9.

Das Universum des Sean Corrigan war auf einen Büroraum geschrumpft. Dort saß er ganz allein vor einem alten Monitor und las sich durch dreiundvierzig Berichte von Leuten, die zur Anzeige gegeben hatten, von einem Stalker belästigt worden zu sein. In diesem Moment existierte nichts anderes für Corrigan. Er hatte alles ausgeblendet: Familie, Freunde, die Vergangenheit, die Zukunft. Was zählte, waren die Berichte. Die meisten hatte er überflogen und gleich wieder weggeklickt. Geschiedene Männer oder Exfreunde hatten versucht, ihren ehemaligen Partnerinnen das Leben zur Hölle zu machen. Einige galten als Kleinkriminelle, entsprachen aber nicht seinen Erwartungen – ihm sprang nicht plötzlich der Täter entgegen, der haargenau zum aktuellen Fall gepasst hätte. Aber das hätte Corrigan sich denken können. Die Rätsel, vor denen er stand, lösten sich nicht einfach in Wohlgefallen auf.

Gelegentlich wurde er bei einem der Berichte hellhörig: Männer hatten Frauen anfangs Komplimente gemacht, waren dann mit Blumensträußen an der Haustür erschienen oder hatten schwülstige Liebesbriefe geschrieben. Die Frauen beklagten sich darüber, dass die hartnäckigen Verehrer unvermittelt bei ihnen zu Hause, sogar am Arbeitsplatz auftauchten. Später schlug die anfängliche Verehrung in Drohungen um. Sobald diese Männer spürten, dass die Frauen sie abblitzen ließen, bettelten sie noch eine Zeit lang um Liebe und Anerkennung, ehe die Enttäuschung in Wut umschlug. Corrigan entnahm den Berichten, dass die meisten dieser liebestollen Kerle erst dann Ruhe gaben, als die Polizei bei ihnen vor der Haustür stand. Ein paar von ihnen hatten sich neue Opfer gesucht, Opfer, die jedoch nicht im Entferntesten Karen Green oder Louise Russell ähnelten.

Corrigan hatte nur noch wenige Berichte vor sich, machte sich aber bewusst, dass es keinen Zweck hatte, auf dieser Schiene weiterzufahren. Der Mann, den sie suchten, tauchte nicht in diesen Berichten auf. »Ach, verdammt«, schimpfte er leise. Er war sich so sicher gewesen, dass Karen Greens Killer der Frau nachgestellt hatte, für die er nun wieder einen Ersatz suchte. Aber die Berichte ergaben nichts Brauchbares.

Gedankenversunken starrte Corrigan auf den Bildschirm und wartete auf Antworten und Inspiration. Es war denkbar, dass der Mörder erst vor Kurzem nach South London gekommen war, aber Corrigan hatte seine Zweifel. Für ihn stand fest, dass der Killer hier aus der Gegend stammte und seinen eigenen, privaten Rückzugsort brauchte.

Hatte er etwas Wichtiges übersehen?

»Ach, verdammt«, fluchte er noch einmal, rieb sich die Schläfen, trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte und wartete auf den Augenblick der Erleuchtung. Er war tatsächlich davon überzeugt, dass die Antworten auf seine Fragen in ihm schlummerten. Er brauchte sie nur ans Licht zu bringen. Schließlich sank er tiefer in seinen Stuhl, ließ die Arme seitlich an den Lehnen herabhängen und sprach mit sich selbst. Immer wieder überlegte er, wo er falsche Schlüsse gezogen haben könnte. »Vielleicht hat die Frau nie Anzeige erstattet. Vielleicht wusste sie nicht mal, dass er überhaupt existiert. Sie konnte nicht ahnen, dass er sie beobachtete und nur an sie dachte …«

Als das Telefon klingelte, kehrte Corrigan aus einer fernen Welt zurück in die Realität. Müde nahm er den Hörer ab. »Detective Inspector Corrigan.«

»Hallo, hier ist Rebecca Owen, ich rufe aus dem Labor an.«

»Ja, was gibt’s?«

»Sie haben bei uns Proben von Bodylotion und Parfum abgegeben. Einige stammten aus einem Haus, die anderen von einer Leiche, stimmt’s?«

»Ja. Schießen Sie los.«

»Die Proben von der Leiche stimmen nicht mit den Kosmetika überein, die aus dem Haus stammen. Sie sind nicht identisch.«

Also war Karen Green nicht die Frau, für die der Mörder einen Ersatz gesucht hatte. Karen selbst hatte bereits als Ersatz für jemand anders herhalten müssen.

»Was ist mit den Kosmetika am Körper der Toten? Konnten Sie da schon irgendwelche Rückschlüsse ziehen?«, wollte er wissen.

»Ja. Diese Kosmetika sind exotischer und viel teurer als die Pflegeprodukte aus dem Haus, allerdings nicht einzigartig oder unerschwinglich. Es wird schwer sein, herauszufinden, aus welcher Boutique diese Kosmetika stammen.«

»Verstehe. Können Sie mir sagen, um welche Marken es sich handelt?«

»Natürlich. Die Feuchtigkeitscreme ist Elemis Body Cream, und bei dem Parfum haben wir Black Orchid von Tom Ford ermittelt.«

»Wissen Sie, wie lange diese Marken schon auf dem Markt sind?«

»Die Creme gibt es schon seit einigen Jahren, aber das Parfum ist noch nicht lange im Handel erhältlich.«

Corrigan schaute wieder auf den Monitor. Der letzte Polizeibericht über Stalker flimmerte auf dem Bildschirm. Die Suche hatte er auf maximal drei Jahre eingegrenzt, und das Parfum war noch nicht lange auf dem Markt. Die Zeitspanne war also richtig.

»Kann es sein, dass das Parfum nicht älter als zwei Jahre ist?«, fragte er nach.

»Da bin ich ziemlich sicher«, erhielt er als Antwort. »Der Abschlussbericht ist zu Ihnen unterwegs.«

»Gut. Danke.« Corrigan legte auf. In Gedanken verarbeitete er bereits die Informationen aus dem Labor, und die Markennamen der Produkte brannten sich in sein Gedächtnis. Langsam schloss er die Augen und stellte sich wieder auf jenen Mann ein, dessen Gesicht noch keine deutlichen Konturen angenommen hatte. Er sah, wie dieser Mann zu der Frau ging, die er entführt hatte, und in ihrer unmittelbaren Nähe das teure Parfum mit dem Zerstäuber in der Luft verteilte. Der feine Sprühnebel legte sich auf die weiche, straffe Haut am Hals der Frau. Der gesichtslose Mann nahm die Verschlusskappe von der Bodylotion ab, tauchte einen Finger in die kühle Elemis Creme und verteilte sie auf der warmen, leicht gebräunten Haut seines Opfers, zunächst zärtlich, dann fester. Langsam zog die Creme ein, doch er massierte die Lotion mit kreisenden Bewegungen in die Haut ein.

Corrigan spürte, dass ihn diese Vorstellung erregte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt mit seiner Frau geschlafen hatte, aber es wollte ihm partout nicht einfallen. Verärgert riss er die Augen auf, weil er seine eigenen körperlichen Bedürfnisse über die Ermittlungen gestellt hatte. Die Konzentration war dahin. Als die Erregung allmählich nachließ, schloss er wieder die Augen und wartete darauf, dass die Bilder sich in seiner Vorstellung neu entfalteten. Es dauerte nicht lange. Die Frau mit dem kurzen braunen Haar lag auf dem Rücken und ergab sich in ihr Schicksal, während der Mann die Elemis Creme auf ihrem Körper verteilte.

Wieder riss Corrigan die Augen auf und sprach mit sich selbst. »Nein, da stimmt was nicht.« Er atmete bewusst langsamer, machte sich auf einen neuen Versuch gefasst, schloss die Augen. Das Bild des gesichtslosen Fremden kehrte zurück, aber diesmal rührte er die Frau nicht an. Er verteilte die Bodylotion nicht selbst auf dem Körper seines Opfers; genauso wenig sprühte er das teure Parfum unmittelbar auf den Hals der Frau. Diesmal ließ er die Kosmetika stehen und wartete, dass die Frau sie selbst benutzte.

»Ja …«, flüsterte Corrigan. »So hast du’s gemacht.«

Als jemand an die Bürotür klopfte, schrak er heftig zusammen.

»Ich störe hoffentlich nicht?«, fragte Anna.

»Doch, aber das kümmert hier sowieso keinen.«

»Soll ich wieder gehen?«

»Nur wenn Sie wollen.«

Anna wertete es als Einladung und betrat Corrigans Büro. »Woran arbeiten Sie gerade?«, fragte sie und nahm Platz.

»Ich versuche, in den Kopf dieses Mannes zu kommen.«

»Stimmt, ich habe von Ihren Methoden gehört.«

»Ach ja? Hat da jemand aus dem Nähkästchen geplaudert?«

»Gelingt es Ihnen auf diese Weise, die Täter zu schnappen?«, wich Anna seiner Frage aus. »Indem Sie so denken wie sie?«

Corrigan zuckte die Schultern. Argwohn regte sich in ihm. »Vermutlich. Ich kann es nicht genau erklären.«

»Aber wie machen Sie das? Wie lassen Sie Ihre Vorstellungskraft spielen, damit Sie sehen, was die Täter wahrnehmen?«

»Wer sagt, dass ich es so mache?«

»Keiner«, log Anna. »Das ist mir selbst aufgefallen, denn ich stelle eigene Beobachtungen an.«

»Kommen Sie mir aber jetzt nicht damit, dass ich etwas Übersinnliches an mir habe, nur weil ich meine eigene Methode verfolge und Dinge wahrnehme, die andere vielleicht übersehen. Keine Psychogerede bitte.«

»Nein, keine Sorge.« Sie lachte auf. »Ich habe schon viele seltsame Dinge gesehen und einige interessante Menschen mit ungewöhnlichen Gaben interviewt, aber mir ist noch nichts untergekommen, das im Bereich des Übersinnlichen war. Ich bin schon Leuten begegnet, die ähnlich veranlagt sind wie Sie. Auch diese Menschen machen sich ihre Vorstellungskraft für ihre Belange zunutze, ganz so, als liefe in ihrem Kopf ein Film ab. Obwohl sie gar nicht Zeuge des Geschehens waren, haben sie den Ablauf einer Szene deutlich vor Augen. Diese Gabe findet man häufig bei talentierten Regisseuren oder Autoren.«

»Lassen Sie sich eins gesagt sein, Anna. Über meine Vorstellungskraft ist schon eine Menge Mist erzählt worden. Das meiste davon stimmt sowieso nicht.«

»Wer hat Sie denn schon alles zu Ihrer Vorstellungskraft befragt?«, hakte sie nach.

Corrigan ging nicht auf diese Frage ein, merkte sie sich aber. »Warum sind Sie zu mir gekommen?«, wollte er wissen.

»Um zu helfen.«

»Und wobei, glauben Sie, können Sie mir helfen?«

»Mich würde zum Beispiel interessieren, womit Sie sich gerade beschäftigen.«

Er musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte sich, ob er sie in seine Gedankenwelt lassen sollte. Die Aussicht, dieser Frau zu demonstrieren, dass er recht hatte und sie falsch lag, hatte etwas Verführerisches. »Also gut, vorhin hat das Labor angerufen. Die Kosmetikspuren auf der Haut von Karen Green stimmen nicht mit den Pflegeprodukten überein, die wir in ihrem Haus gefunden haben.«

»Was bedeutet, dass er die Kosmetika benutzt, um die Frau zu jener Person zu machen, die er in ihr sehen will«, kam Anna seiner Schlussfolgerung zuvor.

»Genau. So weit, so gut. Die Sache ist nur die: Er hat die Frau nicht selbst mit der Bodylotion eingecremt, auch wenn das sein sehnlichster Wunsch war. Die Frage lautet also, warum tut er das nicht? Warum versagt er sich selbst diesen genussvollen Augenblick?«

Anna zuckte die Schultern.

»Weil er Angst vor den Frauen hat«, kombinierte Corrigan. »Hätte er die Lotion selbst auftragen wollen, hätte er der Frau ganz nah sein müssen. Das aber bedeutet für ihn, dass er sich in Gefahr begibt, denn die Frauen könnten sich wehren. Sie könnten versuchen, ihm die Augen auszukratzen oder ihm in die Eier zu treten, selbst wenn er ihnen die Hände auf den Rücken fesselt. Vergessen wir nicht, dass er Chloroform benutzt hat, um die Frauen zu überwältigen. Er kann sich nicht auf seine Körperkraft verlassen. Aber warum benutzt er das Chloroform nicht, wenn er ihnen nah sein will? Er könnte die Frauen doch betäuben und sich Zeit lassen, wenn er die Lotion einmassiert oder beobachtet, wie die feinen Tröpfchen des Parfums ihre Haut zum Schimmern bringen. Warum hat er das Chloroform nicht mehr benutzt?«

Anna schüttelte den Kopf. »Sie tun so, als wären das Fakten, dabei sind es nur Vermutungen. Vielleicht hat er ja doch Chloroform benutzt. Oder die Frauen waren irgendwo angebunden.«

»Nein. Sie verstehen das nicht. Die Frage ist, warum benutzte er nicht einfach Chloroform?«

»Warum ist es für Sie so wichtig, dass Sie verstehen, warum er etwas nicht getan hat?«

»Weil ich begreifen will, wie er tickt. Ich will alles über ihn wissen. Es reicht mir nicht zu wissen, was er tut, ich muss das Motiv kennen.«

»Also gut. Warum hat er das Chloroform nicht benutzt?«

Corrigan presste die Knöchel gegen die Schläfen. »Ich weiß es nicht …« Er wusste, dass er erst nachgeben würde, wenn er eine Antwort auf diese Frage hätte. Plötzlich hielt er inne, starrte in eine unbestimmte Ferne – die Antwort traf ihn so unvermutet, dass es ihm zunächst die Sprache verschlug. Und sie war so einfach, dass er nicht verstand, warum er nicht eher darauf gekommen war.

»Er konnte das Chloroform nicht anwenden, weil das alles ruiniert hätte. Wenn er es benutzt hätte, hätte er den Duft der Lotion und des Parfums nicht wahrnehmen können. Das Betäubungsmittel hätte sämtliche Wohlgerüche überlagert. Und das konnte er nicht ertragen. Es reicht ihm nicht, dass die Frauen so aussehen wie die eine Frau, sie müssen auch so duften wie sie, so schmecken wie sie. Mein Gott, es muss himmlisch für ihn gewesen sein, dabei zuzusehen, wie sie die Lotion auf ihrer Haut verteilt hat. Der Duft ihrer Haut hat sich mit dem des Parfums vermischt … und die ganze Zeit steht er da, schaut zu und nimmt diesen Duft in sich auf.« Er stockte, fuhr dann leise fort: »Aber wie macht er das, wenn er Angst hat, den Frauen zu nah zu kommen? Sonst hat er sich immer auf das Betäubungsmittel verlassen …«

Anna beobachtete ihn aufmerksam und hielt sich mit Kommentaren zurück, da sie ihn nicht in seinem tranceähnlichen Zustand stören wollte. Seine Arbeitsweise faszinierte sie, obwohl sie nicht in der Lage war, ihm in die Sphäre zu folgen, die er in seinen Gedanken betreten hatte. Anna widerstand der Versuchung, sich auf die Schnelle Notizen zu machen. Stattdessen versuchte sie, sich alles einzuprägen.

»Von wo aus hat er sie dann beobachtet? Denn er musste zuschauen, das steht fest. Wie kam er nah genug an die Frauen heran, um den Duft des Parfums wahrzunehmen?« Die Fragen schienen Corrigan einen Moment lang zu verwirren. »Er kann die Frauen nicht einfach in ein Verlies sperren. Denn wenn er zu ihnen geht, wenn er ihnen nahe kommt, läuft er Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Aber unser Täter muss immer alles unter Kontrolle haben, was wiederum bedeutet, dass er die Frauen irgendwo ankettet oder fesselt. Aber wie konnte sich Karen Green dann mit der Bodylotion eincremen? Wenn er die Frauen entführt, verehrt er sie, vergöttert sie. Da passt es nicht, dass er sie in Ketten legt. Aber wie macht er es dann, verdammt? Wie kommt er ihnen so nah, dass er ihren Duft wahrnehmen und spüren kann, dass er begehrt wird und akzeptiert ist? Hat dieser Kellerraum ein Fenster, an dem er steht und in sicherer Entfernung alles beobachtet? Steht er auf der Türschwelle? Nein. Das würde ihm nicht reichen. Denn er gibt sich nicht damit zufrieden, was er sieht. Er will nicht nur zuschauen, er will es auskosten, ganz und gar. Er muss sie riechen, anfassen … Spricht er auch mit ihnen? Natürlich. Aber wie schafft er das alles, ohne in Bedrängnis zu geraten?«

Er presste die Handflächen aneinander und führte die Finger zum Mund, als wollte er sich in ein Gebet vertiefen.

»Das kann doch nur heißen«, fuhr er fort, »dass er eine Art Barriere braucht, hinter der er sich sicher fühlt. Aber es kann keine Wand sein, die ihn von den Frauen trennt. Wenn es also kein Fenster und keine Wand ist, was bleibt dann noch übrig?«

Langsam ließ er die Hände sinken und erinnerte sich plötzlich an einen alten Fall. Damals hatte man einen Immobilienmakler aus Birmingham entführt und in einer Garage in einen hölzernen Käfig gesperrt. Ein Gefängnis in einem Gefängnis …

»Ein Käfig! Er hält sie in einem Käfig, der verdammte Scheißkerl! Er hat einen Käfig in einem unterirdischen Gewölbe stehen, vielleicht in einem Bunker. Wann immer er dieses Hochgefühl erleben will, marschiert er in dieses Verlies und streicht um den Käfig herum im Gefühl völliger Sicherheit. Er beobachtet seine Gefangenen, nimmt ihren Duft wahr und träumt von dem Augenblick, wenn er mit ihnen zusammen ist. Aber dann entgleiten ihm seine Illusionen. Seine Fantasiewelt bekommt Risse und bricht schließlich in sich zusammen. Und er verspürt das Verlangen, die Frauen zu bestrafen … sie zu vergewaltigen. Aber dazu muss er in den Käfig. Chloroform kann er nicht auf die Schnelle anwenden, weil er dann ganz nah an die Frauen heran müsste. Wie macht er es also?«

In Gedanken war er wieder bei der Obduktion der Leiche und sah die Male auf Karen Greens geschundenem Leib. Unzählige kleine Schürfwunden und Prellungen – zu viele, um sie alle zu zählen. Und dann waren da noch jene seltsamen, kreisrunden Wundmale, die entfernt an Brandwunden von glühenden Zigaretten erinnerten. Angespannt kaute Corrigan auf der Unterlippe, während Anna ihn weiterhin fasziniert beobachtete. Sie ahnte, dass er ihre Anwesenheit völlig vergessen hatte, denn er schien in ein Selbstgespräch vertieft zu sein. Nach und nach öffnete er eine verschlossene Tür nach der anderen, und jede Antwort warf neue Fragen auf. Doch dank seiner Gabe, die Vorstellungskraft mit logischem Denken zu verknüpfen, fand er sich in dem Labyrinth aus Fragen zurecht.

Corrigan trommelte mit dem Zeigefinger auf den Tisch und merkte gar nicht, dass er den Finger im Rhythmus des eigenen Herzschlags bewegte. »Er benutzt irgendwas, um die Frauen außer Gefecht zu setzen … Er hat etwas in der Hand, das es ihm ermöglicht, die Distanz zu wahren und gleichzeitig zuzuschlagen. Etwas, das diese ganz bestimmten Wundmale hinterlässt …« Während er weiter auf den Schreibtisch trommelte, ging er im Geiste alle Waffen und Gegenstände durch, mit denen man Opfer traktieren und quälen konnte. »Ich muss wissen, was diese Male verursacht hat«, murmelte er.

Anna nutzte den Moment, Corrigan aus seiner Trance zu holen. »Was für Male?«

Als Corrigan sich ihr langsam zuwandte, schien er sie für eine Gestalt aus einem seiner Träume zu halten. Offenbar fiel es ihm zunächst schwer, sie einzuordnen. Dann griff er wortlos nach dem Telefonhörer und wählte Dr. Cannings Nummer. Der Anrufbeantworter sprang an.

»Doc, ich bin’s, Sean Corrigan. Die kreisrunden Male auf Karen Greens Körper … ich muss unbedingt wissen, woher die stammen, so schnell wie möglich. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er legte auf und zuckte unter dem Ansturm der Bilder zusammen, die auf ihn eindrangen, als hätte er die Büchse der Pandora geöffnet. »Was auch immer er in dem Käfig benutzt, wir wissen, wie er die Frauen entführt hat. Sie machen ihm die Tür auf, weil sie ihn für den Postboten halten. Kaum ist die Tür geöffnet, stößt er mit dem Elektroschocker zu und lähmt seine Opfer. Dann hat er Zeit, alles Weitere vorzubereiten. Jetzt kommt das Chloroform zum Einsatz, damit die Frauen sich nicht wehren, denn er ist nicht kräftig genug, sie bis zu seinem Auto zu schleifen oder zu tragen … Du bist schwach und noch dazu ein Feigling, aber ich schwöre dir, dass ich dich finde …« Das Klingeln des Telefons ließ Corrigan in seinem aufwallenden Zorn innehalten. Er schnappte sich den Hörer in der Hoffnung, Canning am Apparat zu haben.

»Mr. Corrigan, hier Sergeant Roddis.«

»Was gibt’s?«

»Die Abdrücke aus dem Haus von Karen Green und Louise Russell stammen definitiv von ein und demselben Täter. Da wir die Fingerabdrücke von den inneren Klinken der Haustüren genommen haben, können wir davon ausgehen, dass sie zum Killer gehören. Sie stimmen auch mit den Abdrücken überein, die wir in den Autos der Opfer gefunden haben. Ich habe die Proben selbst ins Labor gebracht und war beim Abgleichen dabei. Ich fürchte, ich kann bestätigen, dass wir keine Übereinstimmungen mit den Daten der Verbrecherkartei haben. Ihr Killer hat keine Vorstrafen, jedenfalls nicht in diesem Land. Eine Kopie ist unterwegs zu Interpol, aber Sie wissen ja, das kann dauern.«

»Wie kommen Sie mit der DNA-Analyse voran?«, fragte Corrigan.

»Ich brauche noch ein paar Tage für ein vollständiges Profil, aber wenn er nicht vorbestraft ist, wird es Ihnen bei der Suche nicht helfen. Die Spuren, die wir haben, könnten ihn vor Gericht belasten, aber ohne Fingerabdrücke oder DNA-Spuren …«

»Ich weiß, ich weiß.« Corrigan seufzte. »Wenn Sie mehr wissen, melden Sie sich, ja?«

»Natürlich.«

Corrigan legte auf und analysierte die jüngsten Informationen auf seine Art. Keine Vorstrafen – selbst über diese vermeintliche Sackgasse dachte er nach, suchte nach Anhaltspunkten und neuen Aspekten. Und wieder versuchte er, bis in das Herz und den Verstand des Mannes vorzudringen, den sie jagten. Er machte sich bewusst, dass es diesen Mann nicht kümmerte, wenn Fingerabdrücke oder DNA-Spuren am Tatort zurückblieben, denn der Täter wusste, dass die Polizei ihn nicht in den Datenbanken finden würde. Oder war er einfach nur unvorsichtig? Ihm musste doch bewusst sein, dass sämtliche Spuren, die er hinterließ, ihn eines Tages vor Gericht schwer belasten würden. Warum also diese Nachlässigkeit?

Corrigan begann wieder leise mit sich selbst zu sprechen, als wäre Anna gar nicht da. »Er geht nach einem bestimmten Plan vor, und in diesem Plan ist es ihm egal, ob man ihn identifiziert oder nicht. Er ahnt, dass wir ihm früher oder später auf die Schliche kommen, aber das ist ihm gleich. Er scheint nicht zu begreifen, dass er uns in die Falle gehen könnte. Er entführt die Frauen und hält sie irgendwo eine Woche lang fest. Dann holt er sie aus dem Käfig, schafft sie weg und bringt sie um. Zuerst verehrt er sie, dann hasst er sie. Immer wieder ist er in diesem Kreislauf gefangen … Liebe verwandelt sich in Hass, Akzeptanz in Zurückweisung. Aber er wurde nicht nur von einer Person zurückgewiesen, er stieß bei allen auf Ablehnung. Hasst er alle und jeden?«

Seine Blicke huschten von rechts nach links, als er sich bewusst machte, was für einen Verdacht er soeben geäußert hatte. »Diese Frauen sind ein Schnappschuss seines Zorns und der Ablehnung, die er erlebt, auch wenn es ihm nicht bewusst ist. Wenn er spürt, dass ich ihm auf den Fersen bin, wie wird er sich dann verhalten? Geht er durch die Einkaufspassage, betritt er ein Shoppingcenter, eine Schule … was benutzt er dann? Ein Messer? Selbst gebaute Nagelbomben? Eine Schusswaffe? Deshalb ist es ihm egal, ob er Spuren am Tatort hinterlässt oder nicht! Unterbewusst hast du dich schon mental auf diesen Tag X eingestellt, du Mistkerl, ist es nicht so? Du willst verhindern, dass wir dich lebend schnappen. Lieber fährst du zur Hölle und reißt so viele Menschen wie möglich mit in den Tod.«

Als es an die Tür klopfte, wirbelte Corrigan herum, verärgert über die Störung. Featherstone trat ein, ließ sich aber nicht anmerken, ob er von Corrigans Selbstgesprächen etwas mitbekommen hatte.

»Morgen, Sean. Anna.«

»Morgen, Chef.«

»Alan«, grüßte Anna ihn vertraulich.

Corrigan horchte auf, da man Featherstones Vornamen auf dem Revier so gut wie nie hörte. Offenbar kannten die beiden sich besser, als er vermutet hatte.

»Ich werde mich noch einmal an das Fernsehpublikum wenden. Haben Sie schon neue Aspekte, die ich bei der Ansprache verwenden könnte? Oder Sie, Anna? Die Fernsehleute lieben es, wenn sie ihrem Publikum etwas Neues servieren können.«

Corrigan schaute auf den Computerbildschirm, auf dem die Suchmaske zu sehen war. Einen Moment überlegte er, ob er Featherstone von der Stalker-Theorie erzählen sollte. Im Fernsehen könnte der Superintendent all jene Personen erreichen, die während der letzten zwei oder drei Jahre belästigt worden waren, und sie auffordern, sich unbedingt zu melden. Doch letzten Endes riet ihm eine innere Stimme, sich in diesem Punkt zurückzuhalten, da die Treffer bei der Suche nicht überzeugend genug waren.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts für Ihren Fernsehauftritt anbieten«, sagte er. »Wir müssen uns bei der Suche auf Grundstücke mittlerer Größe oder abgelegene Areale konzentrieren, in einem Umkreis von zwanzig Meilen um die Wohnorte der Opfer. Es ist denkbar, dass der Täter die Frauen nicht in seinem Haus gefangen hält, sondern abseits, vielleicht auf einem alten Fabrikgelände oder einem verlassenen Gehöft. Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Bleiben Sie bei den Standardtexten, bitten Sie die Leute – insbesondere die Angehörigen, Freunde und Kollegen der Opfer – sich zu erinnern, ob ihnen irgendetwas aufgefallen ist. Hat sich kürzlich jemand im Umfeld der Opfer auffällig verhalten? War jemand für eine bestimmte Zeit unauffindbar oder ist zu spät zur Arbeit erschienen? Man weiß ja nie, vielleicht haben wir Glück.«

»Ich mach das schon«, versicherte Featherstone.

»Da wäre doch noch eine Sache …«, sagte Corrigan.

»Nur zu.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass unser Freund sich als Postbote verkleidet. Auf diese Weise öffnen sich ihm die Türen. Vielleicht ist jemandem aufgefallen, dass ein Postbote sich eigenartig verhalten hat. Es kann durchaus sein, dass plötzlich nicht der gewohnte Postbote im Viertel aufgetaucht ist und sich dort länger als gewöhnlich aufgehalten hat. Hat dieser falsche Postbote vielleicht Werbeprospekte verteilt, obwohl die Leute ausdrücklich gebeten haben, keine Werbung zu bekommen? Das könnten Sie vielleicht in Ihrer Fernsehansprache verwerten.«

Featherstone sog hörbar die Luft ein und schüttelte den Kopf wie ein Werkstattmeister, der dem alten Auto auf der Hebebühne keine Chance mehr gibt. »Tut mir leid, Sean, aber das kann ich nicht machen. Ich müsste mich erst bei der Postdirektion absichern und um Erlaubnis fragen, ehe ich solche Dinge in die Welt setze. Die Post würde vermutlich die Gewerkschaft fragen, und ich wette, dass die nicht mitspielt. Was ja auch nachvollziehbar wäre. So leid es mir tut, aber wenn wir den Leuten an den Fernsehern erzählen, dass ein Irrer verkleidet als Postbote durch die Viertel streift, liegen vielleicht schon morgen etliche Postboten in der Notaufnahme. Sie wissen doch, wie die Leute reagieren. Einigen überbesorgten Ehemännern brennen vielleicht die Sicherungen durch, und dann verprügeln sie in ihrer Hysterie die armen Briefträger, wer weiß. Der Einsatz von CS-Gas würde im Süden Londons dramatisch ansteigen, nur weil paranoide Frauen – entschuldigen Sie, Anna – jedem Mann das Zeug in die Augen blasen, der unangekündigt auf der Matte steht. Nein, Sean, die Idee mit dem Postboten können Sie vergessen, das geht gar nicht.«

»Das verstehe ich. Trotzdem glaube ich, dass es ein sehr wichtiger Punkt ist«, betonte Corrigan. »Den Leuten könnte plötzlich etwas einfallen, an das sie bislang im Zusammenhang mit den Entführungen nicht gedacht haben.«

»Sorry, Sean, aber mein Entschluss steht fest. Keine Postbotengeschichten im Abendprogramm. Sonst noch etwas? Anna?«

»Ich bin sicher, dass er hier aus der Gegend stammt oder zumindest die Viertel im Süden Londons gut kennt, weil er regelmäßig hier vorbeikommt. Deshalb empfehle ich, weitere Zeugenbefragungen vorzunehmen und die Verkehrskontrollen zu verschärfen. Im Übrigen bin ich mit Detective Inspector Corrigan einer Meinung, dass der Täter seine Opfer an einem abgeschiedenen Ort festhält. Konzentrieren wir uns daher bei der Suche auf Farmen, Industriebrachen, verfallene Gebäude und andere abgelegene Orte, die sich für Entführungen eignen würden. Vorrang sollte dabei die Suche nach unterirdischen Räumen oder Bunkern haben.«

»Nun, unmittelbar in London kommen wir sicherlich gut voran«, sagte der Superintendent, »aber sobald wir die Suche auf Bromley und in die Grafschaft Kent ausweiten, könnte er die Frauen überall und nirgends festhalten. Die Gegend heißt ja nicht umsonst die hinterste Provinz.«

»Sprechen wir offen an, auf welche Gebiete wir die Suche ausdehnen«, fuhr Anna fort. »Vielleicht kriegt er Panik und versucht, die Opfer an einen anderen Ort zu bringen. Möglicherweise macht er einen Fehler, oder jemand sieht ihn und meldet sich bei der Polizei.«

»Wenn Sie meinen, dass es einen Versuch wert ist«, sinnierte Featherstone, ehe er sich wieder an Corrigan wandte. »Was ist mit dem Verdächtigen, den Sie festgenommen haben? Da Sie mich diesbezüglich nicht weiter informiert haben, gehe ich davon aus, dass er nicht unser Mann ist, oder?«

»Er hat nichts mit der Sache zu tun, leider«, erwiderte Corrigan. »Der Mann hat keinerlei Bedeutung mehr für uns.«

»Was für ein Pech«, meinte Featherstone. »Wie dem auch sei, ich muss los. Die Fernsehleute möchten mich vor Scotland Yard filmen, direkt neben dem blöden Logo. Sagen Sie Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt.« Schon war er fort und ließ Corrigan und Anna allein. Das unangenehme Schweigen zog sich in die Länge.

»Sie haben ihm gar nicht gesagt, dass Sie Lawlor keine Sekunde lang für den Täter hielten.«

»Was macht Sie so sicher, dass ich ihn nicht zumindest anfangs für den Täter gehalten habe?«

»Ich habe Sie bei der Arbeit beobachtet, Sean. Wenn ich schon wusste, dass er nicht unser Mann ist, war Ihnen das viel eher klar. Die Frage ist also: Warum haben Sie ihn überhaupt verfolgt, wo Sie doch wussten, dass es Sie nicht weiterbringt.«

»Dass es mich nicht weiterbringt, stimmt nicht ganz. Den ein oder anderen Aspekt kann ich mir jetzt besser erklären, weil Lawlor mir Einblicke gewährt hat, die sich mir nicht so schnell erschlossen hätten.«

»Es ging doch bestimmt nicht nur um logische Schlussfolgerungen, sondern auch um …«

»Um Gefühle«, unterbrach er sie.

»Inwieweit hat er Ihnen auf der Gefühlsebene helfen können?«

»Bestimmte Dinge waren schon in mir, lagen aber so tief verborgen, dass ich keinen Zugang hatte.«

»Und die Gefühle oder Empfindungen hat er in Ihnen ausgelöst?«

»Nein«, erwiderte Corrigan. »Er hat mir nur dabei geholfen, sie freizulegen. Jetzt habe ich eine Vorstellung davon, was er empfindet, wenn er tut, was er zwanghaft tun muss.«

»Und was genau fühlt er? Und was verspüren Sie?«

»Im Augenblick merke ich, dass ich Hunger habe.« Er schaute auf die Uhr. »Holen Sie Ihren Mantel, ich spendiere uns einen Brunch. Hier in der Nähe gibt es ein akzeptables Café. Wir können zu Fuß gehen. Die frische Luft tut uns beiden gut. Aber Sie müssen mir eins versprechen …«

»Klar, was denn?«

»Hören Sie auf, mich dauernd zu analysieren«, warnte er sie. »Wenn ich Ihre Hilfe brauche, frage ich Sie. Verstanden?«

»Sorry, Berufskrankheit.«

»Schon gut. Also, schauen wir mal, was es zu essen gibt.«

*

Die Stille in der Küche wurde erdrückend. Keller hatte viel zu viel Zeit, um in Gedanken in die alten, bitteren Erinnerungen aus Kindheitstagen abzutauchen. Er sah die Gesichter der Leute, die er hasste, damals wie heute. Diese hämischen Fratzen gönnten ihm keine Sekunde lang Ruhe. Hastig kramte er in der überquellenden Küchenschublade und suchte die CD mit Rockmusik, auf der sein Lieblingssong war. Er erinnerte sich, wann er diesen Song zum ersten Mal gehört hatte. Das war Jahre her, aber der Text schien speziell für ihn geschrieben worden zu sein. Schon damals hatte Keller die Hoffnung gehabt, wenigstens einer würde ihn verstehen … und nachvollziehen, was er schließlich tun würde. Aber die Hoffnung verblasste irgendwann und starb ganz, während der Songtext weiterlebte.

Mit zittrigen Fingern nahm er die CD aus der verkratzten Hülle und legte sie in den tragbaren CD-Player, den er sich einst zu Weihnachten geschenkt hatte. Das war zu jener Zeit gewesen, als er noch geglaubt hatte, er könne eines Tages so leben wie andere Menschen.

Keller wählte den Track an, den er hören wollte, setzte sich an den Küchentisch und lehnte sich zurück. Gespannt wartete er darauf, dass die Musik ihn forttragen würde. Unmittelbar nach dem kurzen Intro setzte der Gesang ein, und Keller schloss die Augen, als die wundervollen Bilder vor seinem geistigen Auge abliefen. Ein Gefühl grenzenloser Macht beseelte ihn, setzte sich in jeder Faser seines Körpers fest, während sein Herzschlag eins wurde mit dem Beat des Songs. Der Sänger erzählte die Story von einem Jungen, der von seiner Mutter verachtet und vom Vater zurückgewiesen wird – die anderen Kinder in der Schule verspotten ihn, die Lehrer piesacken ihn. Keller war es früher nicht anders ergangen.

Er verlor sich immer mehr in dem Song und sah sich wieder in seiner alten Schule: In seiner Fantasie mähte er jeden um, der ihn jemals gedemütigt hatte. Mit grimmiger Befriedigung lebte er seine Rachegelüste aus und sah, wie die Leichen sich vor ihm auftürmten.

Er lächelte, während er den Songtext im Stillen mitsprach, bis ein Geräusch von draußen ihn aufschreckte. Das Knirschen von Autoreifen auf dem Schotterweg zu seinem Haus ließ ihn erstarren. Hastig suchte er die Stopptaste, kam aus Versehen aber an den Lautstärkeregler, sodass der Song plötzlich durchs ganze Haus dröhnte. Jetzt wusste jeder, dass er hier in der Hütte war. Doch anstatt die Musik leiser zu drehen, hielt Keller sich mit beiden Händen die Ohren zu, wie ein Kind, das einfach so tut, als könne es das Geschehen ausblenden. Erst Sekunden später riss er den Stecker aus der Steckdose. Die augenblicklich einsetzende Stille war betäubender als die Musik.

Keller lauschte. All seine Sinne waren geschärft wie bei einem Kaninchen, das den Fuchs am Eingang des Baus scharren hört. Zuerst glaubte er, er habe sich getäuscht. Doch als der Nachhall der Musik in seinem Kopf verschwand, waren wieder die Geräusche eines herannahenden Autos zu hören. Keller schlich zum Küchenfenster und spähte hinaus auf den Hof. Die Scheibe war verschmiert, aber er erkannte dennoch, dass ein Polizeiwagen auf den Hof fuhr.

»Scheiße«, rief er und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Panische Angst fuhr ihm in die Glieder und trieb ihm Tränen in die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Das war viel zu früh. Er war noch nicht so weit. Dann duckte er sich vom Fenster weg, kroch wie eine Echse über den Küchenboden und griff nach der doppelläufigen Flinte, die er im Schrank neben der Tür aufbewahrte. Er knickte den Kipplaufverschluss nach unten und atmete erleichtert auf, als er sah, dass die Waffe geladen war. Falls zwei Beamte im Wagen saßen, konnte er beide erledigen, ehe sie überhaupt das Maul aufmachten.

In geduckter Haltung schlich er zurück zum Fenster und sah, wie der Polizeiwagen keine zwanzig Fuß von der Haustür entfernt hielt. Die beiden uniformierten Beamten stiegen fast gleichzeitig aus und schauten sich auf dem Hof um, ohne sich vom Auto zu entfernen. »Scheiße, verdammte«, fluchte Keller wieder und drehte sich hastig vom Fenster weg. »Was mach ich jetzt bloß, was mach ich jetzt bloß?«, wiederholte er in seiner Angst. »Was wissen die? Vielleicht wissen sie ja nichts. Oh, scheiße, scheiße, scheiße …«

Als er merkte, wie schnell sein Atem ging, holte er tief Luft und atmete bewusst langsam ein und aus. Er brauchte einen klaren Kopf zum Nachdenken. Kurz darauf schlich er zur Haustür und lehnte die Flinte vorsichtshalber an die Wand, in unmittelbarer Reichweite der Tür. Dann atmete er noch einmal tief durch und öffnete. Die beiden Beamten schauten in seine Richtung, wirkten aber gelassen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Keller und war froh, dass er trotz seiner Aufregung nicht ins Stottern geriet.

Die Beamten sahen einander an, ehe sie antworteten. Der größere und schlankere der beiden ergriff das Wort. »Nichts Ernstes«, sagte er. »Wir haben gehört, dass hier in den Morgenstunden ein Herumtreiber gesehen wurde. Ist Ihnen vielleicht etwas aufgefallen, Sir?«

»Nein«, erwiderte Keller ein wenig zu schnell und unbedacht. Gleichzeitig versuchte er herauszufinden, ob der Polizist ihm nur etwas vormachte. Sein Argwohn wuchs, aber er war sich nicht sicher. Noch sah er keinen Grund, zur doppelläufigen Schrotflinte zu greifen.

»Sie haben also nichts gesehen oder gehört?«

»Nein, hier ist alles ruhig.«

»Ist das Ihr Hof?«, fragte ihn der Kleinere der beiden, der auf den ersten Blick ein wenig kräftiger wirkte.

»Ja.«

»Wohnt sonst noch jemand hier?«

»Nein, niemand. Ich lebe allein.« Er sah, wie der größere Mann sich erneut umschaute und die anderen Gebäude und die Unordnung auf dem Gelände registrierte. Derweil kam der andere Polizist langsam auf Keller zu. Bei jedem Schritt, den der Mann machte, verkrampfte Keller sich mehr. Schließlich verließ er das Haus und ging dem Polizisten entgegen.

»Ein ganz schön großes Grundstück«, sagte der Beamte. »Hat sicher ’ne Stange Geld gekostet.«

»Eigentlich nicht. Das Land wurde der Gemeinde wieder übereignet. Niemand wollte den Hof haben. Ich hab das alles ziemlich günstig bekommen.«

»Sie sollten es an einen Bauunternehmer verkaufen. Würde Ihnen bestimmt ein Vermögen einbringen, bei der Lage.«

»Ja, vielleicht«, antwortete Keller unbeholfen, da er sich schlecht auf Smalltalk einstellen konnte.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir Ihren Namen notiere, Sir?«

»Wieso brauchen Sie meinen Namen?« Dumpf dröhnte der Puls in seinen Ohren.

»Reine Routine. Wir müssen uns die Namen der Leute notieren, die wir wegen dieses Herumtreibers befragt haben. Für den Bericht, wissen Sie.«

Kellers Blicke huschten zwischen den beiden Polizisten hin und her. Es machte ihm Angst, seinen Namen leichtfertig preiszugeben, denn er wurde den Verdacht nicht los, dass die Männer mehr wussten, als sie zugaben. Doch er versuchte sich zu beruhigen. Wahrscheinlich hätte die Polizei einen ganzen Suchtrupp losgeschickt und nicht bloß zwei Beamte. »Meinen Namen, okay. Ich heiße Thomas Keller.«

»Haben Sie einen Ausweis, Mr. Keller?«, fragte der Polizist.

»Mein Ausweis? Warum das? Ich bin doch nicht der Herumtreiber. Das hier ist mein Land.«

»Natürlich«, pflichtete der Mann ihm bei. »Aber das ist immer so bei der Polizei. Sobald wir Erkundigungen einholen oder Zeugen befragen, brauchen wir die Ausweise der Leute. Reine Routine. Kein Grund zur Sorge.«

»Na gut«, willigte Keller ein. »Augenblick.« Er machte kehrt und ging zurück ins Haus. Sein Blick fiel auf die Waffe, die an der Wand lehnte. Das Verlangen, die Flinte zu nehmen, nach draußen zu gehen und den beiden Schnüfflern den Kopf wegzublasen, war beinahe überwältigend. Doch er rührte die Waffe nicht an, sondern durchwühlte eine andere Schublade und fand seinen Führerschein. Schnell eilte er wieder ins Freie, weil er nicht wollte, dass der Polizist seinen Kopf in die Tür steckte. Nicht auszudenken, wenn die beiden sich auf dem Hof umsehen würden, an Stellen, die niemanden etwas angingen.

Als Keller wieder ins Freie trat, schnürte ihm plötzliche Angst die Kehle ab: Der zweite Polizist, der eben noch beim Auto gestanden hatte, war nicht mehr zu sehen. Keller schaute sich hastig um und entdeckte ihn schließlich rechts in der Nähe der ehemaligen Legebatterie. Gelassen schlenderte der Mann an dem Gebäude vorbei und schaute kurz ins Innere, ehe er an den anderen, halb verfallenen Nebengebäuden vorbeischlenderte.

Keller warf einen scheuen Blick über die Schulter. Die Flinte war nur wenige Schritte entfernt, aber er konnte sie nicht sofort nehmen, anlegen und feuern. Außerdem standen die beiden Beamten inzwischen zu weit auseinander. Selbst wenn es ihm gelänge, einen zu erledigen, würde der andere ihm entwischen und über Funk Verstärkung anfordern. Und dann war es aus für ihn. Es nutzte auch nichts, dem Polizisten nachzusetzen und ihn wie einen tollen Hund abzuknallen. Die Schüsse würden ihn verraten.

»Suchen Sie noch etwas?«, rief er dem Mann zu, der über den Hof schlenderte.

»Den Herumtreiber. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich mich ein bisschen umschaue? Hier gibt es genügend Versteckmöglichkeiten.«

»Nur zu«, sagte Keller und versuchte, gelassen zu wirken. »Schauen Sie sich ruhig um. Möchten Sie was trinken?«, fragte er dann, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen, das jeden Verdacht von ihm ablenkte. »Ich könnte Tee kochen, wenn Sie mögen.«

»Nicht nötig«, sagte der andere Polizist, der den Ausweis verlangt hatte. »Gibt es hier unterirdische Gewölbe auf dem Gelände, Sir? Alte Bunker oder Kohlenkeller?«

Keller schluckte, ehe er zur Lüge griff. »Nein, so was gibt’s hier nicht.«

»Seien Sie froh«, meinte der Mann. »Diese alten Gewölbe sind gefährlich … besonders für Kinder.«

»Ja, wahrscheinlich.« Keller glaubte, Blei in den Gliedern zu haben, zwang sich dann aber, zu dem Polizisten zu gehen und ihm den Führerschein zu zeigen. »Reicht das?«

Der Beamte betrachtete den Führerschein kurz und gab ihn Keller zurück. »Alles bestens.«

Keller stand unmittelbar vor dem Polizisten und beobachtete möglichst unauffällig, wie der andere Mann den Hof überquerte und genau auf die schuppenähnliche Konstruktion zuhielt, hinter der die Treppe zum unterirdischen Gewölbe verborgen lag. Trotz seiner Panik hatte Keller eine Eingebung: Plötzlich wusste er, was er tun würde, falls der Polizist die verschlossene Metalltür erreichte und nach dem Schlüssel für das Vorhängeschloss fragte. Er würde den Beamten sagen, dass der Schlüssel in der Küche sei und dass er ihn holen werde. Dann würde er in die Küche gehen, das Gewehr nehmen und zurück auf den Hof marschieren. Zuerst würde der Polizist dran glauben, der sich den Ausweis angesehen hatte. Den anderen würde er entkommen lassen. Sollte er ruhig der Welt erzählen, was er entdeckt hatte. Es war Keller egal. Er würde die Sache mit den Frauen im unterirdischen Gewölbe zu Ende bringen. Und dann musste er sich noch um die andere Angelegenheit kümmern.

Der größere Polizist war nur noch wenige Schritte von der Metalltür entfernt. Eigentlich hätte Keller nervös sein müssen, doch er spürte, wie ihn eine eigenartige Ruhe überkam – die Ruhe eines Mannes, der sich in sein Schicksal fügte und der Enttäuschung Raum ließ. Seltsamerweise war er mit sich im Reinen und fühlte sich so gut wie seit Jahren nicht mehr. Womöglich hatte er sein Leben lang nicht diese innere Ruhe gespürt.

Plötzlich meldete sich eine Stimme aus dem Nichts und unterbrach die Stille auf dem Hof. Keller zuckte zusammen, als der friedvolle Augenblick verflog. »An alle Einheiten«, schnarrte die Stimme, »Polizist benötigt dringend Hilfe in Keston High Street. Ich wiederhole, benötigen Hilfe in Keston High Street.«

Das statische Rauschen in den Funkgeräten der Beamten verstummte. Die Männer tauschten Blicke, und der Kräftigere der beiden nickte seinem Kollegen zu. Dann sprach er in sein Funkgerät. »Kilo Kilo 22 übernimmt. Wir sind in unmittelbarer Nähe.«

»Danke, Kilo Kilo 22, wir leiten Sie.«

Der größere Polizist eilte bereits zurück zum Streifenwagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Wir müssen los«, rief er Keller zu. »Danke für Ihre Hilfe. Und Sie wissen ja, sollten Sie etwas Verdächtiges bemerken, melden Sie sich.«

»Mach ich«, log Keller und hatte das Gefühl, dass ihm vor Anspannung das Herz platzte. Er konnte es gar nicht abwarten, den Polizeiwagen vom Hof fahren zu sehen. Doch die Erleichterung, die Schnüffler los zu sein, wich der Angst, die Männer könnten ahnen, wer er in Wirklichkeit war. Wut kochte in ihm hoch. Vielleicht trieben sie nur ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm. Er rannte ins Haus, griff nach der Flinte, hastete weiter zum Küchenschrank und stopfte sich so viele Patronen in die Hosentasche, wie er auf die Schnelle auftreiben konnte. Im nächsten Augenblick hielt er quer über den Hof auf die Kellertür zu, weil er zu der Frau wollte, die ihn schamlos an die Polizei verraten hatte. Die Pläne, die er sich vorher zurechtgelegt hatte, spukten ihm im Kopf herum und verdüsterten seinen unruhigen Geist. Schon malte er sich in seinem Zorn aus, wie er die Waffe auf dieses elende Miststück richten würde. Ja, er würde direkt auf ihr Gesicht zielen und abdrücken. Blut, Hirn und Knochensplitter würden bis an die Wände spritzen.

Und dann käme der zweite, schwierige Teil. Keller wusste, es war unumgänglich, auch wenn er es nicht wollte. Aber er durfte nicht zulassen, dass die anderen wieder Kontrolle über Sam bekamen und sie erneut mit Lügengeschichten fütterten. Er würde nah an sie herantreten und ihr in die Brust schießen, weil er ihr Gesicht verschonen wollte. Er hoffte, dass sie sich nicht bewegte, wenn er abdrückte. Denn die Vorstellung, dass sie vor Schmerz und Angst schrie, erfüllte ihn jetzt schon mit Entsetzen. Es wäre besser für sie, wenn sie nicht versuchte, dem Schuss auszuweichen. Vielleicht würde sie ja verstehen, warum er das für sie tat … warum er sie erlöste.

Der Plan lief weiter in Kellers Kopf ab, bildhaft, ganz realistisch. Er sah, wie er ins Auto stieg, zur Arbeit fuhr und einen Kollegen nach dem anderen zur Strecke brachte. Ja, er trieb sie aus den Löchern, in denen sie sich verkrochen hatten, und schickte sie allesamt zur Hölle. Aber die Zeit würde knapp werden, und er musste der Polizei immer einen Schritt voraus sein. Denn er wollte noch zu seiner alten Schule fahren, nicht zu vergessen das Kinderheim. Zu guter Letzt stattete er seiner Mutter einen Besuch ab, wusste er doch, wo sie inzwischen arbeitete. Die letzte Patrone war für sie; er würde ihr in die verhasste Visage schießen. Dann brauchte er sich nur hinzusetzen und auf die Polizei zu warten. Sie würden ihn umzingeln und ihn auffordern, die Waffe fallen zu lassen. Aber genau das hatte er nicht vor. Nein, er würde mit der Waffe im Anschlag auf sie losgehen, und dann wäre in Sekundenschnelle alles vorüber. Und jeder würde seinen Namen kennen.

Doch je näher er der Kellertür kam, desto langsamer wurde er in seinen Bewegungen. Die dunklen Rachegedanken verloren an Intensität. Plötzlich war es ihm nicht mehr so wichtig, sich an denen zu rächen, die ihn gedemütigt hatten. Die Vorstellung, Sam töten zu müssen, obwohl sie doch allmählich zueinanderfanden und bald Zeit für sich hätten, war ihm zuwider.

Vielleicht lag er falsch mit seiner Vermutung, dass die Polizei bereits zu viel über ihn wusste.

Mitten auf dem Hof blieb er stehen und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und spähte in die Bäume und Sträucher, weil er sich absichern wollte, ob die Polizei ihm vielleicht schon auf den Fersen war. Aber er sah nichts Auffälliges, hörte keine Zweige knacken. Erleichtert atmete er aus. Er spürte, dass er in seinem Zorn beinahe zu weit gegangen wäre. Ruhiger, gefasster kehrte er zur Hütte zurück und nahm sich vor, erst dann zuzuschlagen, wenn es wirklich nötig war. In seiner Panik hätte er sich beinahe zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen.

Das Schicksal hatte es so gewollt, dass die Polizei das unterirdische Gewölbe nicht fand. Ein klares Indiz dafür, dass die Dinge sich so entwickelten, wie er es sich immer vorgestellt hatte – so hatte er es geplant.

Er, nur er würde entscheiden, wann alles endete.

*

Während der Streifenwagen über den Zufahrtsweg rumpelte, schaute Police Constable Ingram in den Innenspiegel und sah, wie Thomas Keller in seine halb verfallene Hütte zurückkehrte. »Wie kann man nur auf so einem alten Hof leben?«, wunderte er sich.

»Ja. Ich würde ein paar schicke Häuser auf das Grundstück setzen und teuer verkaufen«, meinte sein Kollege, Police Constable Adams.

»Ein bisschen nervös war er schon, oder?«

»Mag sein, aber der ist harmlos. Ist ja nicht gleich mit einer Axt auf uns losgegangen, den Schwanz in der anderen Hand.«

»Stimmt schon«, meinte Ingram, »aber hätten wir nicht wenigstens einen Blick in die anderen Gebäude werfen sollen?«

»Wie haben nicht die Anweisung«, rief Adams ihm in Erinnerung. »Wir sollen nachschauen, ob Orte infrage kommen, an denen diese Frau festgehalten wird, und die Infos ans Morddezernat weiterleiten. Wenn der Superintendent es für nötig hält, stellt er einen Durchsuchungsbefehl aus.«

»Ich weiß«, sagte Ingram, »aber ich hätte mich trotzdem gern umgesehen.«

»Wir müssen vor Mittag noch etliche Stellen abklappern. Außerdem müssen wir jetzt erst mal dem Kollegen helfen. Glaub mir, nach der Schicht wirst du froh sein, wenn du dir nicht auf jedem Hof die Hacken abgelaufen hast. Und vergiss nicht, wie viele Berichte wir noch schreiben müssen.«

»Du hast recht.«

»Wie ich schon sagte, alles Weitere ist Aufgabe des Morddezernats.«

*

»Ich wusste gar nicht, dass es in Peckham so nette Lokale gibt«, stellte Anna fest, als sie sich in dem geschmackvoll eingerichteten Café umschaute, das aromatischen Kaffee und gutes Essen anbot.

»Vielleicht sind Sie ja Besseres gewöhnt, aber mir gefällt es hier.«

»Nein, es ist sehr nett hier.«

»Mir ist nicht so wichtig, was Sie denken. Das Café gehört mir ja nicht.«

»Schön zu wissen, dass meine Meinung Ihnen so viel bedeutet.«

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Anna, die einzige Meinung, die für mich zählt, ist meine eigene.«

»Auf den Fall bezogen heißt das also, dass der Mann, der die Frauen entführt hat, langsam, aber sicher die Kontrolle verliert?«

»So etwas in der Art.«

»Mir ist aufgefallen, dass Sie diese Erkenntnis gar nicht Superintendent Featherstone mitgeteilt haben.«

»Er würde es nicht verstehen.«

»Hätten Sie es nicht zumindest versuchen können?«

»Er ist ein guter Cop, aber er denkt zweidimensional. Er sieht nur, was unmittelbar vor ihm ist. Er würde es nicht verstehen.«

»Ehrlich gesagt kann ich Ihre Theorie auch nicht ganz nachvollziehen. Ich sehe keinerlei Hinweise darauf, dass unser Mann in absehbarer Zeit Amok läuft. Bislang können wir nur davon ausgehen, dass er die Opfer nach einem ganz bestimmten Muster aussucht, entführt und Gewalt anwendet. Er hat die Frau ermordet, aber das heißt noch nicht, dass er selbstzerstörerische Züge hat.«

»Noch nicht«, erwiderte Corrigan. »Aber er driftet in diese Richtung ab. Wenn er spürt, dass ich ihm im Nacken sitze, verliert er vollkommen die Kontrolle, glauben Sie mir.«

»Ich fürchte, da sind wir unterschiedlicher Meinung. Aber wie dem auch sei, ich finde Ihre Ansichten trotzdem interessant. Haben Sie Psychologie studiert?«

Beinahe hätte Corrigan sich die Zunge am Kaffee verbrannt. Er verzog das Gesicht. »Ich habe keine Zeit, mir Theorien anderer Leute durchzulesen«, sagte er. »Alles, was ich weiß, habe ich in meinem Job gelernt, in der wirklichen Welt, in der ich es mit Irren wie Sebastian Gibran zu tun hatte. Glauben Sie mir, wenn man Leute seines Schlages jagt, lernt man in kürzester Zeit eine Menge. Man muss schnelle Entscheidungen treffen, sonst bricht die Hölle los. Da bleibt keine Zeit, wochenlang herumzusitzen und Thesen für andere Akademiker zu Papier zu bringen oder sich den Mund fusselig zu reden. Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber wenn Sie sich in Ihrem Job einmal irren sollten, wen interessiert das? Mache ich einen schwerwiegenden Fehler, finde ich mich, wenn ich Glück habe, am Arsch der Welt wieder und kann meine Karriere vergessen. Schlimmstenfalls sieht man mich abends bei Sky News oder später auf der Anklagebank.«

»Das meinen Sie doch nicht ernst?«

»Sie glauben mir nicht? Hören Sie, es ist immer die Schuld der Polizei. Letzten Endes müssen wir alles ausbaden, egal was passiert. Wir sind der Sündenbock. Der junge Stephen Lawrence wird von rassistischen Schlägern ermordet – es ist unsere Schuld. Ein Haufen Anarchisten verwüstet das West End – wieder sind wir schuld, weil wir zu nachlässig waren. Ein Student wird bei einer Demo schwer verletzt – wir sind schuld, weil wir zu hart vorgingen. Leute von News of the World hacken sich in die Telefongespräche von irgendwelchen publicitygeilen Promis, die das insgeheim auch noch toll finden – wer ist schuld? Wir, weil wir nicht früher in diese Richtung ermittelt haben. Wenn wir diesen Psychopathen nicht fassen, bevor er wieder mordet, wird es meine Schuld sein.«

Hastig biss er in sein Stück Pastete und bedachte Anna mit einem finsteren Blick, als wollte er sie warnen, seine Behauptungen zu hinterfragen. Als sie schwieg, fuhr er fort: »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie es ist, Tag für Tag zu arbeiten, mit wenig Schlaf? Man treibt sich jeden Morgen aufs Neue an und muss die eigene Frau und die Kinder vertrösten und ihnen sagen, dass man bald wieder mehr Zeit für sie haben wird. Und wenn man den Job dann erledigt und den Täter hinter Gitter gebracht hat und abends vorm Fernseher sitzt, was sieht man dann? Politiker melden sich zu Wort und behaupten, es wäre die Schuld der Polizei. Köpfe werden rollen. Nie wird erwähnt, dass wir gut arbeiten und unser Leben für Fremde riskieren. Nie werden wir dafür gelobt, dass wir Jahr für Jahr Tausende miese Schweine aus dem Verkehr ziehen und unschädlich machen. Manchmal würde man am liebsten die Reißleine ziehen und den ganzen Mist hinschmeißen.«

»So habe ich das tatsächlich noch nicht gesehen«, bekannte Anna. »Kein leichter Job, Sie haben recht.«

»Kann man wohl sagen.«

»Was denken Sie, wenn Sie sehen, wie ein Mordfall in der Presse abgehandelt wird? Was geht dann in Ihnen vor?«

»Sie wollen mich doch nicht schon wieder analysieren?«

»Nein, mich interessiert nur der Blickwinkel der Polizei.«

»Es macht mich sauer, was denn sonst«, erklärte er. »Die Medien machen eine Realityshow daraus, Nervenkitzel für die Massen. Wären die Typen von der Presse mal persönlich am Ort eines Gewaltverbrechens gewesen, bevor der Tatort gesäubert wird, würden sie anders über einen Fall denken. Von denen hat noch keiner den Geschmack des Todes auf der Zunge gehabt. Glauben Sie mir, dieser Geschmack bleibt im Mund, da können Sie sich noch so sehr die Zähne putzen oder mit Mundwasser spülen. Das kann kaum jemand nachvollziehen, der es nicht selbst erlebt hat. Oder können Sie das etwa?«

»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Sean, aber Sie brauchen Sie nicht zu beantworten, wenn Sie nicht wollen.«

»Ich kann Ihnen ja nicht verbieten, die Frage zu stellen.«

»Ist Ihnen als Kind etwas widerfahren?«

»Nein«, log er.

»Irgendein Trauma vielleicht? Eine schlimme Verletzung oder eine kritische Situation, in die Sie im Job geraten sind?«

»Da gibt es viele Beispiele, aber keinen speziellen Augenblick, den man herauspicken könnte. Wieso fragen Sie?«

»Weil Sie mir manchmal wie ein Mann vorkommen, der an den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.«

»Das ist doch Unsinn«, wiegelte er ab.

»Als kämen die Einblicke, die Sie gewinnen, eher aus ihrer Erinnerung als aus Ihrer Vorstellungskraft.«

Sie kam ihm zu nah, und das schmeckte ihm nicht. »Sie wollen darauf hinaus, dass ich so denken kann wie die Leute, die ich jage, richtig? Die Antwort ist ja. Aber wenn Sie wissen wollen, wie ich das mache, muss ich Sie enttäuschen. Ich weiß es selbst nicht. Ob ich mich in dieser Rolle wohlfühle? Nein, aber wenn ich mir die Fähigkeit zunutze machen kann, um anderen Menschen zu helfen und einige wirklich üble Typen auszuschalten, dann ist das gut so. Und dann ist es mir auch egal, wie ich mich dabei fühle.«

»Diese Art des Selbstaufopferns kann sich zerstörerisch auswirken. Wer kümmert sich um Sie, während Sie sich um alles und jeden kümmern?«

»Meine Frau. Meine Kinder. Ich selbst.«

»Klingt nach einer eigenen kleinen Welt ohne Einflüsse von außen …«

»Für Sie vielleicht, nicht für mich.«

»Sie erzählen nicht gern von sich, stimmt’s?«

»Genau, und deshalb lassen wir das am besten. Außerdem habe ich mir überlegt, dass Sie mir vielleicht doch behilflich sein könnten.« Ob es nun höflich klang oder nicht, interessierte Corrigan nicht.

»Wow, danke.«

»Haben Sie schon mit Detective Sergeant Jones gesprochen?«

»Mit Sally? Ja.«

»Dann wissen Sie, was ihr widerfahren ist. Sie haben den Bericht gelesen, bevor Sie sich auf Gibran einließen.«

»Stimmt, aber was immer Sally mir anvertraut haben mag, fällt sozusagen unter die ärztliche Schweigepflicht. Ich darf mit niemandem darüber sprechen.«

»Akzeptiert. Ich möchte eigentlich nur wissen, ob wir hier ein Riesenproblem haben. Ist es richtig, dass Sally weiterhin ihren Dienst versieht, oder sollte ich mir noch einmal Gedanken darüber machen?«

»Es wird Sally nichts nutzen, wenn sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzieht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, einverstanden?«

»Das war laut und deutlich.«

»Bringen Sie Sally nicht unnötig in Gefahr, Sean, und stellen Sie nicht zu hohe Erwartungen an sie.«

»Das tue ich bestimmt nicht, aber unterschätzen Sie meine Kollegin nicht.« Er blickte auf die Uhr. »Okay, die Pause hat gutgetan, und Ihre Tipps für Sally sind richtig. Aber ich stehe unter gewaltigem Druck, wie Sie wissen.«

»Sie müssen wieder an die Arbeit.«

»Ja, sorry.« Er stand auf und wollte sich verabschieden, hielt aber inne, weil ihm etwas einfiel. »Fast hätte ich es vergessen – ich wollte Sie die ganze Zeit schon etwas fragen.«

»Ich bin gespannt.«

»Hat Sebastian Gibran je mit Ihnen über James Hellier gesprochen? In Wirklichkeit heißt der Mann Stefan Korsakow, aber Gibran dürfte ihn nur unter dem Namen Hellier kennen.«

»Ja, hat er. Er gab Hellier die Schuld für seine Verbrechen. Er sagte, Hellier habe ihn aufgebaut, habe ihn jahrelang studiert, damit die Polizei glaubte, er wäre der Killer und nicht Hellier. Dieser Hellier schien das Zentrum seiner paranoiden Selbsttäuschung gewesen zu sein.«

»Cleverer Bastard«, erwiderte Corrigan. »Gibran hat die Wahrheit verdreht. Er war es, der Hellier für seine Belange eingespannt hat.«

»So steht es im Polizeibericht.«

»Sie meinen, in meinem Bericht?« Anna antwortete nicht darauf. »Dieser James Hellier war wirklich ein interessanter Mann. Ich wette, Sie hätten sich gern mit ihm unterhalten. Sie hätten ein ganzes Buch über ihn schreiben können.«

»Erzählen Sie mir von ihm.«

»Als ich ihn das erste Mal traf, habe ich ihn gehasst. Dann hatte ich sogar Angst vor ihm. Aber letzten Endes hat er mir das Leben gerettet …« Corrigan spürte, dass er schon zu viel von sich preisgegeben hatte, und verstummte. Als er sich dann wieder an Anna wandte, klang seine Stimme kühl und geschäftsmäßig. »Eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich über ihn denke. Es wird Zeit, ich muss los.« Er streckte die Hand nach der Rechnung aus, die auf einem kleinen Teller serviert worden war, aber Anna kam ihm zuvor.

»Das übernehme ich«, sagte sie. Ihre Finger berührten sich, als sie beide die Hand nach der Rechnung ausstreckten, und ihre Blicke trafen sich. Corrigans Miene blieb ausdruckslos, obwohl er ein wohliges Kribbeln verspürte. Langsam nahm er die Rechnung und zog die Hand zurück.

»Das geht auf mich«, sagte er nüchtern.

*

Als Thomas Keller die steinernen Stufen nach unten stieg, rollte die Spritze mit dem Alfentanil auf dem Tablett von einer Seite auf die andere. Mit dem Daumen drückte er auf das kostbare Abziehbild, damit es nicht davonflatterte, und schaute kurz zu Louise Russells Käfig, als er das Gewölbe durchquerte und neben Deborah Thomson in die Hocke ging. »Ich glaube, es ist Zeit, Sam«, sagte er. »Wir haben uns jetzt beide lange genug in Geduld geübt.« Er stellte das Tablett auf dem Boden ab und nahm das Abziehbild, auf dem der Phönix zu sehen war. Die Vorfreude war fast unerträglich gewesen, doch als er ihr jetzt das Bildchen zeigte, verspürte er die Erregung am ganzen Körper. Und Stolz. Ja, er war stolz auf sich, da er sie aus den Fängen all dieser Lügner und Scharlatane gerettet hatte. »Das ist für dich«, sagte er und krempelte seinen Ärmel hoch, um ihr das Tattoo auf dem Arm zu zeigen. Dann wedelte er mit dem Papier, auf dem das Abziehmotiv klebte, und sorgte dafür, dass sie auch wirklich hinschaute. »Das ist kein echtes Tattoo. Das können wir später noch machen, aber fürs Erste reicht es. Wenn du es trägst, können wir zusammen sein, ich meine … richtig zusammen sein.«

Ihre Blicke huschten von dem hässlichen Bildchen zu der Spritze mit der klaren Flüssigkeit. Louise hatte ihr erzählt, dass Keller ihr möglicherweise ein Betäubungsmittel verabreichen würde. Dann würde er ihr das Abziehbild auf den Arm pressen und zu ihr in den Käfig klettern, um Dinge mit ihr anzustellen, die grelles Entsetzen in ihr auslösten. Deborah schätzte die Flüssigkeitsmenge in der Spritze; sie wusste aus Erfahrung, dass es nicht genügte, um sie vollkommen zu betäuben – was nur den Schluss zuließ, dass sie bei Bewusstsein bleiben sollte. »Ich möchte mich kurz waschen«, sagte sie und nahm all ihren Mut zusammen. »Wenn wir zusammen sein wollen, möchte ich sauber sein … für dich.«

Seine Augen weiteten sich. Er begann am ganzen Körper zu zittern, weil er nicht so schnell verarbeiten konnte, dass sie ihn akzeptierte. Er kratzte sich am Kopf und biss sich vor Aufregung so fest auf die Unterlippe, dass ein Tropfen Blut hervorquoll. »Okay«, sagte er. »Klar, aber ich muss erst dafür sorgen, dass du sicher bist. Es ist zu deinem eigenen Schutz.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie. »Was hast du mit mir vor?«

»Ich werde dich beschützen«, sagte er und blickte sie verwirrt an, als könne er nicht begreifen, warum sie so besorgt und ängstlich klang. »Ich könnte dir niemals wehtun, Sam.« Als sie kurz an ihm vorbei in Louises Richtung sah, schaute er sich ruckartig um, weil er wissen wollte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Louise blickte unbeteiligt zu Boden und hoffte, dass er die stummen Absprachen nicht bemerkt hatte.

»Was hat sie dir erzählt?«, forschte Keller nach. Seine Lippen wirkten bleicher als zuvor, und seine Augen verdunkelten sich vor Hass. »Sie hat wieder versucht, dich zu vergiften, nicht wahr? Sie dringt in deinen Kopf ein, pumpt dich mit ihren Lügen voll!«

»Nein«, antwortete Deborah so ruhig sie konnte, »sie hat überhaupt nichts gesagt. Ich würde ihr sowieso kein Wort glauben. Es geht doch um uns, nicht um sie. Vergiss sie bitte.«

»Ich weiß, wie man kleine dreckige Huren wie sie bestraft.« Bei diesen hasserfüllten Worten drängte Louise sich in eine Ecke ihres Käfigs. Ihre Unterlippe begann zu zittern, als er sich näherte und in seiner Hosentasche nach dem Elektroschocker wühlte.

»Vergiss sie!«, rief Deborah ihm nach. »Du willst doch mit mir zusammen sein, und ich mit dir. Sie kann uns doch gestohlen bleiben.« Plötzlich blieb er stehen und drehte sich wieder um. Der Zorn schien abzuflauen, als sich so etwas wie Zuneigung und Verlangen in seinen Zügen abzeichnete.

»Du hast recht«, sagte er. »Sie kann uns gestohlen bleiben.«

»Genau«, sagte Deborah erleichtert und ermunterte ihn wie einen gehorsamen Hund. »Du wolltest mich gerade rauslassen, weil ich mich waschen muss, weißt du nicht mehr?«

»Ja, klar.« Er holte den Schlüssel aus der Tasche und ging zur Käfigtür, um das Vorhängeschloss zu öffnen. Dann aber erstarrte er. Der Selbsterhaltungstrieb, der ihm in all den Jahren das Leben gerettet hatte, erwachte in ihm. »Tut mir leid. Fast hätte ich’s vergessen, aber bevor ich dich rauslasse, musst du mir einen Gefallen tun.«

»Was denn?«, fragte Deborah ängstlich. Grauenhafte Bilder blitzten vor ihren Augen auf, sodass sie sich kaum noch konzentrieren konnte. Mühsam schluckte sie die Galle herunter, die ihr hochkam.

»Du musst die Hand durch die Luke stecken.«

»Wieso?«

»Vertrau mir, Sam. Du musst lernen, mir zu vertrauen.« Er öffnete die Klappe und wartete, dass Deborah der Aufforderung nachkam. Sie wusste, dass sie gehorchen musste, sonst würde sie wie Louise enden und schließlich das Schicksal von Karen Green teilen. Dann wäre sie nur noch eine Erinnerung für all diejenigen, die sie liebten. Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie unterdrückte ihr Schluchzen und versuchte, die Angst niederzuringen, als sie die Hand zögernd durch die Klappe steckte. Sie wollte wegschauen, doch sie blickte ihm in die Augen und zwang sich zu einem Lächeln.

Er erwiderte ihr Lächeln, als er einen Nylonfaden aus der Hosentasche zog. Sie beobachtete, wie er diesen Faden mehrmals um ihre Handgelenke wickelte, sodass sie ihren Pulsschlag spürte. Doch sie hatte keine Schmerzen.

Als er fertig war, verknotete er die Enden. »So«, sagte er. »Nicht zu stramm, oder?«

»Nein«, brachte sie atemlos hervor. »Gut so, danke.«

Er wischte sich die schweißigen Hände an der Hose ab, ging wieder zur Käfigtür und machte das Schloss auf, in dem noch der Schlüssel steckte. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, nahm er das Tablett vom Boden auf und streckte die freie Hand in den Käfig, um Deborah zu stützen. Bereitwillig ließ sie sich von ihm aus dem Käfig helfen. Sie hoffte inständig, dass Louise zuschaute und sich bereithielt, während sie sich durch das Gewölbe führen ließ. Gehorsam folgte sie ihm hinter den Schirm und zum Waschbecken. Dort stellte er das Tablett mit der Spritze auf das Tischchen. Dann zog er sich zurück, nur ein paar Schritte, und beobachtete Deborah, wobei er sich mit der Zunge über die leicht geschwollene Unterlippe leckte. Deborah wich seinen Blicken aus und drehte den Wasserhahn auf. Das Quietschen des alten Metalls wich dem Geräusch von fließendem Wasser. »Ich möchte nicht, dass meine Kleider nass werden«, sagte sie.

Er wirkte verdutzt. »Keine Sorge. Wasch einfach nur dein Gesicht.«

»Aber ich möchte richtig sauber für dich sein«, betonte sie und überlegte, wie sie ihn am besten beeinflussen konnte. »Ich möchte so rein wie möglich für dich sein. Wenn du mir die Fesseln löst, kann ich mich ausziehen und mich richtig waschen – überall.«

Er spürte, wie seine Hoden sich anspannten. Bei dem Gedanken, dass sie sich willentlich vor ihm auszog und wusch, ließ er alle Vorsicht fallen. Er stellte sich vor, wie ihr die Wassertropfen über die weiche Haut rannen, wie sie mit den Händen über ihre weiblichen Rundungen fuhr … Voller Vorfreude machte er einen Schritt nach vorn, um den Nylonfaden zu lösen. Aber kaum hatte er ihre Handgelenke umfasst, hielt er inne und schaute von Deborah zu der erbarmungswürdigen Gestalt in der Ecke des anderen Käfigs.

Deborah spürte sein Zögern. »Du kannst mir zuschauen«, versuchte sie ihn zu ermuntern. »Du kannst zusehen, wie ich mich wasche, es macht mir nichts aus.«

»Nein.« Er trat von ihr zurück. »Es ist noch nicht sicher für dich. Ihr Gift könnte immer noch in dir sein.«

Deborah ahnte, dass man ihr die Enttäuschung ansah, doch sie hoffte, dass er ihre Miene falsch deutete. Mit etwas Glück würde er denken, sie sei traurig, sich nicht freizügig vor ihm bewegen zu dürfen. »Du hast recht«, log sie. »Wir sollten vorsichtig sein.«

Unter dem Hahn fing sie das Wasser mit der hohlen Hand auf und wusch sich das Gesicht, wobei sie die ganze Zeit abzuschätzen versuchte, wo genau er stand. Schließlich rieb sie mit den Fingern über das alte Stück Seife und tat so, als würde sie sich das Gesicht sorgfältig reinigen. »Oh!«, rief sie plötzlich und zuckte zusammen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. »Ist was?«

»Meine Augen!«, jammerte sie. »Ich habe Seife in die Augen gekriegt. O Gott, das brennt! Ich kann nichts mehr sehen.«

Angst kroch in ihm hoch, fingerte in alle Fasern seines Körpers. Er ahnte, dass es eine Falle war; trotzdem ging er zu ihr, riss das Handtuch von der Halterung und reichte es ihr.

Die Augen zusammengekniffen, tastete sie danach und lächelte, als sie sich den Stoff an die Augen drückte. Er sah, dass der Schmerz nachließ.

»Danke …« Unvermittelt wirbelte Deborah herum und rammte ihm das Knie zwischen die Beine. Er krümmte sich, wimmernd vor Schmerz, während sie zu einem zweiten Tritt ansetzte, wobei sie auf seine Nase zielte. Er sah das Knie kommen und wich aus, fing sich aber einen schweren Treffer an der Schläfe ein. Vom Schock biss er sich in die Wange und spürte, wie ihm das Blut in den Rachen lief. Er verschluckte sich, versuchte sich auf den Beinen zu halten und spürte im gleichen Augenblick spitze Fingernägel im Gesicht, dann einen glühenden Schmerz seitlich am Hals. Er stöhnte, winselte wie ein angeschossenes Tier. Seine Hand zitterte, als er sich an den Hals fasste.

Deborah nahm die Hand von der Spritze und ließ die Kanüle einfach in seinem Hals stecken. Sie hatte die Vene treffen wollen, jedoch verfehlt. Trotzdem hatte sie ihm den Inhalt der Spritze in den Körper gejagt. Der Anblick, der sich ihr bot, war schrecklich: Er blutete und war verletzt, tastete mit einer Hand nach der Spritze. Eine innere Stimme drängte sie, wegzulaufen, ehe sich das Blatt wendete … ehe dieser Mann sich mit dem Zorn eines Wahnsinnigen hochrappelte und sich trotz der Schmerzen auf sie stürzte.

Die gellende Stimme einer Frau drang in ihr Bewusstsein. »Nimm den Schlüssel, Deborah! Den Schlüssel!« Louise krallte die Finger um die Gitterstäbe und rüttelte daran, doch ihre Kraft hatte nachgelassen, da sie schon mehrere Tage nichts mehr zu essen bekommen hatte. Deborah schaute von der Frau zu dem verwundeten Monster, das sich am Boden krümmte und immer noch versuchte, sich die Kanüle aus dem Hals zu ziehen. Doch die Muskeln am Einstichloch hatten sich verkrampft, sodass die Nadel sich nicht so schnell herausziehen ließ. Als frische Luft die Stufen herunterwehte und Deborahs Gesicht kühlte, verstärkte sich ihr Fluchtinstinkt.

»Tritt ihn noch mal, Deborah, und dann hol mich hier raus. Deborah!«, kreischte Louise, als sie die Absicht ihrer Mitgefangenen ahnte.

»Es tut mir leid«, hauchte Deborah. »Es tut mir so leid …«

Und dann rannte sie los, stürmte an dem Ungeheuer vorbei, das sich am Boden wand und eine Hand nach ihrem Fußknöchel ausstreckte. Als seine schweißigen Finger an ihrer Haut abglitten, schrie Deborah – mehr vor Ekel als vor Angst. Er konnte sie nicht mehr aufhalten. Als sie die Treppe erreichte, wollte sie drei Stufen auf einmal nehmen, aber da ihre Hände zusammengebunden waren, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte. Mit beiden Schienbeinen prallte sie vor die Betonkante und schrie vor Schmerz. Mühsam rappelte sie sich hoch, stolperte die Treppe weiter hinauf, vorsichtiger als zuvor. Aus Angst, der Verrückte könnte ihr jeden Moment nachsetzen, verdoppelte sie ihre Anstrengung. Weiter oben erahnte sie ein helles Rechteck aus Tageslicht. Das rettende Licht kam ihr so grell vor, dass sie die Augen zusammenkniff und aufpassen musste, nicht erneut das Gleichgewicht zu verlieren. Und die ganze Zeit schrie Louise aus den dunklen Tiefen des Gewölbes.

»Verdammtes Miststück! Komm zurück! Du kannst mich hier nicht alleinlassen! Hoffentlich verreckst du dreckiges Luder! Ich hoffe, er bringt dich um!«

Die Treppe kam Deborah wie ein unüberwindbarer Berg vor. Sie quälte sich die letzten Stufen hinauf, rutschte erneut aus und schlug unglücklich mit dem Knie auf. Der Schmerz war so grauenhaft, dass es ihr den Atem verschlug. Sie stöhnte dumpf, umkrampfte mit beiden Händen die Kniescheibe. Aus den Augenwinkeln nahm sie weiter unten in der Düsternis eine Bewegung wahr: Eine Gestalt regte sich und erklomm die ersten Stufen, schwankend, die Arme tastend von sich gestreckt. Er konnte den Kopf nicht heben und wirkte in seinen Bewegungen wie ein Betrunkener oder Blinder, der sich nicht mehr zurechtfand, doch er kam näher, unaufhaltsam.

Deborah hatte keine Kraft mehr zu schreien. Der einzige Laut, der ihr über die Lippen kam, war ein Wimmern, während sie sich hochzog, gepeinigt von Schmerzen. Sie spürte, dass ihr Knie nicht mehr mitmachte; sie wollte rennen, konnte aber nur noch humpeln.

Als sie endlich den oberen Treppenabsatz erreichte und ins Freie wankte, blendete das Sonnenlicht sie so sehr, dass sie die scharfen Steine nicht sah, die ihr in die nackten Fußsohlen schnitten. Stöhnend taumelte sie ein paar Schritte vorwärts, konnte sich aber nicht mehr auf den Beinen halten und stürzte, wobei sie sich gerade noch mit den Händen abstützen konnte. Kaum hatten ihre Augen sich auf das gleißende Tageslicht eingestellt, blickte sie sich hastig nach dem Vorhängeschloss um, doch es war nirgends zu sehen. Es war dort unten, in der Finsternis. Bei ihm. In der Dunkelheit, in der sie Louise Russell ihrem Schicksal überlassen hatte.

Deborah schlug die Metalltür zu und versuchte, über den Hof zu entkommen. Doch sie stolperte alle paar Schritte oder stieß gegen alte Tonnen und Fässer. Als sie mit dem Fuß an einem hervorstehenden Stück Beton hängen blieb – ausgerechnet mit dem verletzten Bein –, wurde ihr vom Schmerz schwarz vor Augen. Wieder stürzte sie zu Boden. Tränen raubten ihr die Sicht. Hektisch tastete sie nach Gegenständen, die sie als Waffe benutzen konnte, fand aber nichts. Sie warf einen gehetzten Blick zurück zur Kellertür und schluckte: Sie war nicht weiter als zwanzig Schritte gekommen. Dann zerriss ihr Schrei die Stille des Morgens, als die Tür aufflog und die Gestalt aus der Tiefe des unterirdischen Gewölbes hinaus ins Freie taumelte. Immer noch steckte die Kanüle in seinem Hals. Der Mann schüttelte den Kopf wie ein Hund und versuchte, die Wirkung des Betäubungsmittels zu bekämpfen.

Keller blinzelte gegen das Licht und versuchte sich trotz des Alfentanils im Freien zu orientieren. Eine Bewegung auf dem Hof erregte seine Aufmerksamkeit: Die Frau versuchte, auf die Beine zu kommen. Sofort stapfte er in die Richtung, wobei er sich auf den Ölfässern abstützte, da er immer noch unsicher auf den Beinen war. Seine Beute war nicht mehr als eine verschwommene Gestalt, die sich im Zeitlupentempo zu bewegen schien – seine Wahrnehmung war zu sehr beeinträchtigt. Es kam ihm vor, als bewegten sie sich beide in einem Albtraum, in dem sie über eine frisch geteerte Fläche zu entkommen versuchten, aber bei jedem Schritt versanken und hängen blieben.

Trotzdem holte er auf. Deborah zog das lädierte Bein nach und humpelte, nicht zuletzt, weil sie mit den bloßen Füßen auf spitze Steine oder Glasscherben trat, die auf dem Hof verstreut lagen. Verzweifelt schaute sie sich nach Hilfe um, konnte aber nirgends eine Straße oder vorbeifahrende Autos entdecken. Sie sah nur die halb verfallene Hütte und die Nebengebäude, sonst nichts: keine Nachbarhäuser, keine Anzeichen einer Siedlung. Nur das Haus, in dem der Irre wohnte.

Da sie keine Sekunde zu verlieren hatte, beschloss sie in ihrer Panik, weiter in Richtung des Weges zu laufen, der vom Hof wegzuführen schien. Sie hoffte, dieser Hölle entfliehen zu können, aber der Wahnsinnige holte langsam auf. Seine unsicheren Schritte wurden lauter. Dennoch schleppte Deborah sich weiter, auch wenn ihr Tränen in die Augen schossen.

Plötzlich spürte sie, dass er unmittelbar hinter ihr war – seine Finger waren wie Tentakel, die nach ihr griffen. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, aber der sengende Schmerz, der ihr durch die Wirbelsäule zuckte, raubte ihr den Willen zum Widerstand. Sie stürzte zu Boden. Die Spannung des Elektroschockers fuhr ihr durch jede Faser des Körpers.

Benommen nahm sie wahr, dass sie jemand an den Schultern herumriss und auf den Rücken drehte. Ein Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf, verzerrt vor Schmerz und Wut. Der Mann taumelte leicht, während er sich die Kanüle aus dem Hals riss. Er schleuderte die Spritze so weit weg, wie er konnte, verlor dabei aber das Gleichgewicht, da das Alfentanil noch immer seine motorischen Fähigkeiten beeinträchtigte. Mit einem Urschrei fiel er neben ihr auf die Knie. Dann legte er ihr den Kopf wie ein Kind auf die Brust und streichelte über ihr Haar, während er schluchzte. »Das hättest du nicht tun sollen, Sam«, flüsterte er. »Du darfst nicht auf ihre Lügen hören. Ich bin der Einzige, der dich wirklich liebt … der Einzige, der dich wirklich kennt. Das ist dein Zuhause.«

Die Zuckungen des Körpers unter ihm nahmen langsam ab, die Lähmung wich aus Armen und Beinen. Es kam wieder Leben in Deborahs Körper, aber ihre Muskeln waren wie ausgelaugt. Verzweifelt versuchte sie, den Irren von sich zu drücken, aber ihre Arme waren so schwach, dass ihr Versuch eher wie eine Umarmung aussah. Er hob den Kopf von ihrer Brust und näherte sich ihrem Gesicht. Mit den Daumen wischte er ihr Tränen und Speichel ab und verteilte zarte Küsse auf ihren Wangen und ihrem Hals. Bei jedem Kuss verweilte er mit den Lippen auf ihrer Haut, als wäre es der letzte Kuss, den er im Leben spürte. Ihr salziger Schweiß und die Tränen brannten auf seiner verletzten Lippe, doch für ihn war es ein herrliches Gefühl, das er noch nie erlebt hatte, außer bei ihr, bei Sam … und das war so lange her, dass er es beinahe vergessen hatte.

Schließlich löste er sich von Deborah, schob ihr eine Hand unter den Rücken, legte sich ihren Arm über die Schulter und zog sie langsam auf die Beine. Er keuchte, als er sie in Richtung des unterirdischen Gewölbes schleifte. Deborah ließ das verletzte Bein hängen, während sie und ihr Peiniger sich wie zwei verwundete Soldaten über den Hof schleppten, der eine den anderen stützend. »Komm«, sagte er, »bevor dich jemand sieht. Halt dich bei mir fest. Ich lasse dich nicht los. Ich verspreche dir, dass ich dich nie im Stich lasse.« Sie wollte sich von ihm lösen, ihn zu Boden schlagen und ihm den Schädel mit irgendeinem Ziegelstein zertrümmern, der ihr in die Finger käme. Aber sie schaffte es nicht. Ihr Körper war zu schwach von den Verletzungen und den Nachwirkungen des brutalen Elektroschockers.

Als sie sich der Kellertür näherten, spürte Deborah, wie ihr tauber Leib allmählich zu neuem Leben erwachte. Zwar fühlte sie sich immer noch matt und ahnte, dass ihr die Worte nur schleppend über die Lippen kommen würden, doch die Muskelgruppen gehorchten allmählich wieder den Befehlen des Gehirns. Und während sie stärker zu werden glaubte, schwanden seine Kräfte, denn er war ausgelaugt von der Anstrengung, ihr über den Hof zu helfen. Trotzdem befürchtete sie, nicht schnell genug zu sein. Schon glaubte sie sich wieder vor der Käfigtür und befürchtete, nicht mehr genug Kraft und Mut zu haben, um ihn zu überwältigen.

Als die Tür, hinter der sich die Treppe zum Verlies befand, drohend vor ihr aufragte und feste Konturen annahm, bewegte sie die tauben Lippen und murmelte: »Nein.« Mit der freien Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest. »Nein«, wiederholte sie, und ihre Sprache wurde klarer, ihre Stimme fester. »Bitte, nicht wieder nach da unten.«

Keller zerrte an ihrem Arm, aber sie ließ nicht los, denn ihre Furcht verlieh ihr neue Kraft. Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief und die Kräfte ihn verließen, und überlegte kurz, ob er wieder den Elektroschocker einsetzen sollte. Dann aber wäre er gezwungen, die Frau über die Treppe nach unten zu tragen, und dazu fehlte ihm die Kraft. Deshalb schlug er wahllos nach ihr und biss ihr in die Hand, mit der sie sich am Türrahmen festkrallte. Tief bohrte er ihr die Zähne in die Knöchel, bis er den metallischen Geschmack warmen Blutes auf der Zunge hatte. Diese primitive Brutalität befeuerte Keller und setzte neue Kräfte in ihm frei. Je lauter Deborah schrie, desto fester biss er zu. Seine Halsschlagader pulsierte, während er das Blut herunterschluckte, das sich in seinem Mund sammelte.

Deborah konnte den Schmerz nicht mehr ertragen und ließ so abrupt los, dass sie und Keller die ersten paar Stufen hinunterfielen. Wie zwei Tänzer waren sie miteinander verschlungen, als sie auf die harten Stufen prallten, doch keiner der beiden stieß einen Schrei aus. Schließlich lag er halb verdreht auf ihr, und sein Gesicht war nur noch Millimeter von ihrem entfernt. Sein heißer Atem vermischte sich mit ihrem. Ein süßlich-betäubender Geruch. Ganz kurz trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren vor Angst so geweitet wie ihre, denn längst hatten beide begriffen, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod ausfochten.

Deborah schlug nach ihm, traktierte ihn mit beiden Fäusten, doch da sie unter ihm lag, konnte sie die Knie nicht anheben. Sie traf ihn seitlich am Kopf und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Keller verspürte einen heißen Schmerz im Gesicht, als sie ihm mit abgebrochenen Fingernägeln die Haut aufriss. Er kreischte vor Schmerz, kniff die Augen zusammen und versuchte, Deborahs Hände zu packen.

Er hatte ihr nicht wehtun wollen, nicht seiner geliebten Sam, aber offensichtlich war sie immer noch vergiftet. Und da sie hatte fliehen wollen und nach ihm schlug, schwand sein Mitgefühl allmählich. Ja, seine Gefühle für sie verblassten in den Tiefen seiner Seele und wurden ersetzt durch Zorn, der dicht unterhalb der Oberfläche kochte. Die unbändige Wut verlieh ihm neue Kraft. Sein Kreischen verwandelte sich in ein Brüllen, als er die Frau an den Haaren packte und ihr den Kopf nach hinten riss. Dann schleifte er sie gnadenlos die Treppe hinunter und achtete nicht darauf, ob die Kanten der Stufen ihr in den Rücken stachen. Unten angekommen, griff er fester in ihr Haar und zerrte sie quer durch das Gewölbe. Sie schrie und versuchte sich zu widersetzen. Er verspürte einen reißenden Schmerz in der Schulter, der seinen Zorn aber nur umso stärker anfachte. Ohne nachzudenken, holte er mit dem Fuß aus und traf sie genau an der Wirbelsäule. Stöhnend bog sie den Rücken durch, während er sie Schritt um Schritt über den kalten Boden in Richtung des Käfigs schleifte, aus dem sie zuvor hatte entkommen können.

Zwischen ihren Schreien stammelte sie unverständliche Worte, bis sie wieder Luft zum Sprechen hatte. »Du widerliches Tier, lass mich los! Ich bring dich um! Lass mich los, oder ich bring dich um. Loslassen, verdammt noch mal!«

Keller war so außer sich, dass er alle Vorsicht fahren ließ und zuerst in den Käfig kletterte. Da er inzwischen zu schwach war, um die Frau mit einer fließenden Bewegung in den Käfig zu heben, zog er sie nun Stück für Stück hinein. Immer noch riss er an ihrem Haar, als würde er eine alte, schwere Truhe in einem Zimmer verrücken. Dass sich dabei Fetzen ihrer Kopfhaut ablösten, entging ihm in seinem Rausch. Kaum hatte er sie halb durch die Öffnung gezerrt, klammerte sie sich mit beiden Händen an die Gitterstäbe zu beiden Seiten der Tür, die Augen zusammengekniffen gegen den glühenden Schmerz am Kopf.

»Da geh ich nicht rein! Niemals!«, kreischte sie so hoch und schrill, dass ihre Worte kaum zu verstehen waren. »Nein! Nein! Nein!«, schrie sie, während er weiter an ihrem Haar riss. Doch je unerträglicher der Schmerz wurde, desto fester krallte sie die Finger um die Stäbe. Ihre Knöchel traten weiß hervor. Die Furcht, für immer in diesem Verlies zu hocken, verlieh ihrem Überlebenstrieb neue Kraft.

Seine Kräfte indes ließen nach. Doch plötzlich entsann er sich des Elektroschockers, den er immer noch in der Hosentasche trug. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Frau zumindest mit dem Oberkörper im Käfig steckte, ließ er ihr Haar los. Er spürte sofort, wie sie ihn zur Öffnung zog. Inzwischen war sie stärker als er. Zoll für Zoll rutschten sie aus dem Käfig. Hastig griff er in die Hosentasche, umklammerte den Plastikgriff des Schockers und spürte trotz seiner Panik aufwallende Erleichterung. Mit einem Ruck zog er die Waffe und presste sie der Frau seitlich an den Hals. Beinahe euphorisch betätigte er den Abzugshebel und beobachtete, wie die Stromstöße heftige Konvulsionen auslösten. Länger als nötig traktierte er sein Opfer, das hilflos heftigen Zuckungen ausgesetzt war. Als er den Elektroschocker schließlich wieder in der Tasche verschwinden ließ, wusste er, dass jeglicher Widerstand gebrochen war. Mit letzter Kraft umfasste er die Schultern der Frau und zerrte sie zurück in den Käfig.

Im Innern des Gefängnisses sank er vor Erschöpfung zusammen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Schließlich aber stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht, und er lachte leise in sich hinein. Doch als er die Frau, die hilflos vor ihm lag, länger betrachtete, verwandelte sich das Lachen in Schluchzer. Er blinzelte die Tränen fort und streckte die Hand nach dem unkontrolliert zuckenden Körper aus. Sanft strich er ihr übers Haar. »Sieh nur, was sie dir antun«, flüsterte er. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz im eigenen Gesicht. »Sieh nur, wozu sie dich wieder getrieben haben, Sam. Sie wollen einen Keil zwischen uns treiben, wie früher schon. Das werden sie immer wieder versuchen. Aber ich lasse nicht zu, dass sie dich mir wegnehmen. Nein, sie werden nicht mehr an dich herankommen.« Sie bewegte die Lippen, aber er verstand die Flüche nicht, die sie ihm entgegenschleudern wollte. »Ruh dich aus«, sagte er. »Du musst dich erholen.«

Langsam kroch er zur Öffnung des Käfigs, kletterte hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Dann streckte er sich, sog tief die Luft ein und schleppte sich entkräftet, mit schmerzenden Muskeln, die Stufen hinauf. Weit oben lockte ein verheißungsvolles Fenster aus strahlendem Licht. Doch jede Stufe war eine Qual und steil wie ein Berg. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als er die kühle Frühlingsluft im Gesicht spürte und ins Freie taumelte. Mechanisch brachte er das Vorhängeschloss an und bahnte sich dann langsam und bedächtig seinen Weg quer über den Hof.

Überwältigt von Kummer und Verlust, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Als er es bis zu seiner hässlichen kleinen Hütte geschafft hatte, sank er auf die Knie und kroch über den Küchenfußboden zum Schrank, nahm die Schrotflinte und schob sich den Lauf zwischen die Zähne in den Mund. Mit dem Daumen tastete er nach dem Abzug und versuchte, die schrecklichen Laute zu kontrollieren, die ihm tief aus der Kehle drangen. Fest biss er auf die Läufe und wollte abdrücken, aber die Mechanik gehorchte nicht. Ein hohler Schrei entrang sich seiner Kehle, und seine Worte wurden zu einem unverständlichen Brabbeln, da die Metallläufe seiner Zunge keinen Spielraum ließen. Der Sinngehalt seines Gestammels hallte in seinem Kopf wider. »Bitte, ich kann das nicht mehr aushalten. Ich will, dass es endet«, flehte er zu sich selbst. »Tu es doch endlich, du verdammter Feigling!«

Aber er konnte es nicht, noch nicht. Sosehr er sich auch wünschte, sich das Leben zu nehmen, tief in seiner zerrissenen Seele war er nicht bereit dafür. Er wollte es nicht auf diese Weise enden lassen. Erst sollten sie noch leiden. Sie alle sollten wissen, dass er die Macht besaß, das Leben all derer zu zerschmettern, die ihn gedemütigt hatten. Ja, sie alle würden für das bezahlen, was sie ihm angetan hatten, in all den Jahren, als er allein im Labyrinth aus Waisenhäusern und großen, anonymen Londoner Schulen überleben musste, bedrängt von den Stärkeren, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Mitschüler, die ihn wie einen Aussätzigen behandelten.

Langsam löste sein Daumen sich vom Abzug. Die doppelläufige Flinte glitt ihm aus dem Mund, die Mündungslöcher nass und glänzend von Speichel und Tränen. Nachdem er die Waffe gesichert hatte, schleuderte er sie durch die Küche und sah, dass sie erst unter dem Tisch liegen blieb. Dann vergrub er sein Gesicht in den Händen und sank zu Boden, wo er wie ein Kind auf einer Seite lag und schluchzte, überwältigt von Emotionen, die er weder verstehen noch kontrollieren konnte.

Einige Zeit später, inmitten tiefster Selbstverachtung, nahm er eine Hand vom Gesicht und fuhr sich über den zitternden Körper. Seine Finger tasteten sich bis zum Bund der Hose vor, schlüpften in die Unterhose, schlossen sich um das verkümmerte Geschlecht. Langsam erwachte es zwischen seinen Fingern und schwoll an, während er die Hand schnell auf und ab bewegte. Bildfetzen von den Frauen in den Käfigen blitzten vor seinem geistigen Auge auf – ihre vollen Lippen, ihre Haut, die Brüste, die dunklen Dreiecke ihrer Scham … ihr weiblicher Duft. Sein Schluchzen wich lustvollem Stöhnen, als die Bilder sich mit anderen Szenen in seinem Kopf vermischten. Alles war inspiriert vom Text seines Lieblingssongs. Von der Story eines geschmähten Jungen, der blutige Rache nahm.