trewsbury ihm vor nicht einmal einer Stunde gezeigt hatte. »Schwer zu sagen. Er ist natürlich älter geworden, und wir sind ziemlich weit weg. Aber ich bin ziemlich sicher, er ist es.«

»Prima«, sagte Sally freudlos. »Dann holen wir uns jetzt Hilfe und bringen ihn zur Strecke.« Das Pochen in ihrem Kopf wurde schier unerträglich. Übelkeit erfasste sie und verstärkte das Ziehen in der Magengegend. Sie wollte nur noch weglaufen, zurück zum Auto. Sie würde einfach losfahren und den Psychopathen machen lassen.

»Okay …«, schien Corrigan einzulenken, doch schon im nächsten Augenblick sah Sally sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt. »Sie kümmern sich um die Verstärkung und warten hier auf die Kollegen. Währenddessen gehe ich zurück zum Auto und fahre auf den Hof. Sie behalten mich im Auge und halten mir den Rücken frei. Wenn es hart auf hart kommt, bleiben Sie hier und warten auf die Verstärkung. Rufen Sie um dringende Hilfe, wenn es sein muss. Aber nur, wenn es nicht anders geht.«

»Das halte ich für eine schlechte Idee«, warnte sie ihn.

»Ich komme schon klar«, versicherte Corrigan. »Ich habe den Schlagstock und das CS-Gas. Wenn er mich anfällt, kriegt er die volle Ladung ins Gesicht.«

»Warum tun Sie das, Sean?«, fragte Sally mit ernster Stimme.

»Sie kennen den Grund. Weil ich es tun muss. Ich muss die Lücken füllen. Das fehlende Puzzleteil.«

Sally nickte. Ihr gefiel sein Vorhaben nicht, aber sie verstand seine Beweggründe. Er folgte seinem Instinkt, und niemand konnte ihn jetzt noch davon abhalten, die Beute zur Strecke zu bringen.

»Hier.« Er reichte ihr das Funkgerät. »Sie werden es eher brauchen als ich.«

Zögernd nahm sie das Gerät entgegen, als wäre es ein kostbares Abschiedsgeschenk. Im Gegenzug reichte sie ihm die Autoschlüssel. Langsam entfernte er sich von ihr und hielt sich im Schutz des Zauns und der Bäume.

»Moment«, rief Sally leise hinter ihm her. »Woher weiß ich, dass es Ihnen gut geht?«

»Ich sagte doch, ich komme klar. Ich bringe ihn zum Reden, bis die Kavallerie kommt. Reihen Sie sich ein, sobald sie anrückt.«

»Aber wenn es nun doch nicht der Ort ist, an dem er Deborah Thomson festhält?«

»Das ist der Ort, glauben Sie mir.«

Da Corrigan sich nicht noch einmal aufhalten lassen wollte, entfernte er sich schnellen Schrittes und bog in das Waldstück ab. Er ging entschlossen und zielstrebig, da er sich allmählich an die Umgebung gewöhnt hatte und sich im Schutz der Bäume wohlfühlte. Genau wie der Mann, den er jagte. Er erreichte das Auto und stieg ein. Doch als er den Schlüssel ins Zündschloss stecken wollte, merkte er, wie stark seine Hände zitterten. Die Aufregung. Er konnte es kaum noch abwarten. Schließlich startete er den Motor und fuhr langsam zu dem Gehöft, auf dem Thomas Keller wohnte. Corrigan schluckte häufiger als sonst. Sein Mund war trocken. Das liegt nur am Staub, den die Reifen aufwirbeln, redete er sich ein. Er nahm das CS-Gas aus der Lederhülle am Gürtel und schob die Dose in die rechte Manteltasche. Dort war das Gas jederzeit griffbereit. Er fuhr langsam durch das alte Tor, dessen Flügel schief in den Angeln hingen, und hielt unweit der Hütte.

Corrigan brauchte einen Moment, bis er bereit war, auszusteigen. Doch die Gewissheit, das Ende dieses tödlichen Spiels erreicht zu haben, verlieh ihm ein Gefühl ungeahnter Ruhe. Es war geschafft – fast. Behutsam drückte er die Fahrertür zu, schaute sich kurz um und wurde augenblicklich von Bildern bestürmt, die sich ungebeten einstellten: Karen Green und Louise Russell wurden aus dem Gewölbe gezerrt und in ein Auto verfrachtet, das sie zu dem Wald brachte, wo sie ihr Leben ließen. Doch trotz der Bilderflut im Kopf blieb Corrigan kühl und beherrscht. Sein Puls beschleunigte sich auch dann nicht sonderlich, als er sich ausmalte, wie Thomas Keller auf die Tür zum Bunker zuhielt, bewaffnet mit dem Viehtreiber und dem Alfentanil und getrieben von dem Verlangen, unschuldige Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden.

Kurz darauf ging Corrigan zielstrebig auf die Tür der Hütte zu. Den Ausweis hielt er bereits in der linken Hand, während sich die Finger der rechten um die Dose mit CS-Gas schlossen. Es gab keine Klingel. Die Tür war morsch und verwittert; im oberen Drittel befand sich eine schmutzige Glasscheibe. Corrigan klopfte leicht dagegen. »Hallo. Jemand zu Hause? Polizei.«

Nichts.

Er trat von der Tür zurück, spähte durch die verschmierte Glasscheibe und lauschte. Der Mann konnte eigentlich nur im Haus sein. Corrigan stellte sich vor, was für einen Schreck er dem Killer eingejagt hatte, der jetzt irgendwo im Innern lauerte. Na, er würde den Fuchs schon aus seinem Bau treiben, da war er sich sicher. Bestimmt stand Thomas Keller längst der kalte Angstschweiß auf der Stirn. Corrigan wähnte sich am Ziel, als er erneut vortrat und an die Scheibe klopfte. »Hallo? Hier ist die Polizei.« Diesmal blieb er unmittelbar an der Tür stehen und behielt auch das Fenster rechter Hand im Blick. Aus den Augenwinkeln sah er, wie im Innern der Hütte ein Schatten vorbeihuschte. Corrigan vermutete, dass es sich um den an die Küche angrenzenden Raum handelte. »Komm schon, du Mistkerl«, wisperte er. »Mach endlich die verdammte Tür auf und lass mich deine Visage sehen.«

Vielleicht war es ein Nachteil, dass die Haustür unmittelbar in die Küche zu führen schien. Messer und schwere Küchengeräte wären leicht zur Hand. Vorsichtshalber überprüfte Corrigan noch einmal, ob der Schlagstock richtig am Gürtel saß. Wieder meinte er, einen Schatten hinter der Tür wahrgenommen zu haben. »Verdammte Scheiße«, fluchte er laut und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Er war das Katz-und-Maus-Spiel leid. Mit einer Hand umschloss er den Griff aus verkratztem Chrom und drehte ihn ganz leicht. Bei diesem Irren musste er sogar mit einer Sprengfalle rechnen.

In diesem Moment vernahm Corrigan das leise Klicken der Tür. Keller hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass jemand auf den Hof kommen würde. Die Tür war unverschlossen.

Corrigan musste an die Kleidungsstücke denken, die Keller auf der Matratze hinter sich her geschleift hatte. Was hatte der Mann damit gemacht, als er das Klopfen an der Scheibe gehört hatte? Hatte er nackt irgendwo gestanden und sich mit den Kleidern eingerieben, um sich sexuell zu erregen? Hatte er den Geruch eingesogen oder sich mit der durchgeschwitzen Bluse einen runtergeholt? Hatte er sich nackt in die alte Matratze gewühlt, um den Geruch seiner Opfer auszukosten? Suhlte er sich in der Todesangst der Frauen und seinen eigenen Machtfantasien?

Du hast dir vor Angst in die Hose gepisst, als es an der Tür geklopft hat, du kranker Scheißkerl, stimmt’s?

Corrigan stieß die Tür auf und beobachtete, wie sie aufschwang. Sofort hatte er den Raum im Blick und hielt Ausschau nach Dingen, die sich als Waffen eigneten. Wo hatte Keller sich versteckt? Musste er, Corrigan, nicht sogar mit einem abgerichteten Kampfhund rechnen, der nur darauf lauerte, dass ungebetene Gäste die Küche betraten? Aber die Erfahrung verriet ihm, dass in der Küche keine unmittelbaren Gefahren lauerten. Er trat über die Schwelle. Ein Gefühl von Macht überkam ihn, als er Kellers geheimen Rückzugsort betrat. Jetzt war er, Corrigan, die Bedrohung, die Gefahr … er handelte genauso wie Keller, als der die Häuser seiner Opfer betreten hatte. Corrigan drang in Kellers Unterschlupf ein, den Ort, an dem der Killer sich immer sicher gefühlt hatte, und machte all seine Illusionen zunichte.

»Thomas Keller«, rief er. »Ich bin Detective Inspector Sean Corrigan. Ich muss mit Ihnen reden, Thomas. Sie sind nicht in Schwierigkeiten. Ich muss nur kurz mit Ihnen reden. Vor ein paar Tagen waren zwei meiner Kollegen bei Ihnen. Deswegen bin ich hier. Ich denke, dass Sie mir bei einer ganz bestimmten Angelegenheit helfen können.«

Wie aus dem Nichts tauchte er plötzlich auf. Der Psychopath. Thomas Keller. Er stand im Durchgang von der Küche in einen anderen Raum, an der Türschwelle also, an der er eben erst ein-, zweimal vorbeigehuscht war. Corrigan erkannte ihn sofort. Derselbe brennende Blick aus braunen Augen wie auf dem Foto in der Personalakte der Post. Dieser Ausdruck hatte trotz der Jahre nichts an Intensität verloren. Keller war sichtlich außer Atem.

Was immer du vor meiner Ankunft gemacht hast, es hat dich angestrengt, du Bastard.

Keller versuchte, in Anwesenheit eines Polizisten ruhig und entspannt zu wirken, aber gerade das ließ ihn umso nervöser erscheinen. Corrigan sah, wie er sich mit der Zunge über die Oberlippe fuhr und die Schweißperlen ableckte.

Corrigan täuschte ein Lächeln vor. »Hi. Die Tür war auf, da dachte ich, ich schaue mal bei Ihnen rein. Ich hatte schon Bedenken, Ihnen könnte was passiert sein. Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich in Ihrer Küche stehe, oder?«

»Nein.« Keller wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Corrigan und genoss es, den Mistkerl schon durch seine bloße Anwesenheit zu quälen, ahnte er doch, wie es tief im Innern dieses Irren aussah. Der Mann verbrannte innerlich. Er sah, dass ein Zucken durch Kellers Bein ging, als wollte er jeden Moment lossprinten. Corrigan beschloss, das Tempo ein wenig herauszunehmen. Nur nichts überstürzen. Er hatte Zeit. Schließlich wollte er mit Keller reden und ihn nicht quer über den Hof jagen. Der Killer würde den Heimvorteil nutzen. Er kannte sich hier besser aus als jeder andere und würde im Wald untertauchen oder dort, wo er sich am sichersten fühlte. Nein, es musste Corrigan gelingen, diesen Irren im Haus zu halten, in der Enge seines Unterschlupfs, aus der es kein Entrinnen gab.

Bedächtig zog Corrigan sich einen Stuhl vom schmutzigen Küchentisch und setzte sich, ohne Keller auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und machte ihn mit seinem falschen Lächeln nervös. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte er. »War eine harte Woche.« Keller schwieg. »Beeindruckend, wie Sie hier leben«, fuhr Corrigan im Plauderton fort. »Jede Menge Platz da draußen. Kaum zu finden bei all den Bäumen und dem Wald. Hat sicherlich eine Stange Geld gekostet.«

Corrigan hatte sich weit genug vorgewagt. Jetzt musste er sich in Geduld üben und auf eine Reaktion warten. Keller war an der Reihe, denn wenn er jetzt nichts sagte, wäre das Spiel schon in der ersten Runde zu Ende. Also wartete Corrigan und musterte den hageren, unansehnlichen Mann, der am Durchgang zur Küche stand, in der es entsetzlich stank. Ein unscheinbarer Typ, ging es Corrigan durch den Kopf. Niemand hätte Angst vor ihm, wenn man ihm auf der Straße begegnete. Ein Mann, an dem das Leben nicht spurlos vorbeigegangen war. Ein Mann, den die Medien bald als Monster brandmarken würden. Was für einen Namen würde die Presse ihm wohl geben? Der Würger von South London? Der Keston-Vergewaltiger? Der irre Käfigwärter?

»Habe ich günstig bekommen.« Kellers matte Stimme riss Corrigan aus seinen Gedanken. »War mal eine Geflügelfarm. Hier wurden auch Kälber geschlachtet. Das schreckte die Leute ab. Keiner wollte den Hof.«

»Aber Sie schon?«, fragte Corrigan und versuchte, den Mann am Reden zu halten.

»Mir hat’s nichts ausgemacht. Aber Sie sind bestimmt nicht hier, um über den Preis des Hofes zu sprechen«, sagte Keller und betrat die Küche. Seine Augen huschten umher, doch er mied den Blickkontakt mit Corrigan.

»Stimmt. Wie ich schon sagte, zwei Kollegen von mir waren bereits hier. Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich noch ein, zwei Fragen habe. Sie erinnern sich doch an die beiden Polizisten?«

»Sicher«, erwiderte Keller und blieb vor einem hohen, schmalen Wandschrank stehen, zu dem es ihn offensichtlich zog.

Corrigan spürte, dass von dem Schrank Gefahr ausging. Bewahrte der Killer dort den Viehtreiber und den Elektroschocker auf? Die Jahre im Dienst und die Hausdurchsuchungen bei Verdächtigen hatten Corrigans sechsten Sinn geschärft. Er wusste, wo die Gefahren lauerten. Sollte Keller die Hand nach der Schranktür ausstrecken, musste Corrigan blitzschnell handeln: Er würde aufspringen und den Mann niederschlagen, ehe er überhaupt die Chance hatte, die Tür aufzureißen. Wenn Corrigan zögerte, war er so gut wie tot. Es musste ihm gelingen, Keller von diesem Schrank wegzulocken.

»Setzen Sie sich doch zu mir.«

»Nein«, antwortete Keller schnell, »ich stehe lieber. Danke.«

»Wie Sie meinen«, sagte Corrigan ruhig, obwohl seine Pulsfrequenz stieg. Er ließ den Blick zwischen dem unterirdischen Gewölbe und dem Schrank hin und her huschen. »Haben meine Kollegen Ihnen gesagt, warum sie hier waren?«

»Es ging um einen Herumtreiber hier in der Gegend.«

»Genau«, sagte Corrigan und versuchte, möglichst freundlich und gelassen zu klingen. »Aber wir suchen auch nach Frauen, die vermisst werden«, fügte er nüchtern hinzu, in der Hoffnung, Keller würde überhastet die Flucht ergreifen, sobald man ihn mit der Wahrheit konfrontierte. Das käme einem Schuldeingeständnis gleich. »Eigentlich suchen wir drei Frauen … bisher.« Corrigans Lächeln erstarb ihm auf den Lippen, aber nur für ein paar Sekunden. Genüsslich zählte er die Namen auf. »Karen Green, Louise Russell und Deborah Thomson. Sagen Ihnen diese Namen etwas?«

Wieder dieses Zucken in Kellers Beinen. »Nein. Woher sollte ich die kennen?«

»Nun ja, es kam in den Nachrichten, dass die Frauen vermisst werden. Die Zeitungen waren voll davon. Auch überregional.«

»Ich habe keinen Fernseher«, entgegnete Keller.

»Und Zeitung lesen Sie auch nicht?«

»Kaum.« Es mochte stimmen.

»Dann wissen Sie vermutlich nicht, dass wir zwei der Frauen bereits gefunden haben. Sie sind beide tot. Ermordet. Genau wie die Tiere früher auf diesem Hof.« Er wartete auf eine Reaktion. Doch Kellers Miene blieb starr wie eine Maske.

»Traurige Geschichte. Die Familien tun mir leid.«

»Ach, die Familien tun Ihnen leid?«, forschte Corrigan nach. »Also mir tun in erster Linie die Frauen leid. Karen Green tut mir leid, auch Louise Russell. Und auch Deborah Thomson wird mir leidtun, wenn ich sie nicht bald finde. Seltsam, dass Ihnen die Frauen nicht leidtun.«

»So habe ich das nicht gemeint«, stammelte Keller. »Hören Sie, es tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich hab zu tun, wenn es Ihnen also nichts ausmacht …«

Corrigan hörte darüber hinweg. »Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?«, bohrte er weiter. Unwillkürlich fasste Keller sich an die tiefen Kratzwunden, die Deborahs Fingernägel hinterlassen hatten. »Haben Sie sich an den Ästen im Wald verletzt?« Corrigan ahnte, dass die Wunden nicht von Ästen stammten, aber er durfte seine Beute nicht in Panik versetzen. Noch nicht. »Ist mir nämlich auch passiert«, sagte er und deutete auf die Wange, die bei Louise Russells Tatort einen gehörigen Kratzer abbekommen hatte.

»So was in der Art«, antwortete Keller.

»Ja, wer denkt schon darüber nach, was ein Spaziergang im Wald für Folgen haben kann?«, meinte Corrigan. Keller schwieg. »Ich glaube, meine Kollegen waren ein bisschen unzufrieden, weil sie keine Gelegenheit hatten, sich genauer auf Ihrem Hof umzusehen. Sie hätten gern einen Blick in die anderen Gebäude geworfen, auch in den Wald.«

»Warum wollten sie sich hier umschauen?« Keller blinzelte in schneller Folge.

»Keine Ahnung. Ich vermute, die beiden waren der Ansicht, dass Sie ein riesiges Grundstück mit vielen Nebengebäuden haben. Platz genug, um etwas zu verstecken.«

»Was zum Beispiel?«

»Sagen Sie es mir, Mr. Keller«, wagte Corrigan sich weiter vor. Doch Keller sagte kein Wort. »Vielleicht können wir uns ja gemeinsam hier umschauen bei Ihnen. Mal sehen, was wir finden …«

»Ich …«

»Schauen wir uns doch gemeinsam bei den Nebengebäuden draußen um. Werfen wir einen Blick in das Gewölbe, oder was immer es sein mag …«

»Nein, das … ich …«

»Was hatten Sie mit der Matratze und den Kleidungsstücken vor?«, fragte Corrigan unvermittelt. »Ich habe gesehen, dass Sie eine Matratze hinter sich her geschleift haben.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, log Keller, doch jeder Muskel in seinem Körper verspannte sich. Die Flinte im Küchenschrank war zum Greifen nah, geladen und schussbereit.

»Wissen Sie, mit wem ich mich unterhalten habe, bevor ich zu Ihnen gefahren bin?«

»Nein, woher sollte ich?«

»Mit Samantha Shaw, Thomas. Ich habe mit Sam gesprochen.«

Keller nickte langsam. Er schwieg, doch er hatte begriffen.

»Sie erinnern sich doch an Samantha, nicht wahr, Thomas? Unsere Göttinnen vergessen wir nicht, stimmt’s? Ich wollte nur mit Ihnen sprechen – allein, ehe die Welt für Sie einstürzt, Thomas.«

»Wieso? Wieso wollen Sie mit mir sprechen? Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

Corrigan dachte an das Verhör mit Jason Lawlor. Lawlor hatte Lücken in Corrigans Vorstellungswelt gefüllt – der Mann hatte von seinen Gefühlen gesprochen und Sehnsüchte beschrieben, die Corrigan selbst nie empfunden hätte. »Nachdem Sie die Frauen vergewaltigt hatten, konnten Sie sie dann noch riechen? Konnten Sie den Intimbereich der Frauen noch riechen? Haben Sie sich deshalb tagelang nicht den Schwanz gewaschen, damit Sie den Geruch noch in der Nase hatten?« Er sah, wie sich die Augen des Wahnsinnigen verengten, ehe sie groß und rund wurden. Kellers Nasenflügel flirrten, sein Atem beschleunigte sich. »Gott, sie rochen so gut, nicht wahr? Erzählen Sie es mir, wie es war, als Sie bei ihnen geklingelt haben. Wie fühlte es sich für Sie an, in die Häuser der Frauen einzudringen und sie von jenem Ort wegzuschleppen, an dem sie sich am sichersten fühlten? Mein Gott, wie mächtig müssen Sie sich vorgekommen sein, so lebendig, voller Lebenslust. Und Sie behielten die Frauen schön in Ihrer Nähe, damit Sie immer zu ihnen konnten, wenn Sie wieder mal tun mussten, was Sie nicht zurückhalten konnten. War alles so, wie Sie es sich erträumt hatten? Hatten Sie das Gefühl, von den Frauen akzeptiert zu werden, wenn Sie gewaltsam in sie eindrangen? Fühlten Sie sich geliebt?«

»Nein!«, schrie Keller, trat einen Schritt vor, blieb jedoch abrupt stehen. Beinahe wäre Corrigan aufgesprungen und hätte dem Mann das Gas ins Gesicht gesprüht. »Nein. Diese Weiber widern mich an. Ich kann ihren Geruch an meinem Körper nicht ausstehen.«

»Warum dann das Ganze?«, drängte Corrigan, denn er wusste, dass ihm allmählich die Zeit davonlief. Bestimmt hatte Sally Verstärkung angefordert, und jeden Augenblick würde die Metropolitan Police hinter ihm durch die dünne Küchentür stürmen.

»Die … die haben mich dazu getrieben«, antwortete Keller abgehackt. »Das sind alles dreckige Huren … allesamt. Sie haben mich ausgetrickst. Sie haben mich gezwungen, zu ihnen zu kommen, aber ich … ich verabscheue sie. Ich hab mich unter der Dusche sauber geschrubbt, aber ich rieche immer noch ihren Gestank. Huren sind das. Sie sind Dreck, und ich habe sie wie Dreck behandelt.«

»Was ist mit Samantha? Sie war keine Hure. Sie war kein Dreck.«

»Reden Sie nicht von ihr!«, entfuhr es Keller. Tränen schimmerten in seinen Augen, und Spucke klebte an seinen dünnen weißen Lippen. »Sie ist nicht wie die anderen. Sie haben versucht, mir einzureden, Sam wären wie sie … weil sie … die gleiche Frisur hatten … die gleichen Sachen trugen, alles, aber es waren eben nur Flittchen. Dreckige Nutten. Wertlose Huren.«

»Also haben Sie sie umgebracht. Sie haben die Frauen betäubt, in den Wald geschleppt und dort ermordet.«

»Nein!«, kreischte Keller und kam wieder einen Schritt auf Corrigan zu, aber der ließ sich nicht einschüchtern. Er war der Köder, der die Bestie von dem Wandschrank weglocken musste.

»Und wie hat es sich angefühlt, Thomas? Die Frauen zu ermorden? Was haben Sie empfunden, als Sie Ihren Opfern die Hände um den schönen, zierlichen Hals legten und ihnen mit beiden Daumen die Kehle zerquetschten?«

»Sie begreifen gar nichts!«, schrie Keller, völlig außer sich.

»Als das Leben aus ihren Körpern strömte, während Sie sie noch hielten, obwohl sie längst tot waren … als Sie in die leblosen Augen starrten, Thomas, was haben Sie da gefühlt?«

»Nein. Nein. Nein!«

Corrigan hämmerte mit der Faust auf den Küchentisch, dass Tassen, Teller und Besteck klirrten und schepperten. »Verdammte Scheiße, sag mir endlich, wie es sich angefühlt hat!«

Purer Hass lag in Kellers Blick. Sein Gesicht verzerrte sich, und er bleckte die Zähne wie ein Tier, das jeden Augenblick zum Angriff überging. »Leck mich!«, kreischte er, wirbelte auf dem Absatz herum, sprang zum Wandschrank und riss die Tür auf.

Corrigan war längst aufgesprungen, holte das CS-Gas aus der Tasche und stieß mit der Linken den Küchentisch um, sodass nichts mehr zwischen ihm und dem Irren stand. Gläser, Tassen, angebrannte Töpfe – alles flog durch die Küche. Das Geschehen schien in Zeitlupe abzulaufen, aber es war die Flinte, die in Corrigans Blickfeld geraten war: Keller griff nach der Waffe mit den abgesägten Läufen. Corrigan glaubte, nie schneller gewesen zu sein als in diesem Augenblick, doch als er sah, wie Kellers Hand sich um die Waffe schloss, ahnte er, dass er zu langsam war.

Keller drehte sich zu ihm und richtete das Gewehr auf ihn: Corrigan starrte in das Rund der dunklen Mündungen. Die beiden Gegner standen nur drei Schritte voneinander entfernt, als sie gleichzeitig ihre Waffen abfeuerten. Das CS-Gas brannte sich in Kellers Gesicht, raubte ihm die Sicht und lähmte seine Atmung, während der Schuss sich in Corrigans linke Schulter fraß und ihn ein paar Schritte nach hinten schleuderte. Dumpf schlug er auf dem Küchenboden auf und spürte die glühendheißen Schrotkugeln, die sich im ersten Moment wie Hunderte krabbelnder Insekten anfühlten, ehe sie wie abertausende Wespenstiche brannten.

Ungläubig starrte er auf zu dem Wahnsinnigen, der geduckt in der Küche stand, sich mit der freien Hand ins Gesicht fasste und sich die Augen rieb, dadurch aber die Flüssigkeit noch weiter verteilte. Die Spucke sabberte ihm aus dem Mund. Er hustete, würgte, fuchtelte ziellos mit der Schrotflinte herum und versuchte, durch tränenüberflutete Augen Corrigan zu sehen. Der Finger war noch um den Abzug gekrallt. Jeden Moment könnte die Wirkung des Gases nachlassen, sodass Keller seine Beute ausfindig machte. Corrigan wusste, er war so gut wie tot, lag er doch wehrlos auf dem Boden und hielt sich unter Höllenqualen die zerschmetterte Schulter. Die Gaskartusche hatte er längst fallen lassen; sie lag irgendwo zwischen dem Geschirr auf dem Boden neben dem umgestürzten Tisch.

Instinktiv griff er nach dem erstbesten Küchengerät, das er zu fassen bekam, eine kleine Pfanne, und schleuderte sie durch die Küche. Scheppernd landete sie in den Regalen neben der Spüle. Sofort reagierte Keller auf das Geräusch, legte an und wollte auf die Stelle feuern, wo er seinen Gegner vermutete, ließ es dann aber. Sein Instinkt verriet ihm, dass er die letzte Schrotladung nicht unbedacht verschießen durfte. Er musste ganz sicher sein.

Corrigan stöhnte innerlich, als ihm bewusst wurde, dass sein Plan gescheitert war. Er lag immer noch am Boden, keine drei Meter von Keller entfernt. Er verbiss sich den schneidenden Schmerz in der Schulter und hob den nutzlosen Arm vor die Brust, als er sich in die Startposition eines Sprinters brachte. Bis zum Äußersten angespannt, blieb er in dieser geduckten Haltung, als er in die Mündungen der doppelläufigen Flinte sah. Kellers tränende Augen weiteten sich, als er versuchte, sich auf die Gestalt zu fokussieren, die zum Greifen nah vor ihm kauerte. Im selben Moment stürmte Corrigan vor, rammte Keller die rechte Schulter in die Magengrube und riss ihn mit sich, sodass sie zusammen gegen den hohen Schrank krachten. Donnernd löste sich der Schuss über Corrigans Kopf, als sie zu Boden stürzten. Der Schrank kippte nach vorn, streifte Corrigan an der Schläfe und raubte ihm für einen Moment das Bewusstsein. Sekundenlang konnte er nichts anderes tun, als sich an Keller festzukrallen, während sie auf dem dreckstarrenden Fußboden miteinander rangen. Aber der Schlag gegen den Kopf, der Blutverlust und der Schock der Schusswunde zeigten Wirkung. Corrigans Überlebenswille geriet ins Wanken.

Augenblicke später wurde er von Keller überwältigt, der nun auf ihm lag, kreischend und sabbernd vor Hass. Die Fratze des Irrsinnigen verschwamm immer mehr und verwandelte sich in das Gesicht von Corrigans Vater, der höhnisch und lüstern grinste, bevor auch diese hässlichen Züge verschwanden und sich wieder Kellers Visage herausschälte. Corrigan spürte eine Hand um den Hals, die gnadenlos zudrückte; der Daumen grub sich in seine Luftröhre. Er begann zu röcheln, rang nach Luft. Mit den Fingern seines unverletzten Arms versuchte er, Kellers Klaue von seinem Hals zu lösen. Er konnte sie so weit lockern, dass er wieder zu Atem kam. In den Augen des Verrückten loderte tödlicher Hass, als er auf Corrigan hinunterstarrte. Seine Zähne waren blutbefleckt von einer Wunde im Mund, was ihm ein geradezu dämonisches Aussehen verlieh. Corrigan hatte nicht mehr die Kraft zu reagieren, als er sah, wie Keller mit der rechten Faust ausholte, um sie ihm in die verletzte, blutende Schulter zu rammen. Er brüllte vor Schmerz und Wut. Keller zögerte einen Moment, dann drosch er erneut mit der Faust auf die verwundete Schulter und steigerte Corrigans Qualen ins schier Unermessliche.

Als die Schläge auf ihn niederprasselten, erlahmte Corrigans Gegenwehr. Blutverlust und Schmerz raubten ihm die Kraft. Sein Sehvermögen schwand, bis er den Mann über sich nur noch als verschwommene Silhouette wahrnahm. Dann endlich endeten die Schläge. Keller beugte sich nahe an Corrigan heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Zeit zu sterben.«

Benommen spürte Corrigan, wie sich die langen, knochigen Finger um seine Kehle schlossen, die Karen Green und Louise Russell erwürgt hatten – zwei Hände, die das Leben aus ihm herauspressten. Doch in dem Moment, als er meinte, das Bewusstsein zu verlieren, löste sich der stählerne Griff. Die Silhouette des Irren kippte zur Seite, wobei er einen kläglichen Schrei ausstieß, dem ein Wimmern und Schluchzen folgten. Dann schlug der Verrückte neben Corrigan auf den Boden und fasste sich an den Hinterkopf.

Corrigan hustete, rang gierig nach Atem. Der Sauerstoff gab ihm einen Teil seines Sehvermögens zurück, sodass er mit blinzelnden Augen erkennen konnte, wie Sally Handschellen hervorholte und sich über den angeschlagenen Keller beugte. Sie legte ihren Schlagstock neben Corrigan auf den Boden, rollte Keller auf den Bauch, riss seine Hände auf den Rücken und versuchte dabei unverkennbar, ihm möglichst viel Schmerz zuzufügen. Schließlich schloss sie eine Handschelle um das Handgelenk des Mannes und schleifte ihn ein paar Fuß weit zu einem Heizungsrohr, das dicht über dem Boden an der Wand verlief. Dort befestigte sie die Handschelle, sicherte Kellers anderes Handgelenk, nahm den Schlagstock vom Boden und kniete sich neben Corrigan.

Trotz des Schocks und der Verwirrung konnte er sich zusammenreimen, was passiert sein musste: Die dunklen, blutverklebten Haare an Sallys Schlagstock sprachen eine deutliche Sprache. Corrigan spürte, wie sein Kopf angehoben wurde und wie Sally ihren aufgerollten Mantel darunterschob.

»Nicht sprechen«, sagte sie. »Sie sind angeschossen.«

»Was Sie nicht sagen.« Trotz der Schmerzen über die Absurdität ihrer Feststellung lächelte Corrigan verzerrt. Sally schüttelte den Kopf.

»Helfen Sie mir auf«, verlangte er.

»Sie sollten sich nicht bewegen.«

»Mir geht’s gut«, log er. »Lehnen Sie mich gegen die Wand, von da aus kann ich ihn beobachten.«

»Um den brauchen Sie sich nicht mehr zu kümmern«, meinte sie. »Ich passe auf ihn auf, bis die Verstärkung kommt. Ich rufe einen Rettungswagen.«

»Nein«, beharrte Corrigan. »Sie holen Deborah Thomson aus dem verdammten Kellerloch.« Mit der unversehrten Hand fummelte er an seiner Jackentasche und zog sein Handy hervor. »Ich kann mir selbst einen Rettungswagen rufen. Sie befreien die Frau.«

»Verdammt«, fluchte Sally, während sie ihm half, zur Wand zu kriechen, wo sie ihn mühsam aufrichtete, sodass er den schluchzenden Keller sehen konnte, der zusammengesunken an der gegenüberliegenden Wand lehnte.

»Die Tür zum Gewölbe ist verschlossen«, sagte Corrigan. »Sie müssen bei ihm nach dem Schlüssel suchen. Ich vermute, er hat ihn noch bei sich.«

»Okay.« Sally ging vorsichtig auf Keller zu, den Schlagstock in der Hand. »Eine Bewegung, und ich schlag dir den Schädel ein!«, warnte sie ihn und meinte es ernst. Sie klopfte ihm auf die Hosentaschen, bis sie spürte, wonach sie gesucht hatte. Dann ließ sie die Hand vorsichtig in die Tasche seiner Jogginghose gleiten und holte zwei Schlüssel heraus. Triumphierend drehte sie sich um und zeigte sie Corrigan. »Ich hab sie«, verkündete sie freudestrahlend.

»Gut«, sagte er matt. »Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

Sally nahm ihren Mantel vom Boden und legte ihn Corrigan um die Schultern. »Versuchen Sie, ihn gegen die Wunde zu pressen, das verringert den Blutfluss. Der Mantel ist sowieso hinüber«, fügte sie hinzu, was Corrigan zum Schmunzeln brachte, obwohl Übelkeit und Benommenheit immer stärker wurden.

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Nehmen Sie die Schlüssel und nichts wie los.«

»Okay«, sagte sie. Sie war schon halb aus der Tür, als Corrigan sie stoppte.

»Hey«, rief er so laut er konnte. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollten draußen warten, bis Verstärkung kommt.«

»Das haben Sie auch«, gestand sie, »aber mir wurde langweilig.«

Corrigan brachte noch ein letztes schwaches Lächeln zustande und winkte, sie solle gehen. Sobald Sally das Gebäude verlassen hatte, flackerten seine Augen, und sein Kopf sank ihm auf die Brust.

Ein paar Sekunden später kam die Dunkelheit.

*

Sally nahm den Weg über den Hof, vorüber an den verfallenen alten Ziegelbauten mit ihren vergammelten Wellblechdächern. Der Geruch vom Tränengas aus der Küche haftete noch immer an ihrer Kleidung und brannte in ihren Augen, die sie weit offen hielt, damit das Sonnenlicht und die Frühlingsbrise das Gas schnell vertrieben. Mehrmals stolperte sie fast über den Schutt auf dem Weg zu dem kleinen Gebäude, das Corrigan für den Eingang zu Kellers privatem Folterkerker hielt. Sie hustete, um das CS-Gas aus der Lunge zu bekommen, das ihr scharf und gallig auf der Zunge lag, und blieb an einem alten Ölfass stehen, das Brandspuren am oberen Rand aufwies. Sie blickte hinein. Der Geruch von Feuerzeugbenzin und Petroleum schlug ihr entgegen und weckte ihre Neugier. Am Boden entdeckte sie die Überreste verbrannter Kleidung, hier und da auch Reste von Farbe. »Sieht nicht gut aus«, murmelte sie.

Sie dachte an Keller, der in Handschellen lag und von Corrigan bewacht wurde. Aber wie lange mochte ihr Chef noch bei Bewusstsein bleiben? Sally trieb sich zur Eile an, als sie sich der Tür des Ziegelbaus näherte, atmete tief durch und betrachtete die Schlüssel und das Vorhängeschloss. Der erste Schlüssel, den sie probierte, passte nicht. Ein seltsames Gefühl der Erleichterung überkam sie. Vielleicht blieb es ihr erspart, in das unterirdische Labyrinth des Monsters hinabsteigen zu müssen – in die Dunkelheit, die für sie nichts als Angst bereithielt. Seufzend steckte sie den Schlüssel, der nicht passte, in die Jackentasche. Dann betrachtete sie den nächsten, der auch nicht hätte passen sollen, wäre es nach ihr gegangen. Doch er glitt in den Schlitz hinein und ließ sich leicht drehen. Das Schloss schnappte auf.

Sally wurde die Kehle eng. Sie versuchte zu schlucken, doch vergeblich. Jetzt war es so weit: Entweder traute sie sich durch die Wand aus lähmender Angst, oder sie ging das Risiko ein, nie wieder die Frau zu werden, die sie gewesen war. Mit zittrigen Fingern hakte sie das Vorhängeschloss aus und legte es vorsichtig auf den Boden; es würde in der Kette der Indizien, die Keller des Kidnappings und der Morde überführen würde, eine wichtige Rolle spielen.

Die Tür, die Sally nun aufzog, war so schwer, wie sie aussah. Ein metallisch kratzendes Geräusch erschreckte sie, sodass sie die Tür hastig losließ und zurücksprang. »Verdammt«, fluchte sie und fühlte sich gleich besser. »So ein Mist!« Erneut schloss sie die Hand um den Türgriff, entschlossen, ihn nicht wieder loszulassen, egal was passierte. Sie zog so lange, bis die Tür ganz offen stand und gähnende Dunkelheit enthüllte. Sally erahnte die Konturen einer Steintreppe, die tiefer zur Quelle ihrer Ängste und Albträume führte. Instinktiv wollte sie vor der Dunkelheit zurückweichen, überwand sich aber. »Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich, »das ist jetzt wichtig!«

Sie hielt inne, lauschte nach den Geräuschen sich nähernder Polizeisirenen, aber es war nichts zu hören. »Verdammt einsam hier draußen«, murmelte sie in die drückende Stille hinein, da der Klang ihrer eigenen Stimme sie beruhigte. »Wie ich es hasse, mitten in der Pampa zu stecken.« Mochten die Innenstädte gefährlicher sein, Verstärkung war immer nur wenige Minuten entfernt. Hier draußen aber war man ganz allein und konnte Gott weiß wie lange um sein Leben kämpfen, bevor jemand kam. »Nun mach schon, Mädel, reiß dich zusammen«, trieb sie sich selbst an und zog ihren Schlagstock, mehr zur Beruhigung als in dem Glauben, ihn zu brauchen. Er war mit Kellers Blut bedeckt, eine Tatsache, die Sally kühner werden ließ.

Nachdem sie mehrmals tief Luft geholt hatte, ging sie durch die Tür und stellte sich dem Abstieg in die Schwärze. Sie blinzelte in der Dämmerung, bewegte sich so leise sie konnte und verfluchte jedes Knirschen und Knacken, das ihre Schuhe auf den harten Stufen erzeugten. Eine Hand ausgestreckt vor sich, ertastete sie sich den Weg, immer darauf gefasst, auf irgendeine unsichtbare Gefahr reagieren zu müssen, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Nur noch etwa ein Dutzend Stufen, und sie war am Ende ihres Abstiegs. Aber je weiter Sally ging, desto scheußlicher roch es. Bald atmete sie nur noch den Übelkeit erregenden Gestank ungewaschener Körper – eine abscheuliche Mischung aus Urin, Schweiß und Exkrementen. Angewidert hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Heftig kämpfte sie gegen das Verlangen, an die frische Luft zu fliehen und alles, was in dieser Unterwelt verborgen lag, im Stich zu lassen. Auf halber Strecke nach unten musste sie anhalten und lehnte sich gegen die Wand, um die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Sehnsüchtig blickte sie nach oben zum Licht. Aber ihre Rettung lag in der Dunkelheit unter ihr, das wusste sie.

»Na los, weiter«, trieb sie sich erneut an und verfluchte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzubringen. Sie könnte im Haus nach einer Lampe suchen, aber ein zweites Mal würde sie es nicht über diese Treppe nach unten schaffen. »Jetzt bloß nicht schlappmachen, Mädel«, murmelte sie und fühlte, wie die Panik allmählich abflaute. Sie löste sich von der Wand, setzte ihren Weg nach unten fort, wobei sie so nahe wie möglich am Mauerwerk blieb, denn es war nicht auszuschließen, dass Keller einen oder mehrere Komplizen hatte, oder dass er in dem unterirdischen Gewölbe halb verhungerte Tiere hielt.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Sally endlich die unterste Stufe erreichte und den Boden des Verlieses betrat. Sie tastete umher, den Rücken gegen die Wand gepresst, und entfernte sich langsam von der Treppe. Das Geräusch tröpfelnden Wassers verunsicherte sie. Einen Augenblick wähnte sie sich in einer natürlichen Höhle und glaubte nicht an einen von Menschen geschaffenen Unterschlupf. Als ihre Augen sich immer mehr auf die Dunkelheit einstellten, erahnte sie in ungefähr drei Metern Entfernung die Umrisse eines rechteckigen Gebildes. Sie müsste noch näher heran, um es richtig erkennen zu können. Schweren Herzens zählte sie von zehn herunter, drückte sich von der Mauer ab und wagte sich tiefer in das unterirdische Gewölbe.

Nach wenigen Schritten erkannte sie, dass es sich bei dem viereckigen Objekt um einen Käfig handelte, knapp zwei Meter breit und anderthalb Meter hoch. Es verschlug ihr den Atem, als sie sah, dass die Käfigtür offen stand. Mit einem Mal raste ihr Puls: Sie war überzeugt, dass sie hier unten im Dämmerlicht von einer entlaufenen wilden Bestie umkreist wurde, die nur darauf wartete, ihr Opfer zu zerfleischen.

Sally zuckte heftig zusammen, als sie ein Geräusch rechts von ihr hörte. Irgendetwas bewegte sich dort. Wahrscheinlich das Tier, das zum Sprung ansetzte …

Panik erfasste sie, ließ sie erstarren. Dann aber zwang sie sich, den Kopf so weit in Richtung des Geräuschs zu wenden, dass sie aus dem Augenwinkel die Umrisse eines zweiten großen Käfigs erkennen konnte. In einer Ecke kauerte eine Gestalt, eine ganz und gar ungefährlich wirkende Gestalt – ein Wesen, das mehr Furcht vor ihr zu haben schien als sie vor ihm. Sally wandte sich vollständig dem Käfig zu und spähte ins Zwielicht. Der Käfig ähnelte dem ersten, nur dass bei diesem die Tür verschlossen war und sich etwas darin befand – die zusammengekauerte Gestalt.

Sally schlich langsam weiter, wobei sie den Schlagstock fest an ihrer Seite hielt. Der Weg zum Käfig schien kein Ende zu nehmen. Thomas Keller huschte durch ihre Erinnerung, wie er sich aus dem Schatten vor der Metalltür löste und eine Matratze und Kleidung hinter sich her schleifte. Doch Sallys Angst verflüchtigte sich. Sie konnte klarer denken und realisierte, wo sie war und was sie vor sich sah. Inzwischen ahnte sie die ganze schreckliche Wahrheit dessen, was sich hier unten abgespielt haben musste.

»Mein Gott«, flüsterte sie.

Die letzten paar Schritte zum Käfig rannte sie fast, kniete sich daneben und blickte durch das Gitter auf die wild dreinschauende Kreatur, die darin gefangen war. Gleichzeitig suchte sie hastig nach dem Schlüssel, von dem sie annahm, dass er passte. »Ich bin Polizistin«, sagte sie zu der verdreckten, verängstigten Frau, die sich in einer Ecke des Käfigs zu verstecken versuchte. Sie zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn ans Gitter. »Sie sind Deborah Thomson, nicht wahr? Ich bin gekommen, um Sie hier rauszuholen.«

Die Frau antwortete nicht. In ihren Augen standen noch immer Zweifel und nackte Angst. Rasch umrundete Sally den Käfig, gelangte zur Tür und fingerte am Schloss herum, da sie im Dämmerlicht nicht sofort den Schlitz finden konnte. Endlich sprang es auf, sodass die Tür sich öffnen ließ.

»Es wird Zeit, dass Sie hier rauskommen, nicht wahr?«, sagte sie.

Doch die Frau blieb, nackt wie sie war, in einer Ecke des Käfigs hocken.

»Es ist vorbei«, versicherte Sally ihr. »Er kann Ihnen nichts mehr tun.«

Die blutigen Lippen der Frau öffneten sich. »Wer sind Sie?«, fragte sie mit heiserer, kaum wahrnehmbarer Stimme.

»Ich heiße Sally.« Sie streckte den Arm aus und reichte Deborah Thomson die Hand. »Detective Sergeant Sally Jones.«

*

Kate saß müde im Personalraum, der versteckt auf der Notfallstation des Guy’s Hospitals lag, und schaute sich eine der langweiligen Kochshows am Sonntagnachmittag an. Dazu trank sie eine Tasse löslichen Kaffee, die sechste an diesem Tag. Wegen Seans unvorhergesehener Abwesenheit hatte sie die Kinder wieder bei der Oma abliefern müssen. Wahrscheinlich würde er erst nach Hause kommen, wenn sie die Kinder abgeholt, bekocht und ins Bett gesteckt hätte. Allmählich hatte sie das Gefühl, gleich zwei Fulltime-Jobs zu haben. Unterstützung sah anders aus. Es fiel Kate immer schwerer, ihre Wut im Zaum zu halten. Und es war keineswegs so, dass Sean als Detective Inspector ein Vermögen verdiente. Was das anging, war die Beförderung ein Schuss in den Ofen gewesen. Als einfacher Detective Sergeant hatte er jede Überstunde bezahlt bekommen, was immerhin ein gewisser Ausgleich für seine ständige Abwesenheit gewesen war. Inzwischen arbeitete er mehr Stunden für weniger Gehalt.

Kate hörte, wie sich die Tür des Personalraums öffnete. Als sie den Blick hob, sah sie Mary Greer von der Notaufnahme hereinkommen. Mary kümmerte sich nicht um die anderen Leute, die im Raum saßen, sondern kam schnurstracks auf Kate zu. Kate lächelte, aber Mary erwiderte das Lächeln nicht. Als sie den Gesichtsausdruck der Kollegin sah, erlosch auch Kates Lächeln. Es war eine Miene, die nichts Gutes verhieß – schlechte Nachrichten, die sie, Kate, persönlich betrafen.

Kates erster Gedanke war: Einem der Mädchen ist etwas passiert! Vor Angst blieb ihr fast das Herz stehen. Aber wenn es um die Kinder ginge, wäre dann nicht Sean gekommen? Egal was auf der Arbeit passierte, er hätte alles stehen und liegen lassen …

Im selben Moment ahnte sie, was geschehen war. Sie schlug eine Hand vor den Mund, spürte die heißen Tränen in den Augen und brachte kein Wort heraus. Mary war inzwischen bei ihr und hielt sie sanft an den Schultern. »Tut mir leid, Kate«, sagte sie. »Es ist Sean. Er ist auf dem Weg hierher. Er wurde angeschossen.«

*

Es gab nur Dunkelheit und Stille, durchdrungen von Albträumen, das orangefarbene Mündungsfeuer einer Pistole, die auf ihn gerichtet war, und Gesichter: das seines Vaters, lüstern, höhnisch … die Fratze von Thomas Keller, die roten Zähne vor Hass zusammengepresst, während in den Augen der Wahnsinn loderte … das Gesicht von Sebastian Gibran, der ihn auslachte … Sally, die mit Schläuchen im Hals im Krankenhaus lag … die weinende Kate, die ihn anflehte, sie nicht zu verlassen … die Gesichter von Louise Russell und Karen Green, deren tote Augen ihn anstarrten und deren leblose Lippen sich öffneten und zu flüstern schienen: Warum hast du uns nicht gerettet? Warum hast du uns nicht gerettet? Warum hast du uns nicht gerettet?

Ihre Gesichter veränderten sich langsam und wurden zu den Gesichtern seiner Töchter, die Augen genauso leblos, die Lippen genauso fahlblau wie die Lippen der toten Frauen, die zu ihm gesprochen hatten wie aus dem Jenseits.

Warum hast du uns nicht gerettet …?

Dann kam die Dunkelheit und brachte Sean Corrigan einen Frieden, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte.