3.
Am Donnerstagmorgen um kurz vor neun stand Sally in Teddington, einem Vorort westlich von London, vor einem unscheinbaren Haus und klopfte an die Tür. Innerlich stellte sie sich darauf ein, wildfremden Menschen Fragen zu stellen, die nicht einmal den engsten Freunden dieser Leute einfallen würden. Obwohl sie die Leute noch nicht kannte, wusste sie aus Erfahrung, dass man sie für eine potenzielle Erlöserin halten würde. An diesem Morgen aber kam sie sich eher wie ein Eindringling vor, der Unheil stiftete. Doch solange sie Antworten auf ihre Fragen bekam – Antworten, die die Ermittlungen in Schwung brachten –, machte sie sich keine Gedanken darüber, welche Auswirkungen ihr Besuch auf das Leben dieser Einwohner von Teddington haben würde.
Während Sally vor der Tür wartete, trat sie ein paar Schritte zurück und betrachtete die Fassade des hässlichen Hauses, das in den frühen Siebzigern der Stolz der Straße gewesen sein mochte. Jetzt wirkte es neben den älteren, stilvolleren Gebäuden nur noch fehl am Platze.
Dann hörte sie, dass jemand mit gedämpften Schritten zur Tür kam, wahrscheinlich in weichen Hausschuhen. Die Person beeilte sich, schlurfte aber hörbar über den Flurboden. Womöglich ein älteres Semester, das den müden Beinen nicht mehr allzu viel zumuten durfte. Nach einigem Geschiebe am Riegel ging die Tür auf, und Sally stand einem älteren Ehepaar gegenüber. Mann und Frau hatten sich über die Jahre hinweg einander angeglichen: Beide waren eher klein und ein wenig untersetzt, das Haar war in Würde ergraut, die Haut gebräunt von Urlauben auf Kreuzfahrtschiffen. Sie trugen Strickjacken, bequeme Haushosen und randlose Brillen, unter denen die klaren blauen Augen größer wirkten. Beide waren zur Tür gekommen und standen nun mit hoffnungsvollen Blicken da, was eigentlich immer nur dann geschah, wenn Leute in freudiger oder ängstlicher Erwartung ausharrten. Bei dem Anblick musste Sally an zwei Kinder denken, die mitten in der Nacht verbotenerweise ins Wohnzimmer spähten, weil die Eltern ihnen erzählt hatten, der Weihnachtsmann habe seine Geschenke dagelassen – aufgeregt, weil sie sich auf die neuen Spielsachen freuten, und zugleich voller Furcht, von den Erwachsenen erwischt zu werden.
»Ja?«, fragte der alte Mann, während seine Frau ihm über die Schulter spähte.
Sally klappte ihren Dienstausweis auf und setzte ein Lächeln auf. »Detective Sergeant Jones, Metropolitan Police …« Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, da sie »Mordkommission« auf der Zunge gehabt hatte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren zwei alte Leute, die an der Haustür zusammenklappten. »Es geht um das Verschwinden Ihrer Tochter Louise. Sie sind doch …« Rasch warf sie einen Blick in ihren Notizblock und ärgerte sich im Stillen, dass sie sich die Namen nicht vorher eingeprägt hatte. »Mr. und Mrs. Graham, Louises Eltern?«
Die alten Leute waren zu verzweifelt, um Sallys zögerlichen Auftritt überhaupt zu bemerken. »Ja«, bestätigte der Mann. »Frank und Rose Graham. Louise ist unsere Tochter.«
Frank und Rose, dachte Sally. Alte Namen. Kraftvolle Namen.
»Könnte ich kurz reinkommen?«, bat sie und machte bereits einen halben Schritt zur Tür.
»Aber bitte«, sagte Mr. Graham und trat höflich beiseite, um Sally in den Hausflur zu lassen.
Sally spürte den Teppich unter den Füßen, verschlissen, dünn und zu bunt gemustert für die heutige Zeit. Aber zum Teppich passten die Blumenmustertapete und die gerahmten Drucke berühmter Gemälde: Constable traf auf van Gogh.
»Und? Haben Sie schon was in Erfahrung gebracht?«, fragte Mr. Graham ungeduldig. »Wissen Sie, wo Louise ist?«
»Frank«, ermahnte seine Frau ihn. »Vielleicht möchte Sergeant Jones eine Tasse Tee.«
»Natürlich, tut mir leid«, entschuldigte sich der alte Mann. »Kommen Sie ins Wohnzimmer. Wir trinken eine Tasse Tee … oder Kaffee, wenn Sie lieber mögen.«
»Tee wäre nett«, sagte Sally.
»Ich setze den Kessel auf«, erklärte Mrs. Graham und schlurfte davon. In Richtung der altbackenen Küche, wie Sally vermutete. »Bin gleich wieder da«, rief die alte Dame über die Schulter.
»Hier entlang, bitte.« Mr. Graham zeigte auf die nächste Tür, als wollte er Sally im Theater einen Platz anweisen.
Sally betrat den Wohnraum und schaute sich um: weitere billige Drucke von Meisterwerken, halbwegs teurer Schnickschnack und Porzellanfiguren von Frauen in viktorianischen Gewändern mit Sonnenschirmchen. Der senffarbene Teppich war so plüschig, dass man drin versank, aber das alles beherrschende Stück in diesem Ensemble war ein alter, übergroßer Röhrenfernseher, mit dem man seit Kurzem digitale Sender empfangen konnte. Sally bezweifelte, dass die beiden alten Leutchen überhaupt wussten, wozu die seltsame Box diente, die von nun an ihren Platz auf dem alten Fernsehgerät eingenommen hatte.
»Bitte«, bot Graham an, »setzen Sie sich doch.«
Sally suchte nach einem Platz, den sich niemand mit ihr teilen würde, und beschloss, sich auf dem Sessel aus Lederimitat niederzulassen. Derartige Sitzmöglichkeiten erinnerten sie an Bewohner von Altenheimen.
»Danke«, sagte sie. Ihren Laptop, den sie wie eine Aktentasche mit sich trug, stellte sie zu ihren Füßen auf den Teppich. Graham nahm derweil seinen Lieblingsplatz in Beschlag, von wo aus man den besten Blick auf den Fernseher hatte.
»Das ist alles sehr schwer für meine Frau, müssen Sie wissen«, begann er.
»Das verstehe ich«, sagte Sally mitfühlend. »Und für Sie sicher auch.«
»Mir geht es ganz gut«, log er. »Ich schlage mich tapfer. Einer muss es ja tun.«
»Natürlich.« Sally wusste nicht, warum sie ihm widersprechen sollte.
»Zehn Jahre in der Armee lehren einen so manches, wenn es hart auf hart kommt. Man lernt, wie man mit schwierigen Situationen umgeht.«
»Sie waren beim Militär?« Bewusst griff Sally das Thema auf, das er vorgab, weil sie den alten Herrn langsam auf die härteren Fragen vorbereiten wollte, die unvermeidlich folgen würden.
»Ja, in der Tat.« Mit einem Mal wirkte er vom Tonfall wie auch von der Körperhaltung ein wenig militärischer. »Ich habe meinen Wehrdienst geleistet, und anders als vielen meiner Kameraden hat es mir gefallen. Also trat ich regulär in die Armee ein, als mein Wehrdienst ablief. Aber die Armee ist was für junge Männer. Nach zehn Jahren bin ich in den zivilen Bereich gewechselt.«
»Was haben Sie beruflich gemacht?«, wollte Sally wissen, auch wenn die Antwort sie nicht sonderlich interessierte.
»Ich war im Verkauf.« Es klang gelangweilt. Sally wäre von einem solchen Arbeitsleben sicherlich auch gelangweilt gewesen.
Unbehagliches Schweigen hing in der Luft, bis Sally sich die nächste Frage überlegte.
»War …«, setzte sie unbeholfen an. »Ich wollte sagen, Louise ist Ihr einziges Kind, nicht wahr?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Oh, das wusste ich nicht«, log sie. Dabei hatte sie bereits an der Haustür gespürt, dass sie es mit den verzweifelten Eltern eines Einzelkindes zu tun hatte. Sollte Louise etwas passieren, hätten die beiden niemanden mehr. »Ich war mir nur nicht sicher.«
»Oh.« Mehr sagte Graham nicht, und wieder breitete sich drückendes Schweigen aus. »Wenn Sie mich kurz entschuldigen«, sagte er schließlich. »Ich schaue nach dem Tee. Rose ist seit Kurzem ziemlich durcheinander. Bin gleich zurück.«
»Natürlich.« Kaum war der alte Herr zur Tür hinaus, erhob Sally sich und nahm die Einrichtung des Wohnzimmers näher in Augenschein, ohne etwas anzufassen. Sie betrachtete die gerahmten Fotos auf dem Sims des alten Elektrokamins mit Feuereffekt. Auf einigen der Bilder waren Frank und Rose Graham in exotischer Kulisse zu sehen, aber die meisten Fotos zeigten Louise: eine Collage von frühester Jugend bis ins Erwachsenenalter. Sally gefielen die Bilder. Sie waren ganz anders als das Foto von Louise, das sie auf der Wache gesehen hatte, dieses leblos wirkende Passbild, das Louises Mann der Polizei überlassen hatte. Diese Fotos hier sprühten vor Energie und Lebensfreude, Hoffnung und Erwartungen: ein Kind, das für den Schulfotografen strahlt, ein Teenager, der mit Freunden vor dem London Eye posiert, eine junge Frau, die vor einem Universitätsgebäude ihr Abschlussdiplom entgegennimmt.
»Verdammt, wo steckst du, Louise?«, hörte Sally sich leise fragen. »Was ist mit dir passiert?« Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als die Grahams mit klapperndem Tablett ins Wohnzimmer zurückkamen. Das Tablett trug Mr. Graham, während seine Frau ihm die Tür aufhielt und dafür sorgte, dass nichts im Weg lag.
»Da wären wir«, sagte Mrs. Graham in beinahe fröhlichem Tonfall. »Stell es dort ab, Frank, dann kümmere ich mich um alles.« Er kam der Aufforderung nach und zog sich dann auf seinen Stammplatz zurück. Auch Sally setzte sich wieder. »Wie möchten Sie Ihren Tee, Sergeant?«
»Mit Milch und Zucker bitte«, erwiderte Sally. »Sie können ruhig Sally zu mir sagen.«
»Also gut, Sally«, griff Mr. Graham das Angebot auf. »Wie können wir Ihnen bei der Suche nach unserer Tochter behilflich sein?«
»Nun«, begann Sally, ehe sie Tasse samt Untertasse von Mrs. Graham in Empfang nahm. »Danke schön. Es gibt da ein paar Fragen, die Sie besser beantworten können als alle anderen. Dinge, die nur Eltern über ihre Kinder wissen.«
»Louise ist eine gute Tochter«, versicherte Mrs. Graham. »Ist sie immer gewesen. Aber ich glaube nicht, dass wir Ihnen noch etwas erzählen könnten, was John nicht bereits zu Protokoll gegeben hat.«
»Sie sprechen von Louises Mann, Ihrem Schwiegersohn?« Nur, um das klarzustellen.
»Er mag ihr Mann sein«, meldete Mr. Graham sich zu Wort, »aber natürlich kennt er sie nicht so gut wie wir.«
Aha, dachte Sally, Louise ist also Papas Mädchen, und Papa klingt ein bisschen eifersüchtig.
»Haben Sie ein Problem mit ihm?«, versuchte Sally sich vorzutasten.
»Ja, natürlich«, antwortete Mrs. Graham anstelle ihres Mannes. »Frank hatte ein Problem mit all ihren Freunden. Keiner der Jungs war je gut genug für ihn und seine Louise, auch John nicht.«
»Sie hätte eine bessere Wahl treffen können«, sagte er unterkühlt.
»Aber er ist ein guter Ehemann und ein guter Mensch«, betonte Mrs. Graham und blickte ihren Mann dabei vorwurfsvoll an. »Es war die richtige Entscheidung, ihn zu heiraten, wenn du mich fragst.«
Mr. Graham verdrehte die Augen. Er schien anderer Meinung zu sein.
»Ist sie glücklich?«, fragte Sally. »In der Ehe?«
»Natürlich«, antwortete Mrs. Graham, während ihr Mann auf der Unterlippe kaute.
»Wissen Sie von irgendwelchen Problemen?«, fragte Sally weiter.
»Nein, überhaupt nicht«, kam die prompte Antwort von Louises Mutter. »Sie wollen eine Familie gründen. Louise ist schrecklich aufgeregt, weil sie immer Kinder wollte.«
»Dann war die ganze Ausbildung umsonst«, sagte Mr. Graham, um klarzumachen, dass er auch noch da war.
»Ein Diplom in Grafikdesign«, spöttelte Mrs. Graham. »Damit kann sie doch wohl nicht die Welt erleuchten, oder? Zum College ist sie nur, weil er das wollte«, fügte sie hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Gatten. Wieder verdrehte er die Augen.
»Also hat sie John am College kennengelernt?«
»Nein.« Mrs. Graham schüttelte den Kopf. »Das war vor ein paar Jahren bei Freunden.«
»Ich frage es nur ungern«, kündigte Sally an, »aber gab es da noch jemand anders?«
Diese Frage schien die Grahams zu überfordern. »Wie bitte?« Die Dame des Hauses zog die Stirn in Falten. »Jemand anders? Wie meinen Sie das?«
Sally holte hörbar Luft. »Könnten Sie sich vorstellen, dass Louise sich mit einem anderen Mann getroffen hat?« Sie blickte in zwei ausdruckslose Gesichter, als sie auf eine Antwort wartete.
»Ein anderer Mann?«, wiederholte Mrs. Graham.
»So was gibt’s«, meinte Sally. »Das würde sie ja nicht zu einem schlechten Menschen machen. Es kommt in Beziehungen immer wieder vor.«
»Nicht bei Louise«, betonte Graham und wirkte fast beleidigt. Seine Stimme wurde strenger.
»Sind Sie sicher?« Sally blieb hartnäckig. »Verstehen Sie, in diesem Punkt brauchen wir Gewissheit.«
»Ja, wir sind uns sicher«, sagte Mr. Graham im Tonfall der Endgültigkeit.
Sally wartete einen Moment und versuchte, möglichst unauffällig Mrs. Grahams Mienenspiel zu deuten. Gab es Anzeichen für Scham im Blick der alten Dame? Würde Mrs. Graham ihrem Blick ausweichen? Doch Sally fiel nichts auf.
»Wie ist es denn mit John?«, fragte sie weiter. »War Louise sich je unsicher, was ihn betraf? Könnte es sein, dass er eine Affäre hat?«
»Falls ja, hat Louise uns gegenüber nie etwas erwähnt«, sagte Graham, und es klang überzeugend. »Aber wir würden es ohnehin nicht erfahren. Wir leben ja nicht auf engstem Raum zusammen. Ich meine, natürlich sehen wir uns in regelmäßigen Abständen, aber die beiden wohnen auf der anderen Seite Londons. Und es ist ihr Leben.«
»Ich verstehe«, sagte Sally. »Tut mir leid, dass wir diese Fragen stellen müssen, aber wenn eine junge Frau vermisst wird, müssen wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen, ganz gleich, wie abwegig die Fragen sind.«
»Aber gewiss«, sagte Mrs. Graham verständnisvoll. »Wir tun alles, wenn es hilft, Louise wiederzufinden.«
Sally spürte, wie stark Schmerz und Verlustängste der alten Dame zusetzten. Sie wollte etwas Tröstliches sagen, als sie unvermittelt von einem Anflug greller Panik erfasst wurde. Eine innere Stimme drängte sie, das Haus schnellstmöglich zu verlassen, fort von diesen Leuten, ehe die beiden ihre Albträume auf sie abladen konnten … ehe man von ihr verlangte, eine Frau wie Mrs. Graham zu trösten und ihr vorzugaukeln, alles würde wieder gut.
Sally erhob sich abrupt und stellte die Tasse Tee, die sie nicht angerührt hatte, auf den Tisch.
»Sie waren mir eine große Hilfe, danke. Aber ich möchte Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen.«
Sally strebte bereits zur Tür, als Mrs. Graham sagte: »Sie glauben doch nicht, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist? So ist es doch nicht, oder?«
»Ich bin mir sicher, es geht ihr gut«, versuchte Sally die Frau zu beruhigen, obwohl sie nur noch den Wunsch hatte, dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen.
»Wenn ihr etwas zugestoßen ist, weiß ich nicht, was wir tun sollen«, quälte Mrs. Graham sie mit ihren Ängsten. »Sie ist unser einziges Kind. Sie war uns immer eine wundervolle Tochter. Sie ist so ein liebes Mädchen, niemand würde ihr etwas antun, oder? Sie gehört nicht zu den Menschen, denen man Böses will. Ich meine, diese schrecklichen Männer, von denen man schon mal hört, die sind doch hinter Prostituierten und jungen Dingern her, die keine richtigen Familien haben, nicht wahr? Hinter Flittchen, die sich bis spät in die Nacht irgendwo herumtreiben, ist es nicht so?«
Sally spürte den Schmerz, der wieder in den Narben auf ihrer Brust zu pochen begann. Sie sah Sebastian Gibrans Gesicht vor ihrem inneren Auge, die weißen, ebenmäßigen Zähne, die blutunterlaufenen Augen. Übelkeit erfasste sie, alles Blut wich aus ihrem Gesicht, und ihre Lippen verfärbten sich bläulich-weiß, während sie versuchte, die Galle zurückzuhalten, die ihr in den Mund stieg. Sie wollte, dass Mrs. Graham endlich aufhörte, aber es war noch nicht vorbei.
»Louise gehört nicht zu diesen leichten Mädchen, auf die es diese Männer abgesehen haben. Sie fährt zur Arbeit und dann wieder nach Hause. Ich habe im Fernsehen gesehen, dass diese Mörder sich ihre Opfer ausgucken, nicht wahr? Manche Mädchen ziehen diese schrecklichen Männer irgendwie an … sie tun irgendetwas, womit sie die Aufmerksamkeit dieser Verrückten wecken.«
Sally ahnte, dass sie sich jeden Moment übergeben würde, auch wenn ihr leerer Magen nichts hergeben könnte außer Galle, vermischt mit Speichel. Mühsam fand sie die Stimme wieder.
»Könnte ich kurz Ihre Toilette benutzen?«, fragte sie und presste die Lippen aufeinander.
Mrs. Graham war den Tränen nahe. »Natürlich. Gleich hier im Flur, die zweite Tür links.«
Sally taumelte aus dem Wohnzimmer und versuchte sich zu erinnern, von welcher Tür Mrs. Graham gesprochen hatte. Nachdem sie sich zweimal vertan hatte, fand sie endlich das kleine Bad, stürmte hinein und dachte gerade noch daran, die Tür abzuschließen. Sie bückte sich, streifte sich mit einer Hand das Haar aus der Stirn und hielt ihr Gesicht dicht über die Toilettenschüssel. Sofort krampfte sich ihr Magen zusammen, bis sie zu würgen begann und sich endlich übergab, wieder und wieder, doch der Schmerz in ihrem Bauch brachte nichts hervor außer Galle, grünlich-gelb und bitter wie Hass.
Schließlich endete das Würgen. Sally blinzelte, richtete sich auf und versuchte, sich im Spiegel zurechtzumachen. Ihre Augen tränten und waren gerötet, als hätte sie geheult, aber ein bisschen Farbe kehrte in Gesicht und Lippen zurück. Sie spülte sich den Mund aus und benetzte Lider und Wangen mit ein paar Spritzern Wasser. Vorsichtig tupfte sie das Gesicht mit dem Handtuch ab. Als sie glaubte, einigermaßen passabel auszusehen, kehrte sie zu den Grahams zurück, dachte aber nur daran, dieses Haus möglichst schnell zu verlassen.
Als sie das Wohnzimmer betrat, schauten die beiden alten Leute zu ihr auf. Sie wirkten wie zwei brave Labradore, die auf Frauchens Kommando warteten. »Geht es Ihnen gut?«, fragte Mrs. Graham.
»Ja, danke, bestens«, antwortete Sally.
»Sie sehen aber nicht sehr gut aus, meine Liebe«, stellte Mrs. Graham fest. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ist nur ein Virus«, wiegelte Sally ab. »Wie dem auch sei, danke, dass Sie Zeit für mich hatten. Und sollte Ihnen noch etwas einfallen, lassen Sie es mich wissen.« Sie nahm den Laptop, zog eine Visitenkarte aus einer Seitentasche und reichte sie Mrs. Graham. »Wir melden uns sofort, wenn wir etwas Neues erfahren.«
»Vielen Dank.«
Mrs. Grahams Dankbarkeit verschlimmerte Sallys Schuldgefühl nur. »Keine Ursache«, rief sie über die Schulter und eilte zur Haustür, gefolgt von den Grahams. Sie wartete gar nicht erst ab, dass ihr die Tür geöffnet wurde, sondern machte sie selbst auf und stolperte beinahe ins Freie. Erleichtert sog sie die frische Luft ein. »Wir bleiben in Kontakt«, sagte sie so verbindlich wie möglich.
»Bitte finden Sie Louise«, sagte Mr. Graham. Sally sah, dass seine Augen feucht geworden waren. »Es ist uns egal, was sie getan hat, sagen Sie ihr das. Wir wollen nur, dass es ihr gut geht.«
»Sicher«, erwiderte Sally und entfernte sich bereits ein paar Schritte vom Haus, bis sie stehen blieb, als Mr. Graham etwas sagte, das sie nicht sofort verstand.
»Wir haben etwas Geld«, rief er ihr nach.
»Wie bitte?« Sally war verwirrt. Wollte der Mann sie bestechen, damit sie sich besonders ins Zeug legte, um seine Tochter zu finden?
»Wenn jemand Geld verlangt … ein Erpresser, verstehen Sie? Wir haben Ersparnisse. Nicht viel, aber es könnte reichen.«
»Nein«, sagte Sally entschieden. »Hier geht es nicht um Geld. Wir rechnen nicht mit einer Lösegeldforderung.«
»Worum geht es dann?«, fragte Mr. Graham.
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Sally wahrheitsgemäß. Das Verlangen, endlich allein im Auto zu sitzen, wurde immer unerträglicher. »Hoffen wir, dass Louise bald wieder zu Hause ist, gesund und munter.«
»Und wenn nicht?« Mr. Grahams Frage hing in der Luft. »Was dann?«
Verzweifelt suchte Sally nach einer Antwort. Sie überlegte, was die Sally von früher gesagt hätte, aber ihr fiel nichts ein.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Es tut mir leid, aber ich weiß es nicht.«
*
Corrigan saß an seinem Schreibtisch, hatte Hunger und Durst und fühlte sich übermüdet. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, auf die Schnelle noch zu frühstücken, aber zu viel war dazwischengekommen: ein weiterer Bericht, ein weiteres Vernehmungsprotokoll von möglichen Zeugen, dann die Nachricht, jemand habe vermutlich Louise Russell gesehen … die Aussicht auf eine Auszeit schwand. Corrigan ahnte, dass aus der ersehnten Frühstückspause bald die fällige Mittagspause würde, wenn es so weiterging.
Als jemand in schneller Folge an den Rahmen der Bürotür klopfte, schaute Corrigan von dem aktuellen Bericht auf, demzufolge Wochen vor Louises Verschwinden nachts ein Herumtreiber unweit des Russell-Hauses gesehen worden war. Corrigan sah Detective Sergeant Donnelly, der mit seiner massigen Erscheinung den Türrahmen ausfüllte.
»Morgen, Chef«, grüßte Donnelly. »Wie sieht’s aus? Alles rosig, will ich hoffen.«
»Es wäre sehr viel rosiger, wenn Sie die Zeugenbefragungen besser organisieren würden«, erwiderte Corrigan vorwurfsvoll.
»Ich versuche doch bloß, Ressourcen zu sparen«, sagte Donnelly. »Ich will nicht mehr Zeit und Leute darauf verwenden als nötig. Warten wir noch ein paar Tage, und die Frau taucht wieder auf. Dann können wir wieder das machen, was man von uns erwartet.«
Corrigan wusste, er war auf Donnellys Hilfe angewiesen. Er durfte nicht zulassen, dass sein Detective Sergeant die Ermittlungen im Fall Louise Russell für Zeitverschwendung hielt. Donnelly war gewissermaßen Corrigans Gegenpol. Er gab sich nur mit dem ab, was vor ihm lag. Er sicherte Beweise und wertete sie aus, stellte Zeugen unbequeme Fragen, falls nötig, verhörte Verdächtige – aber alles auf der Grundlage handfester Beweise. Mit Theorien und Schlussfolgerungen gab Donnelly sich nicht ab. Aber er konnte Ergebnisse vorweisen. Corrigan hingegen verließ sich auf seinen Instinkt und machte sich seine Vorstellungskraft zunutze. Für ihn waren Beweise eine Richtschnur, keine starre Vorgabe. Während eines Verhörs brachte er Verdächtige aus der Fassung, indem er ihnen unter die Nase rieb, was sie gedacht hatten, als sie das Verbrechen begingen, anstatt sich auf Fakten zu stützen, die er beweisen konnte. Donnelly und Corrigan ergänzten sich – und wenn dieses Team effektiv arbeiten sollte, brauchten sie einander. Das hatte Corrigan besser begriffen als Donnelly.
»Hören Sie.« Corrigan blickte seinem Sergeant in die Augen und legte all seine Überzeugungskraft in seine Stimme. »Diesmal irren Sie sich. Louise Russell ist irgendwas Schlimmes passiert. Ob sie noch lebt? Ich weiß es nicht, aber ich nehme es an. Und das bedeutet, dass wir vielleicht noch eine Chance haben, sie rechtzeitig zu finden, ehe sie als Leiche in einem Fluss treibt. Ich brauche Ihre Hilfe, Dave.« Er lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wir alle wissen, dass Sally noch nicht wieder die Alte ist. Ich kann es mir nicht leisten, beide Detective Sergeants zu verlieren.«
Donnelly stand einen Moment schweigend da und schien sich eine Antwort zu überlegen. »Sind Sie sicher?«, fragte er dann. »Sie glauben also nicht, dass Russell mit einem Romeo durchgebrannt ist? Ein letztes Mal um die Häuser ziehen, ehe man ein gesetztes Leben mit Kindern und Kaffee am Frühstückstisch beginnt?«
»Nein, dieser Fall liegt anders, da bin ich mir sicher«, erwiderte Corrigan. »Leider.«
»Also gut«, sagte Donnelly widerstrebend. »Was soll ich tun?«
»Kümmern Sie sich darum, dass die Zeugenbefragungen zu Ende gebracht werden«, antwortete Corrigan. »Und halten Sie die Leute auf Trab. Ich möchte, dass sich alle reinhängen, als hätten wir schon eine Leiche. Keiner soll hier eine ruhige Kugel schieben, nur weil es um eine Vermisste geht.«
»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, versicherte Donnelly.
»Ach, wirklich?« Corrigan senkte die Stimme. »Und behalten Sie Sally im Auge. Sie ist ein bisschen unberechenbar … Sie wissen schon, was ich meine.«
»Kein Problem«, sagte Donnelly.
Sie wurden vom Telefonklingeln unterbrochen. Corrigan bedeutete seinem Sergeant, einen Augenblick zu warten, und nahm das Gespräch entgegen.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Detective Sergeant Roddis von der Spurensicherung. Roddis klang selbstbewusst wie immer und nahm keine Rücksicht auf Dienstgrade. Sie interessierten ihn nicht.
»Guten Morgen, Mr. Corrigan.«
»Sergeant Roddis. Haben Sie etwas für mich?«
»Sind gerade im Haus der Russells und konzentrieren uns auf den Flurbereich und die Haustür, wie Sie gesagt haben.«
»Gibt es Hinweise?«
»Es scheint so …« Corrigans Puls beschleunigte sich. »Leider ist der Tatort nicht so gut erhalten, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber zumindest wissen wir, dass der Entführer keine Anstalten gemacht hat, Spuren zu verwischen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Oberflächen abgewischt wurden, nichts wurde geschrubbt und dergleichen. Und bei der Untersuchung des Holzfußbodens haben wir einen Handabdruck gefunden. Wir haben ihn gleich mit John Russells Hand verglichen. Ist aber nicht seine, auch nicht die von Louise. Ihre Hand ist kleiner.«
»Können Sie den Abdruck sichern, ohne ihn zu beschädigen?«, fragte Corrigan. In seiner Vorstellung erschien ein Bild des Unbekannten, wie er Louise Russell überfiel: Sie lag am Boden; er kniete neben ihr und stützte sich mit einer Hand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren … die Finger gespreizt. Aber was machte er in diesem Augenblick mit ihr?
»Wir haben den Abdruck längst gesichert«, verkündete Roddis nicht ohne Stolz.
»Ist er deutlich genug, dass wir ihn abgleichen können?«
»Wenn die Person, von der dieser Abdruck stammt, im System ist, finden wir eine Übereinstimmung. Ich schicke alles ins Labor.«
In einem Punkt war Corrigan sicher: Wer immer Louise Russell entführt hatte, war bereits straffällig geworden. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass der Täter ein Schwerverbrecher sein musste, aber er hatte sich in der Vergangenheit irgendetwas zuschulden kommen lassen. Die Frage war nur, hatte man ihn überführt? Falls nicht, gab es keine Fingerabdrücke in den Datenbanken.
»Da wäre noch etwas«, sagte Roddis. »Auf dem Boden, unweit der Fingerabdrücke, haben wir schwache Spuren einer untypischen Chemikalie entdeckt. Wir haben eine Probe fürs Labor genommen. Ich tippe auf Chloroform.«
Ein weiterer Abschnitt des Films, der vor Corrigans geistigem Auge ablief, nahm Gestalt an: Der Täter kauerte sich neben sein Opfer und träufelte Chloroform auf ein Tuch, das er dem Opfer dann auf Mund und Nase drückte. Corrigan vermutete, dass der Unbekannte dem Opfer die Hände zusammengebunden hatte – nicht aber die Füße, denn Louise sollte noch aus eigener Kraft laufen können.
Er blinzelte die ungebetenen Bilder fort und konzentrierte sich wieder auf das Telefonat. »Okay, danke. Melden Sie sich, sobald Sie mehr wissen.«
Nachdem er aufgelegt hatte, bat Corrigan seinen Sergeant, ihn zu dem großen Besprechungsraum zu begleiten, in dem die Detectives des Teams an ihren Schreibtischen arbeiteten.
»Alle mal herhören«, verschaffte Corrigan sich mit lauter Stimme Gehör. »Die Spurensicherung hat soeben bestätigt, dass es Hinweise gibt, dass Louise Russell tatsächlich aus ihrem Haus entführt wurde. Offenbar von einem männlichen Täter. Noch haben wir es nicht mit einem Mordfall zu tun, aber es könnte schnell einer werden, wenn wir die Frau nicht bald finden. Ich weiß, dass dieser Fall nicht unbedingt in unser Ressort fällt, aber wir sind jetzt Louise Russells einzige Hoffnung. Daher möchte ich, dass wir alles geben. Wir müssen jeder noch so kleinen Spur nachgehen und jede Information auswerten, die wir erhalten, ganz gleich, wie unbedeutend sie uns erscheinen mag. Also, finden wir Louise Russell, ehe es zu spät ist.« Corrigan blickte von einem zum anderen und stellte zufrieden fest, dass seine Botschaft angekommen zu sein schien.
»Ich hoffe immer noch, Sie irren sich«, sagte Donnelly. »Nur dieses eine Mal.«
»Glauben Sie mir, ich irre mich nicht. Nur habe ich keine Ahnung, wie viel Zeit uns bleibt. Wie lange wird es dauern, bis der Täter seine neue Spielgefährtin leid ist? Und wenn er sein Opfer auf den Müll geworfen hat, was hat er dann vor? Hat er es auf eine weitere Frau abgesehen?«
»Sagen Sie es mir«, forderte Donnelly ihn auf.
»Wenn ich’s wüsste«, erwiderte Corrigan.
*
Es war später Donnerstagvormittag. Thomas Keller hätte längst bei der Arbeit sein müssen, aber sein Abteilungsleiter hatte ihm erlaubt, ein paar Stunden frei zu nehmen, solange er die Zeit am Nachmittag nachholte. Während Keller den verwahrlosten Hof überquerte, der die Hütte mit jener Metalltür verband, die hinunter in das Gewölbe führte, wuchsen seine Erregung und die innere Unruhe.
Er bahnte sich seinen Weg durch die Stapel alter Autoreifen und Ölfässer, die verstreut auf dem Gelände standen. Die ehemalige Farm bestand aus mehreren, nicht mehr genutzten Nebengebäuden und heruntergekommenen Wellblechhütten, in denen einst Hühner und sonstiges Viehzeug untergebracht gewesen waren. Selbst die Hütte, in der Keller hauste, war in erbärmlichem Zustand: Sie bestand aus grauen Schalungssteinen aus den Sechzigern, die weder verputzt noch gestrichen waren.
Keller trug wieder seinen weiten Trainingsanzug und hatte sich den Elektroschocker in die Tasche geschoben. Bei jedem Schritt schlug ihm das Gerät unangenehm gegen die Hüfte. In der anderen Hosentasche steckte der Schlüssel, der sich vermutlich wieder in den Fäden des Innenfutters verheddern würde. An diesem Morgen brachte er ein Frühstückstablett und eine Tasche mit, die er sich über die Schulter geworfen hatte.
Als er die schwere metallbeschlagene Tür zum Gewölbe erreichte, stellte er das Tablett vorsichtig auf dem Boden ab. Er ärgerte sich, dass er nicht längst eines der alten Ölfässer zur Tür gerollt hatte – er hätte das Tablett darauf abstellen können. Na, das würde er nachholen. Aber zuerst einmal wollte er Sam das Frühstück bringen.
Während er an dem großen Vorhängeschloss hantierte, spürte er, wie sein Puls schneller ging, als eine Mischung aus Vorfreude und Furcht ihn erfasste. In der Nacht zuvor hatte er sich kaum zurückhalten können. Immer wieder hatte er dem Verlangen nachgeben wollen, sich heimlich in das unterirdische Gewölbe zu schleichen, nur um Sam zu sehen, um zu beobachten, wie sie schlief. Ja, er hätte sich am liebsten neben das Gitter gelegt, um ihrem Atmen zu lauschen. Doch er wusste, es war klüger, sie allein zu lassen und ihr Ruhe zu gönnen. Jetzt, da es nur noch eine Frage von Augenblicken war, bis er Sam wiedersah, war das Verlangen, bei ihr zu sein, schier überwältigend, zumal er wusste, dass auch Sam ihr Wiedersehen herbeisehnte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung, denn sie war der Schlüssel, um das eigene Tun, die eigenen Launen und Wünsche unter Kontrolle zu halten.
Langsam zog er die große Tür auf und sah, wie das Tageslicht über die Treppenstufen in das Gewölbe flutete. Noch blieb er oben am Absatz stehen, legte den Kopf leicht schräg und lauschte. Drangen irgendwelche Geräusche aus der Dunkelheit dort unten zu ihm herauf? Als er nichts hörte, bückte er sich, hob das Tablett vom Boden auf und stieg eine steinerne Stufe nach der anderen hinunter. Die ganze Zeit lauschte er angespannt. Hätte er etwas Beunruhigendes vernommen, hätte er das Tablett fallen lassen und wäre zurück ins Freie gestürmt, hätte die Metalltür fest verschlossen und wäre nie wieder in das Gewölbe zurückgekehrt – nie wieder, ganz gleich, was geschehen mochte.
Auf der untersten Stufe lugte er vorsichtig um die Ecke der Mauer, die die Treppe vom Rest des Raumes trennte. Atemlos spähte er ins Halbdunkel und wartete, bis seine Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten. Er achtete besonders darauf, ob sich während seiner Abwesenheit etwas verändert hatte. Es dauerte einen Moment, aber schließlich konnte er die beiden Gestalten erahnen, die in ihren Käfigen kauerten. Beide hatten die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Die eine Frau hockte in ihrer schmutzigen Unterwäsche da, während die andere sich in die Decke gehüllt hatte, die er ihr dagelassen hatte. Doch er wusste, dass sie unter der Decke splitternackt war.
Schließlich trat er tiefer in das Gewölbe und konzentrierte sich nur auf Louise, als gäbe es Karen überhaupt nicht. »Hast du gut geschlafen, Sam? Ich habe dir Frühstück mitgebracht.« Er hob das Tablett ein wenig an, damit sie es besser sehen konnte. »Wahrscheinlich möchtest du dich vorher ein bisschen waschen, oder?«
Vorsichtig stellte er das Tablett auf den behelfsmäßigen Tisch hinter dem alten Krankenhaus-Wandschirm und zog an der kleinen Kordel. Augenblicklich durchflutete die Glühbirne das Gewölbe mit hellem Licht. Louise kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf weg, während Keller den Elektroschocker und den Schlüssel aus den Taschen zog und langsam zum Käfig trat. Auf keinen Fall wollte er sie durch zu hastige Bewegungen erschrecken. Dann nahm er das Vorhängeschloss ab und ließ die Käfigtür aufschwingen, ehe er den Kopf durch die Öffnung steckte. Als er sah, dass Louise entsetzt auf den Elektroschocker starrte, wanderte auch sein Blick zu dem Gerät.
»Ich vertraue dir, Sam, das sollst du wissen. Aber die anderen könnten immer noch versuchen, uns zu entzweien. Wenn sie das tun, brauche ich das hier, um dich zu beschützen. Das verstehst du doch?«
Sie nickte stumm, doch ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. Unweigerlich dachte er an ein Kätzchen, das Angst hat, jeden Moment von der Mutter getrennt zu werden. Das gab ihm ein gutes Gefühl. Ja, er fühlte sich stark und wusste, dass er gebraucht wurde. Er hatte alles im Griff.
Schließlich wich er von der Öffnung zurück, damit die Frau den Käfig verlassen konnte. Er beobachtete, wie sie langsam vorwärtskroch, den Kopf einzog und sich dabei an die flauschige Decke klammerte, die ihre Blöße verbarg. Er wusste, was sie ihm vorenthielt, erinnerte er sich doch an jenen Tag, als er sie hierhergebracht hatte. Er hatte ihr die Kleider ausgezogen – jene Kleider, die die anderen ihr aufgedrängt hatten.
Er spürte, wie Erregung von ihm Besitz ergriff. Seine Jogginghose spannte sich, als er eine Erektion bekam. Allein die Erinnerung an den Augenblick, als er sie nackt gesehen hatte, ihre weiche, warme Haut berührt hatte, löste unerträgliches Verlangen in ihm aus.
Rasch schloss er die Augen und versuchte, nicht die Kontrolle zu verlieren, aber die Bilder ihrer runden Brüste, der dunkel umrandeten Knospen und des weichen Haarflaums, der ihre Weiblichkeit fast vollständig verbarg, hatten sich in seine Erinnerung gebrannt. Das Verlangen, sie jetzt und hier zu nehmen, war so stark, dass es ihn zu überwältigen drohte. Er wusste ja, dass sie es auch wollte – ihn als Liebhaber wollte –, aber zunächst musste er ihr zeigen, dass er sie achtete. Wenn sie dann endlich als Paar zusammenkamen, würde alles viel schöner sein, weil sie sich Zeit gelassen hatten.
Sie verschwand hinter dem Wandschirm, wurde zu einem formlosen Schatten. Nur die Umrisse des Kopfes waren zu erkennen. »Warmes Wasser müsste genug da sein«, brachte er mühsam hervor, da die Gier nach Sex sich noch immer schmerzhaft bemerkbar machte. »Das Handtuch hängt auch noch da.« Er hörte, wie sie den Wasserhahn aufdrehte, und wartete, wusste er doch, was kommen würde. Endlich ließ sie die Decke von den Schultern zu Boden gleiten, sodass ihre Silhouette sich deutlich hinter dem dünnen Schirm abzeichnete: der wohlgeformte Rücken, die Rundungen ihrer Hüften und ihres Pos, die schönen Brüste, die Spitzen ihrer Nippel. Er sah, wie sie sich mit beiden Händen über den bloßen Leib fuhr und sich dort anfasste, wo er sie sehnsüchtig berühren wollte … ihr Schatten war für ihn wie ein Modell, auf das er seine Erinnerungen an ihre Nacktheit projizierte.
Plötzlich merkte er, dass er die Frau offenen Mundes begaffte, und stieß einen hässlichen, kehligen Laut aus, den sie – so hoffte er – beim Geräusch des fließenden Wassers nicht gehört hatte. Kurz darauf drehte sie den Hahn zu, trocknete sich hastig ab und zog sich die Decke wieder über die Schultern. »Vergiss das Tablett nicht«, stieß er mit rauer Stimme hervor und merkte erst jetzt, wie trocken sein Mund war. »Du musst was essen. Denn du musst bei Kräften bleiben.«
Sie trat hinter dem Schirm hervor, hielt den Kopf gesenkt und schaute nur kurz zu ihm auf, ehe sie wieder auf den Käfig zuhielt. Beim Anblick des Elektroschockers in seiner Hand beschleunigte sie ihre Schritte, zog den Kopf ein und kletterte gehorsam zurück in ihren sicheren Rückzugsort, den er extra für sie geschaffen hatte. Er wartete, bis sie es sich wieder bequem gemacht hatte, und beobachtete, wie sie das Tablett beäugte, das Müsli, die Milch, das bisschen Obst.
Ja, allmählich wurde sie so, wie er sie haben wollte, wie er sie brauchte. Behutsam drückte er die Käfigtür zu und brachte das Schloss an, und die ganze Zeit betrachtete er sie voller Aufregung und Vorfreude, weil er jenen Moment herbeiwünschte, an dem er endlich mit ihr zusammen sein würde. So hatte es immer schon sein sollen.
Doch er brauchte dringend Erleichterung, um die Anspannung loszuwerden. Um das Pochen in seinem Kopf, den ziehenden Schmerz in seiner Lendengegend abzustellen …
Sein Blick wanderte zu Karen Green. Er war angewidert von ihr, und doch fühlte er sich zu ihr hingezogen, zu dem Geruch, der ihrem Käfig entströmte. Langsam ging er zu ihr, die Augen zu Schlitzen verengt, den Mund vor Abscheu verzogen, sodass seine unregelmäßigen, fleckigen Zähne zu sehen waren. Karen witterte Gefahr und versuchte, so weit wie möglich zurückzuweichen, doch ihre Bemühungen endeten an den kalten Gitterstäben.
»Du widerliche kleine Hure«, schimpfte er mit hasserfüllter Stimme. »Du hast dich eingepisst. Willst du, dass ich dich bestrafe?« Seine Stimme wurde schrill. »Willst du das, du Nutte?«
»Nein, bitte!«, flehte sie ihn an. »Ich kann doch nichts dafür. Bitte, ich hab ja versucht, es zurückzuhalten. Ich wusste, dass du wütend wirst, aber …«
Voller Zorn trat er dichter an den Käfig, die ersehnte Erlösung vor Augen. Zwischen zusammengepressten Zähnen stieß er abgehackt hervor: »Wenn du gewusst hast, dass es mich wütend macht, warum – hast – du – es – dann – getan?«
»Ich habe es doch nicht gewollt!«, bettelte sie weiter, und Tränen hinterließen helle Spuren auf ihrem schmutzigen Gesicht.
Ihre Augen weiteten sich vor Panik, ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, als er sich ihr näherte. Wütend riss er die Luke an der Seite des Käfigs auf, durch die nur eine Hand oder ein Arm passte. »Steck deinen Arm durch das Loch!«, fuhr er sie an.
»Nein«, schluchzte sie.
»Steck den Arm durch das beschissene Loch. Du weißt, was dir sonst blüht.«
»Das kann ich nicht«, stieß Karen zwischen kläglichen, beinahe kindlichen Schluchzern hervor. »Das schaffe ich nicht.«
»Steck den Arm durch das Scheißloch, verdammt noch mal!« Inzwischen schrie er so laut, dass beide Frauen vor Angst zitterten.
Langsam rutschte Karen auf allen vieren zur Öffnung und schob den Arm durch die Luke, drehte aber den Kopf weg und kniff die Augen zusammen, weil sie wusste, was auf sie zukam. Er machte einen Satz nach vorn und drückte ihr den Elektroschocker auf die Haut. Der Stromschlag war so heftig, dass Karen zur anderen Seite des Käfigs flog, gegen das Gitter prallte und zu Boden sank.
Er wartete, bis die Krämpfe zu Zuckungen verebbt waren. Dann stürmte er zur Käfigtür, ließ in seiner Eile aber den Schlüssel fallen. Hastig bückte er sich und suchte danach, bis er ihn endlich ertastete. Er raffte ihn an sich und kicherte voller Vorfreude.
Kaum hatte er das Schloss geöffnet, riss er die Tür auf und stürzte sich auf Karen, in der Hoffnung, dass sie sich noch nicht ganz von den Stromstößen erholt hatte. Gier und Lust übermannten ihn nun vollends. Alles erschien ihm wie ein Traum: Als hätte er seinen Körper verlassen und würde beobachten, wie jemand anders zu Karen in den Käfig stieg. Ja, jemand anders drehte sie auf den Bauch, riss an ihrer Unterwäsche, zerrte sich die Hose herunter und suchte nach schneller Befriedigung. Er stieß mit den Hüften nach vorn, verfehlte das Ziel seiner Lust, versuchte es wieder und wieder, doch immer glitt er bei der Suche nach der warmen Öffnung ab. Dann endlich – als er kurz davor war, die Dämonen loszulassen, die in ihm pochten – spürte er, wie er in sie eindrang. Bei dem erlösenden Gefühl warf er den Kopf in den Nacken, stöhnte, schrie, verdrehte die Augen, als hätte er eine solche Lust noch nie verspürt. Auf dem Weg zur Ekstase fragte er sich verschwommen, ob die anderen auch so gut sein würden wie die hier, seine erste.
Wild stieß er in sie, ignorierte ihre Schreie der Erniedrigung und des Schmerzes. Immer wieder drang er hart in sie ein und ächzte vor Lust, denn der warme feuchte Tunnel, der sein Glied umschloss, spornte ihn an, noch fester, noch tiefer zuzustoßen, bis er endlich zum Höhepunkt kam und sich in ihr entlud. Als die Ekstase abebbte, trieb er sich ein letztes Mal tief in sie und spürte, wie sein Körper sich entspannte.
Allmählich kehrte er ins Hier und Jetzt zurück. Verschwommen machte er sich bewusst, was er getan hatte. Ein heftiges Schamgefühl befiel ihn, als er auf das schluchzende Geschöpf hinunterschaute, das halb unter ihm lag. Sein Glied erschlaffte, und er zog sich aus ihr zurück, streifte die Hose wieder hoch und kroch zur Käfigtür. Doch er konnte die Frau nicht mehr ansehen; sein Blick schweifte bereits hinüber zu Louise, die alles in stummem Entsetzen mit angesehen hatte.
Anklagend zeigte er auf die Gestalt, die verdreht am Boden des anderen Käfigs lag, und rief: »Sie hat mich dazu getrieben, Sam! Das macht sie dauernd. Das Flittchen weiß, wie es mich überlisten kann. Sie ist eine von denen. Deshalb wurde mir klar, dass sie nicht du ist. Hast du gesehen, wozu sie mich antreibt? Du würdest mich nie zu so etwas drängen.«
Laut schlug er die Käfigtür zu und ließ das Schloss mit zittrigen Händen einschnappen. Dann lehnte er am Gitter, krallte die Finger in die Rechtecke aus Metall und kämpfte gegen die Tränen an, die ihm in den geröteten Augen brannten. Selbstverachtung und Hass vertrieben die Ekstase, die er eben noch empfunden hatte. Er kniff die Augen zusammen, als die Scham unbändiger Wut wich, die so plötzlich und wild durch seinen Körper wütete, als würde ein ausgedörrter Wald einer gefräßigen Feuersbrunst zum Opfer fallen. Langsam richtete er sich auf, verspannt, verschwitzt und keuchend, als er seinem aufgestauten Zorn Luft machte. »Ich hasse dich!«, schrie er in das unterirdische Gewölbe.
Dann machte er kehrt, rannte schluchzend die Stufen hinauf und hinein ins gleißende Tageslicht. Oben angekommen, verfluchte er sich, erneut die Kontrolle über sich verloren zu haben. Er hasste sich für seine Schwäche. Erfüllt von einem Gefühl der Demütigung, stolperte er über den Hof, stieß gegen einige der Ölfässer und geriet ins Straucheln, als er mit dem Fuß an einem Autoreifen hängenblieb.
Endlich erreichte er die halb verfallene Hütte und stürmte durch die Tür ins Innere. Verzweifelt fasste er sich an die Brust. Er konnte gar nicht schnell genug Luft holen, so sehr war er außer Atem. Sein Herz raste, sein Kopf pochte wild.
Erst nach und nach beruhigte er sich, sank kraftlos zu Boden und blieb regungslos liegen. Er wartete und schaute zur Decke seiner schmuddeligen Küche, während Bilder aus seiner Kindheit über ihn hereinbrachen. Doch diese Bilder wurden von Eindrücken voller Qualen verdrängt. Er machte keine Anstalten, diese neuen Bilder zu vertreiben. Stattdessen hieß er sie willkommen wie einen angenehmen Traum. Allmählich wirkten die hässlichen Bilder beruhigend auf ihn und verlangsamten die wilden Strudel, die seinen Körper und Geist erfasst hatten. Endlich spürte er, dass er die Kontrolle wiedererlangt hatte.
Als ihm bewusst wurde, dass er auf dem Fußboden lag, sprang er auf und schaute sich verwirrt und argwöhnisch in der alten Küche um. Wie, um alles in der Welt, war er hierhergekommen? Die Erinnerungen an das, was in dem unterirdischen Gewölbe geschehen war, fluteten wieder in sein Bewusstsein. Aber mit diesen Bildern kehrte auch der Zorn zurück, den er inzwischen unter Kontrolle hatte. Ja, es könnte ihm gelingen, seine Schwäche in Stärke zu verwandeln. Doch um das erreichen zu können, würde er ihr eine Lektion erteilen müssen. Er musste dieser Hure zeigen, was sie war.
Keller verließ die Hütte, ging zu dem Schuppen in unmittelbarer Nähe und riss die Tür auf. Ungeachtet des Chaos, das ihn dort drinnen erwartete, nahm er wahllos Dinge aus den Regalen, obwohl er alles gar nicht auf einmal tragen konnte. Die Dinge, die herunterfielen, trat er einfach beiseite, bis er endlich fand, wonach er gesucht hatte: eine Tüte Streu und ein Katzenklo. Er hatte beides Wochen zuvor gekauft, als er versucht hatte, eine der Wildkatzen zu domestizieren, die auf seinem Grund und Boden streunten. Er überlegte einen Moment, denn die Erinnerung an das undankbare Katzenvieh stellte sich ein. Das Biest hatte bekommen, was es verdiente, aber er hatte den Kadaver zumindest angemessen bestattet, auf einer der wenigen grünen Stellen auf dem ansonsten kahlen Land. Drüben, unter der einsam stehenden Weide, die der Rückseite der Hütte Schatten verlieh.
Energisch schüttelte er die Erinnerung ab und betrachtete die Dinge, die er in Händen hielt.
Zufrieden dachte er daran, dass die Hure mit den Dingen klarkommen musste, die er ihr vorsetzte. Dann machte er sich daran, Streu in das Katzenklo zu füllen, und ging zurück zu der Treppe, die hinunter ins Gewölbe führte. Diesmal achtete er besser auf die Hindernisse, die den direkten Zugang zur Kellertür unmöglich machten.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, stürmte er die Stufen hinunter und ließ alle Vorsicht fallen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, als er die beiden Frauen in den hintersten Ecken der Käfige kauern sah. Ein Gefühl von Macht erfasste ihn. Sein Blick fiel auf die Tasche, die er zuvor hatte fallen lassen. Die Kleidung kam ihm in den Sinn. Aber egal. Zuerst musste er die Hure abfertigen.
Entschlossen ließ er das Schloss an Karen Greens Käfig aufschnappen und riss die Tür auf. Diesmal brauchte er den Elektroschocker nicht griffbereit zu haben; sie würde es sowieso nicht wagen, sich ihm zu nähern. Die Todesangst in ihrem Blick verriet ihm, dass sie wusste: an Flucht war nicht zu denken. Achtlos warf er das Katzenklo auf den Boden des Käfigs. »Wenn du musst, Hure«, rief er, »dann machst du da rein, kapiert? Du pisst da rein und scheißt da rein!« Er sah, wie sie beide Arme um den Körper schlang und rhythmisch vor und zurück schaukelte. Wieder zeigte er auf das Klo. »Da rein, hast du verstanden, Hure?«
Da er ohnehin mit keiner Antwort rechnete, schlug er die Tür zum Käfig zu und brachte das Schloss an. Dann ging er zu der Tasche, hob sie auf und lächelte, als er saubere, gebügelte Sachen daraus hervorholte: eine himmelblaue Bluse, einen grauen, knielangen Bleistiftrock, einen cremefarbenen Sweater mit V-Ausschnitt und weiße Unterwäsche. Als Nächstes holte er zwei Gefäße aus der Tasche: Elemis Bodylotion und Black Orchid Eau de Parfum von Tom Ford.
»Das ist für dich, Sam«, sagte er zu Louise. »Deine eigene Kleidung. Nicht die Sachen, die du anziehen musstest, weil die anderen dich dazu gezwungen hatten. Das sind jetzt deine Kleidungsstücke. Benutze die Lotion, ehe du dich anziehst. Verstehst du?« Louise deutete mit einem Nicken an, dass sie verstanden hatte. »Später dann das Parfum«, fügte er hinzu. »Verstanden?« Wieder ein Nicken. Er ging zu der Seite ihres Käfigs und öffnete die Luke gerade so weit, dass die Sachen durch die Öffnung passten. Vorsichtshalber hatte er alles zusammengerollt. »Hier, nimm«, forderte er sie auf, worauf Louise zögerlich die Hand ausstreckte und die Kleidung entgegennahm. Doch sofort kroch sie in den hintersten Winkel ihres Käfigs zurück.
»Ich muss jetzt zur Arbeit«, sagte er beiläufig. »Aber ich verspreche, dass ich nach dir schaue, sobald ich wieder zu Hause bin. Und mach dir wegen der da keine Sorgen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung des anderen Käfigs. »Die Nutte kann uns nichts mehr tun. Niemand kann das jetzt noch. Niemand kann uns auseinanderbringen, Sam. Hier werden sie uns nie finden. Niemals werden sie dich mir wegnehmen. Ich schwöre es bei meinem Leben, Sam, dazu werde ich es nicht kommen lassen.«
*
Am späten Donnerstagmorgen wartete Corrigan im gemütlichen Büro von Harry Montieth, dem Chef von Graphics Solutions, der kleinen Agentur in der Dartmouth Road in Forest Hill. Hier hätte Louise zur Arbeit erscheinen müssen.
Corrigan hörte, dass Montieth an seine eigene Bürotür klopfte, ehe er zwei Frauen Ende zwanzig hereinbat. Beide sahen erschrocken, ja verängstigt aus. Die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen erkennen, dass sie schlaflose Nächte hinter sich hatten, nachdem man sie darüber informiert hatte, dass ihre Kollegin verschwunden war. Corrigan waren die beiden Frauen auf Anhieb sympathisch. Vielleicht lag es an ihrem Mitgefühl und der Bereitschaft, Louises Leid zu teilen.
»Das ist Tina«, sagte Montieth und schien zu überlegen, wie er seine Angestellten am besten einem Cop vorstellen könnte. »Tina Nuffield. Und das hier ist Gabby … Gabby Scott.«
Corrigan nickte den Frauen zu. Gleichzeitig suchte er in Montieth’ Miene nach Anzeichen für Schuld oder Scham. Dann musterte er Tina und Gabby und versuchte, ihre Mienen zu deuten. Gab es Anzeichen von Abscheu gegenüber dem Chef? Nachdem Corrigan zu dem Schluss gekommen war, dass offenbar nichts Unziemliches zwischen Montieth und dessen weiblichen Angestellten vorging, begann er mit seinen Fragen. »Mr. Montieth hat mir erzählt, dass Sie zu Louises Freundinnen gehören.«
»Ja, wir sind befreundet«, ergriff Gabby das Wort und strich sich das kurze Haar hinters Ohr. Tina schwieg, kaute auf der Unterlippe und hatte offenbar vergessen, dass bereits eine Kruste die Lippe verunstaltete.
»Wie gut waren Sie mit ihr befreundet?«, hakte Corrigan nach.
»Wir kennen uns, seitdem Louise hier angefangen hat. Muss jetzt fast fünf Jahre her sein.«
»Wie ist es mit Ihnen, Tina?«, fragte Corrigan.
»Ich kenne Louise seit ungefähr drei Jahren«, antwortete sie leise. »Vor drei Jahren habe ich nämlich hier angefangen. Louise hat sich von Anfang an um mich gekümmert, Gabby natürlich auch«, fügte sie schnell hinzu, um ihre Kollegin nicht vor den Kopf zu stoßen.
Doch Corrigan war längst zu dem Schluss gekommen, dass hier nichts zu holen war. Trotzdem ging er zu den Standardfragen über, konzentrierte sich aber kaum noch auf die Antworten.
»Manchmal passieren Dinge im Job, die nicht nach außen dringen«, deutete er vorsichtig an. »Dinge, die man nicht mit nach Hause nimmt. Sie verstehen?« Alle im Büro nickten.
»Nicht bei Louise«, sagte Gabby und klang überzeugend. »Wäre so was passiert, hätten wir’s gewusst, und ich würde es Ihnen sagen. Ich würde nicht riskieren, Ihnen was vorzulügen.«
»Sie sind Louises beste Freundinnen, deshalb kann ich wohl davon ausgehen, dass Sie Bescheid wüssten«, sagte Corrigan, um die Frauen weiter zu ermuntern.
»Ja, genau«, bestätigte Gabby. »Da war nichts. Wenn Louise mal ohne John ausging, war sie mit uns zusammen. Wir hätten es gewusst. Sie liebt John. Sie hat immer nur von ihm gesprochen und gesagt, sie hätten vor, eine Familie zu gründen.«
»Und was ist mit einem stillen Bewunderer?«, lautete Corrigans letzte Frage auf der Liste. »Könnte es sein, dass jemand nach Feierabend draußen auf sie gewartet hat? Jemand, der ihr Blumen schickte oder Kartengrüße hinterlassen hat?«
Die beiden Frauen sahen einander an und tauschten kurz Blicke mit ihrem Chef. Schließlich war es wieder Gabby, die antwortete.
»Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls hat Louise nie ein Wort über so was verloren.«
»Und bei Louise zu Hause? Gab es da vielleicht in letzter Zeit Unregelmäßigkeiten? Belästigungen? Stalker?«
»Nein«, erwiderte Gabby. »Nichts dergleichen. Wenn es da Probleme gegeben hätte, wäre Louise zur Polizei gegangen.«
Sie wurden unterbrochen, da Corrigans Handy klingelte, das er auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er warf einen Blick aufs Display. Es war Donnellys Nummer.
»Entschuldigen Sie kurz«, sagte er, griff nach dem Handy und wandte sich halb von den Frauen ab. »Um was geht’s, Dave?«
»Wir haben das Auto gefunden, Chef«, sagte Donnelly.
»Wo?«
»An einem Ort namens Scrogginhall Wood, beim Norman Park, Bromley.«
»Bromley!«, rief Corrigan. »Das ist doch nur wenige Meilen von ihrem Zuhause entfernt.«
»Hatten Sie mit einem weit entfernten Ort gerechnet?«, fragte Donnelly.
Erst jetzt merkte Corrigan, dass er laut gedacht hatte. »Nein«, sagte er verhalten, »nicht unbedingt.« Er hatte längst den Verdacht, dass Louises Entführer aus der Gegend stammte. Er war mit ziemlicher Sicherheit kein Fernfahrer oder Vertreter auf dem Weg in den Süden. Der Mann kam vielmehr aus einem der Bezirke in diesem halb vergessenen Teil Londons. »Und in welchem Zustand ist der Wagen?«
»Abgeschlossen und nicht weiter auffällig. Keine Anzeichen von Schäden oder einem Kampf. Verkehrspolizisten haben das Auto zufällig auf dem Parkplatz entdeckt. Sie waren routinemäßig unterwegs, auf der Suche nach Randalierern, die dauernd die Autos in der Gegend demolieren.«
»Sind Sie schon bei dem Wagen?«, wollte Corrigan wissen.
»Nein. Bin auf dem Weg dorthin und müsste in einer Viertelstunde da sein.«
»Bestens. Ich komme, so schnell ich kann. Bin gerade in Forest Hill, dauert also einen Moment«, erklärte Corrigan. »Sorgen Sie dafür, dass die Verkehrspolizisten das Auto nicht anrühren und alles der Spurensicherung überlassen. Auch den Parkplatz. Ich lasse jemanden kommen, der den Wagen aufmacht. Nicht, dass einer der Streifenbeamten auf die Idee kommt, eine Scheibe einzuschlagen.«
»Alles klar, Chef«, versicherte Donnelly ihm.
Corrigan beendete das Gespräch und wandte sich den drei Zuhörern zu.
»Haben Sie irgendetwas erfahren können?«, fragte Montieth, die Lippen blass vor Furcht.
»Wir haben Louises Auto gefunden«, berichtete Corrigan, denn er wusste keinen Grund, weshalb er diesen Umstand verschweigen sollte.
Montieth’ Augen weiteten sich, während Gabby in Tränen ausbrach und Tina sich beide Hände vor den Mund schlug, als wollte sie einen Aufschrei unterdrücken.
»Wir haben vorerst nur das Auto«, versuchte Corrigan die drei zu beruhigen. »Keine Anzeichen von Gewalt, nichts, was darauf hindeutet, dass Louise etwas Schlimmes passiert ist.« Mit diesen Worten erhob er sich und packte seine Sachen zusammen. »Ich muss so schnell wie möglich zu ihrem Wagen, deshalb muss ich unser Gespräch beenden. Danke für Ihre Hilfe. Ich verspreche Ihnen, mich zu melden, sobald wir mehr wissen.« Corrigan hatte monatelang ohne Sally auskommen müssen, die es stets verstanden hatte, seine ein wenig schroffe Art zu überspielen. Seitdem hatte er sich vorgenommen, bei Gesprächen wie diesem höflicher und verständnisvoller aufzutreten.
»Sicher«, antwortete Montieth. »Sie müssen Ihre Pflicht tun.«
Als Corrigan zur Tür ging, hielt Gabby ihn auf, berührte ihn am Arm und suchte seinen Blick. »Wenn ihr jemand wehgetan hat«, sagte sie eindringlich, »und Sie diesen Kerl finden, dann tun Sie das Richtige. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, ich verstehe«, versicherte er ihr und widerstand dem Verlangen, ihr einen Vortrag über Recht und Gesetz zu halten. Er wusste nur zu gut, dass Gabby etwas anderes hören wollte. Sie ließ seinen Arm nicht los und unterbrach den Blickkontakt nicht. »Ja, ich verstehe«, wiederholte er, und sein Blick fiel auf die Finger, die sich um seinen Unterarm gelegt hatten. Langsam lockerte Gabby den Griff. »Ich melde mich wieder«, sagte Corrigan zum Abschied.
Kaum war die Bürotür hinter ihm ins Schloss gefallen, beschleunigte er seine Schritte. Er wollte so schnell wie möglich zu Louises Wagen, bevor noch mehr Fährten unwiederbringlich verwischt wurden und die letzten flüchtigen Spuren des Mannes, den er jagte, von der Frühlingsbrise verweht wurden.