13.
Es war kurz vor halb sieben am Sonntagmorgen. Anna war bereits wach und hatte geduscht. Sie saß auf der Bettkante und entrollte die Strumpfhose an ihren Beinen, während ihr Mann ihr aus müden Augen zuschaute. Noch nie hatte er sie so erschöpft gesehen, nicht in all den Jahren. »Bin froh, wenn das vorbei ist«, murmelte er. »Halb sieben am Sonntagmorgen – was ist nur los mit diesen Leuten? Wissen die nicht mehr, dass heute ein Tag der Ruhe ist?«
»Ich fürchte, die haben keine große Wahl«, erwiderte Anna und kam sich zum ersten Mal ein bisschen wie ein Cop vor, der sich nicht an die Regeln des normalen Alltags hält.
»Musst du schon los?«
»Sorry, Charlie.« Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Die Pflicht ruft.«
»Komm doch heute mal ein bisschen früher nach Hause«, bat er. »Wäre schön, dich an diesem Wochenende zu Gesicht zu bekommen.«
»Im Augenblick kann ich überhaupt keine Versprechungen machen«, meinte sie. »Ich bin zurück, sobald es geht.«
Charlie Temple stützte sich auf einen Ellbogen und griff nach der Zigarettenschachtel neben dem Bett, klopfte eine heraus und zündete sie mit einem vergoldeten Feuerzeug an.
»Verdammt, Charlie«, schimpfte Anna. »Musst du im Bett rauchen? Musst du überhaupt im Haus rauchen? Jetzt stinken meine Klamotten nach Qualm.«
»Dann riechst du wahrscheinlich wie die anderen«, frotzelte er. »Wie ein richtiger Cop … ein echter Detective.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, fuhr sie ihn an.
»Nichts.« Er grinste. »Außerdem rauche ich nur am Wochenende.«
»Du solltest überhaupt nicht rauchen – schließlich bist du Arzt«, rief sie ihm in Erinnerung.
Er zuckte nur die Schultern. »Ich stelle fest«, sagte er, »dass du ganz vernarrt bist in deine kleinen Polizei-Kumpel. Irgendwas muss dein Interesse geweckt haben, wenn du sonntagsmorgens nach Peckham fährst.«
»Ich muss arbeiten, schon vergessen?«, entgegnete sie spitz.
»Wirklich?« In seiner Stimme lag gespielter Argwohn.
»Ja, stell dir vor. Was denkst du denn?«
»Hätte ja sein können, dass du dem Charme dieses Detective Inspector verfallen bist. Typ Raubein, du weißt schon.«
»Er heißt Sean Corrigan, und er ist weder charmant noch ein Raubein.«
»Aber du magst ihn trotzdem, oder?«
»Das ist nicht dein Ernst.« Sie lachte. »Auf mich wartet Arbeit, mehr nicht.«
Gelangweilt von seinem kleinen Spielchen, machte Charlie eine herablassende Geste mit der Hand, in der er die Zigarette hielt. »Wie auch immer. Beeil dich und hilf den Bullen, endlich diesen kranken Typen zu schnappen, damit wir wieder in unser altes Leben zurückfinden.«
Es ärgerte Anna, dass er immer nur halb hinhörte, wenn sie von ihrem Job erzählte. »Du denkst, ich helfe der Polizei, den Täter zu fassen?«
»Tut du das etwa nicht?«, fragte er verdutzt.
»Zum Teil«, räumte sie ein. »Aber so einfach ist das nicht. Na, egal, ich muss los.«
»Pass auf, dass es dich nicht einholt«, warnte er sie, ohne groß über seine Worte nachzudenken. »Sei einfach wie die Cops, blende alles aus.«
»Denkst du, so ein Fall geht spurlos an den Detectives vorbei? Sie bekommen mit, wie junge Menschen aus dem Leben gerissen werden. Sie müssen es den Familien der Opfer beibringen. Glaubst du, die machen einfach so weiter wie immer? Als wäre nichts gewesen? Glaubst du wirklich, die lassen das alles einfach an sich abprallen?«
»Jetzt erzähl mir nicht, du bist schon so wie die, Detective Chief Inspector Ravenni-Ceron.«
»Nein, bin ich nicht«, antwortete sie. »Ich könnte nie einer von ihnen sein. Selbst wenn ich zehn Jahre dort arbeitete, würde ich nie richtig dazugehören. Dafür müsste ich Polizeibeamtin werden. Für Außenstehende sind sie eine eingeschworene Truppe. So arbeiten sie nun mal, für sich.«
»Aber du bewunderst sie, oder nicht?« Es klang fast wie ein Vorwurf. Als käme Bewunderung für andere einem Verrat an der eigenen eingefahrenen Lebensweise gleich.
»Natürlich bewundere ich sie auch«, gab Anna zurück. »Wenn du sehen würdest, womit die sich abgeben müssen und wie hart sie ackern. Da gibt es keinen Achtstundentag. Die arbeiten so lange, wie der Fall es gerade erfordert, schlafen schlecht, gönnen sich keine Pause. Und trotzdem beißen sie sich durch, ohne dass jemand sich bei ihnen bedankt. Im Gegenteil, sie müssen damit rechnen, für alles, was in der Welt falsch läuft, verantwortlich gemacht zu werden. Dabei geben sie ihr Bestes.«
»Lass dich nicht zu sehr von deinem neuen Freund vereinnahmen, Anna«, warnte Charlie. »Du bist denen nur vorübergehend zugeteilt. Und wie du schon sagtest, du wirst sowieso nie eine von ihnen.«
»Wenn du glaubst, ich lasse mich vereinnahmen, liegst du falsch. Ich will genau wie du, dass der Fall schnellstmöglich abgeschlossen wird. Aber erst muss ich wissen, warum ich da bin und was ich herausfinden werde.«
»Und was wäre das?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Anna zog ihr Jackett an. »Jedenfalls nicht mehr.«
*
Corrigan stieß die Schwingtüren zum Bürotrakt auf und sah, dass noch niemand erschienen war. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach halb sieben am Morgen. Das Büro sah chaotisch aus: Auf den Schreibtischen standen schmutzige Teller und Kaffeetassen, von denen die meisten noch halb voll waren. Die Mülleimer quollen über vor Plastikbechern, Sandwich-Schachteln und zerknülltem Papier, das eigentlich in den Schredder gehörte. Die Ermittler waren inzwischen so groggy, dass ihnen fast alles egal war. Corrigan seufzte. Heute war Sonntag; die Reinigungskräfte würden erst morgen früh wieder ihre Runden drehen. Also würde alles noch mehr verdrecken. Corrigan kam nicht umhin, Parallelen zwischen diesem Saustall von Büro und dem Stand der Ermittlungen zu ziehen.
Sonntag. Er hatte immer schon befürchtet, dass an einem Sonntag etwas Schlimmes passierte. An diesem Morgen war es nicht anders. In seiner Kindheit hatte der Sonntag bedeutet, dass sein Vater zu Hause war. Er trank zu viel und nahm ihn an der Hand mit nach oben, fort vom Rest der Familie. Seine Mutter verschloss die Augen vor der Realität.
Energisch drängte Corrigan die Erinnerungen beiseite, durchquerte den Besprechungsraum und betrat sein Büro. Achtlos warf er den Inhalt seiner Manteltaschen auf den Schreibtisch und hängte den Regenmantel an einen der Haken an der Tür. Er überlegte, ob er sich auf den unbequemen Schreibtischstuhl setzen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es war besser, in Bewegung zu bleiben oder zumindest am Fenster zu stehen. Trotz der wenigen Stunden Schlaf fühlte er sich einigermaßen fit, aber wenn er sich jetzt auf seinen Stuhl setzte, würde die Müdigkeit wie eine Woge über ihn hinwegrollen und seinem Körper Schlaf und Ruhe in Aussicht stellen. Dazu durfte er es nicht kommen lassen.
In Ermangelung von schwarzem Kaffee kramte er in den Schreibtischschubladen nach den Koffeintabletten, schob Packungen mit Ibuprofen, Paracetamol und Verdauungsdragees beiseite, bis er fand, wonach er suchte. Er drückte zwei Tabletten aus der Blisterpackung und schluckte sie ohne einen Schluck Wasser. Dann nahm er noch eine, ohne die Packungsbeilage zu konsultieren. »Ich werde zu alt für so was«, murmelte er, schob die Papierstapel auf seinem Schreibtisch von der einen auf die andere Seite und wartete, dass die Tabletten ihre Wirkung entfalteten und seinen Geist beflügelten, damit er endlich anfangen könnte, die schier endlosen Berichte durchzugehen. Die Erinnerung an den unruhigen Schlaf der letzten Stunden verblasste. Er hatte Bäume in der Dunkelheit gesehen; Blätter raschelten im Wind, und der gesichtslose Mann mit der Kapuze beugte sich über die halbnackte Louise Russell – Bildfetzen der Nacht, die ihn auch während des Tages nicht verschonen würden, wie er wusste.
Als er sich im Büro umschaute, fiel sein Blick auf ein Foto von Louise Russell, das an der Weißtafel hing. Ihre grünen Augen waren auf ihn gerichtet und flehten ihn regelrecht an, sie endlich zu finden … zu retten. Unwillkürlich trat er an die Tafel, streckte die Hand nach dem Bild aus und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen ihres Gesichts nach. Doch er wich zurück, als Bilder vom Tatort vor seinem geistigen Auge aufblitzten … von einem Tatort, den es seines Wissens noch gar nicht gab. Die grünen Augen starrten ihn immer noch an, doch nun war kein Flehen mehr in ihrem Blick, nur eine stumme Anklage. »Bist du noch am Leben?«, flüsterte Corrigan. »Oder komme ich zu spät?«
Als er die Schwingtüren hörte, löste er den Blick vom Foto. Sally kam ins Großraumbüro. Sie nickten einander durch die Plexiglasscheibe zu. Corrigan beobachtete, wie Sally routinemäßig ihre Taschen leerte, ehe sie ihre Jacke aufhängte, genau wie er zuvor. Er ging zur Tür zum Bürotrakt und blieb auf der Schwelle stehen. »Wie läuft’s?«, fragte er.
»Na ja, es ist noch keine sieben Uhr, es ist Sonntag, mir brennen die Augen, die Füße tun mir weh, und ich muss arbeiten … ansonsten geht’s mir gut. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Nicht viel anders.« Er brachte kein Lächeln zustande.
»Irgendetwas Neues in Sachen Louise Russell?«
Corrigan wusste, worauf Sally abzielte. Hatte man eine Leiche gefunden, oder gab es noch Hoffnung? »Mich hat bislang keiner angerufen, daher vermute ich, dass sich nichts getan hat.«
»Es ist Sonntag, vergessen wir das nicht«, sagte Sally. »Die Leute führen ihre Hunde später aus als sonst. Wahrscheinlich werden wir vor neun Uhr nichts hören.«
Corrigan nickte. »Uns müsste noch ein Tag bleiben«, meinte er, »vorausgesetzt, er hält sich an seinen Sieben-Tage-Zyklus.« Worte voller Hoffnung. Doch Corrigan glaubte selbst nicht mehr daran. Die Angst, dass der Killer sich in eine unkontrollierte Spirale der Gewalt hineinsteigerte, dämpfte seinen Optimismus.
Corrigan verschwand wieder in seinem Büro. Sally hatte recht – sie mussten bis neun Uhr warten. Hatte sich bis dahin nichts getan, blieb ihnen womöglich noch ein Tag. Louise Russell musste neun Uhr überleben. Hatte man ihre Leiche bis dahin nicht gefunden, hatte sie noch eine Chance. Dann blieben ihnen noch vierundzwanzig Stunden, um Louise zu finden. Aber selbst das reichte nicht, um die Herausgabenordnung zu bekommen und die Personalakten des Briefzentrums durchzugehen. Corrigan brauchte an diesem Tag einen Durchbruch – etwas Handfestes, das die Backsteinmauer zwischen ihm und dem Wahnsinnigen zum Einsturz brachte.
Verzweifelt griff er nach einem Stuhl, zog ihn an den Computertisch, rief noch einmal die Verbrecherdatenbank auf und tippte die Begriffe ein, die er bereits bei der ersten Suche eingegeben hatte. »Ich weiß, dass du der Frau nachgestellt hast, für die du jetzt Ersatz brauchst«, murmelte er dabei. »Es kann nicht anders sein. Du hast sie beobachtet. Du kennst sie, und sie kennt dich. Sie war keine Fremde, für die du plötzlich entbrannt bist. Sie hat dich akzeptiert, aber dann geschah irgendetwas, und sie wurde dir genommen. Aber was ist geschehen? Ich weiß, dass ich recht habe«, munterte er sich auf. »Ich weiß es.«
Er gab die Details in die Suchmaske ein, die auf einen Stalker und eine Frau passten – auf die Beschreibung einer jungen Frau, die äußerlich den Entführungsopfern ähnelte. Dann drückte er auf »Search« und wartete gespannt auf die Suchergebnisse. »Ich irre mich nicht«, sagte er leise zu sich selbst. »Ich habe nur etwas übersehen.«
Nach ein paar Sekunden öffnete sich auf dem Bildschirm die Seite mit den Ergebnissen.
no results
»Scheiße«, fluchte er so laut, dass Sally den Kopf in seine Richtung drehte.
Unwillkürlich kam ihm die Unterhaltung mit Kate ins Gedächtnis.
… würde ich davon ausgehen, irgendetwas übersehen zu haben. Ich würde mir die gesamte Akte noch einmal vornehmen und überprüfen, ob mir bei der Medikation etwas durchgegangen ist.
Und wenn du nichts übersehen hast? Was dann?
Dann würde der Patient sterben …
Wieder versuchte er es. Diesmal erweiterte er die Altersgruppe des Opfers um ein paar Jahre.
no results
Er änderte die Haarlänge des Opfers – vielleicht hatte er sie anders in Erinnerung gehabt.
no results
Er änderte die Größe der Frau – keine Ergebnisse. Er ließ die Augenfarbe offen – keine Ergebnisse. Sosehr er sich auch bemühte, auf dem Schirm erschien immer nur die Meldung no results.
Als irgendwo im großen Bürotrakt ein Telefon klingelte, fühlte Corrigan sich gestört, auch wenn er andere Geräusche zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Ruckartig schaute er zur Uhr an der Wand – fast acht. Verdammt, seit einer Stunde durchforstete er nun schon die Datenbank und hatte gar nicht gemerkt, dass nach und nach die Detectives eingetroffen waren und sich unterhielten, die einen leiser, die anderen lauter. Sein Blick fiel auf Donnelly, der mit einem Kollegen scherzte, dann auf Sally, die nach dem Hörer griff. Ihre Bewegungen wirkten ungewöhnlich langsam, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Er beobachtete, wie sie angestrengt lauschte, las ihr von ihren Lippen ab, als sie sagte: »Wo?« Dann kritzelte sie etwas auf einen Block, legte auf und erhob sich. Sie machte sich direkt auf den Weg in sein Büro, den Blick gesenkt.
Im Stillen verfluchte er Sally, dass sie mit dem Zettel in der Hand in sein Büro kam. Er verfluchte sie, dass sie das Telefonat entgegengenommen hatte … er hasste es, was sie ihm jeden Moment erzählen würde.
Als sie sein Büro betrat, blickte sie ihm direkt in die Augen. »Es tut mir leid«, war alles, was sie sagte.
Corrigan hatte das Gefühl, in sich zusammenzuschrumpfen. Die Unausweichlichkeit dieser wenigen Worte versetzte ihm einen mörderischen Schlag. Allmählich verlor er den Glauben an sich selbst, an seine Fähigkeiten.
Der Wahnsinnige hatte Louise Russell ermordet, aber ihr Blut klebte für immer an Corrigans Händen, und ihre toten grünen Augen würden ihn in seinen Träumen heimsuchen.
*
Er war erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gegangen. Die Ereignisse der langen Nacht hatten ihn aufgewühlt; trotzdem schlief er tief und fest. Doch als das Licht des frühen Morgens durch die dünnen Jalousien fiel, die vor den Fenstern seines Hauses hingen, wurde sein Schlaf immer unruhiger – der tiefe Schlaf des Vergessens wich einem rastlosen Halbschlaf, in den sich wieder einmal Albträume drängten.
Er war noch sehr jung, vielleicht sieben oder acht, doch er gehörte schon zu den Veteranen des Waisenhauses in Penge im Südosten Londons. Andere Kinder waren gekommen und gegangen, doch er blieb. Es war ein Sonntag. An diesem Tag kamen wieder die Erwachsenen und sahen sich im Heim um. Sie sprachen mit einigen Kindern, durften sie sogar für ein paar Stunden mitnehmen und kauften ihnen dann Eis oder Süßigkeiten. Manchmal durften die Kinder über Nacht bei fremden Familien bleiben, manchmal sogar zwei, drei Tage; dann kamen sie vielleicht für immer in ein neues Zuhause. Die jüngeren Kinder wurden meist schnell vermittelt. Die anderen aber, vor allem die Teenager, hatten kaum eine Chance, je aus dem Heim herauszukommen. Es hieß: Wer mit zehn Jahren noch im Waisenhaus hockte, würde auf ewig dort versauern.
Eine ganze Weile schon hatte Thomas Keller das Heim nicht mehr verlassen, nicht mal für einen Tagesausflug. Kein Eis, keine Besuche in normalen Familien. Nicht seit dem letzten Ausflug. Zuvor schon hatte es Bedenken gegeben, denn es war zu Zwischenfällen gekommen. Zunächst wusste niemand so recht, ob man Thomas überhaupt verantwortlich machen konnte für das, was geschehen war. Niemand traute sich über die Konsequenzen nachzudenken, falls er wirklich verantwortlich war; kaum jemand machte sich Gedanken darüber, was das bedeutete. Für ihn. Für Thomas Keller.
Zuerst vermissten die Kinder aus der Familie, bei der er zu Besuch sein durfte, Spielzeug und andere kleinere Dinge. Niemand wollte großes Aufhebens um die Sache machen, denn im Grunde war es ja verständlich: die Kinderzimmer quollen über vor Spielzeug, doch Thomas, das Heimkind, hatte so gut wie nichts. Niemand hatte die Absicht, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, aber sie wollten auch nicht, dass er noch einmal zu ihnen zu Besuch kam.
Dann aber ging es nicht mehr nur um Spielzeug allgemein, es ging um die Lieblingskuscheltiere und Puppen, die die Kinder in den Familien ins Herz geschlossen hatten. Einige dieser Spielsachen tauchten wieder auf, andere nicht. Aber die Kuscheltiere, die plötzlich wieder da waren, sahen schrecklich aus: Jemand hatte ihnen mit einem scharfen Gegenstand den Bauch aufgeschlitzt, das Füllmaterial herausgerissen und die Gliedmaßen verstümmelt. Trotzdem wollte niemand Wirbel um die Sache machen, denn das Heimkind war wütend und eifersüchtig; da war es nur verständlich, dass es sich ein wenig anders verhielt als die normalen Kinder. Wenn man bedachte, was der Junge alles durchgemacht hatte … dennoch, sie wollten nicht mehr, dass er zu Besuch kam.
Aber damit hörte es nicht auf. Je älter er wurde, desto forscher wurde er. Die Haustiere der Leute, bei denen er zu Besuch war, wurden Ziel seiner Attacken. Plötzlich schwammen die tropischen Fische oben im Aquarium, weil jemand Bleichmittel ins Wasser gekippt hatte. Hamster und Wüstenrennmäuse waren nicht mehr in ihren Käfigen. Später fand man die Kadaver der Tiere irgendwo verscharrt im Garten. Wieder konnte niemand mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Thomas dafür verantwortlich war. Aber der Argwohn nahm zu. Besonders an dem Tag, als die Katze einer Familie nirgends aufzufinden war. Später fand man sie. Jemand hatte ihr eine Drahtschlinge um den Hals gelegt und das Tier an einem Ast im Garten aufgeknüpft. Die Augen waren hervorgequollen, die Zunge hing aus dem Maul. Rasch suchte man nach Thomas und entdeckte ihn im Garten des Nachbarn. Dort hockte er stumm auf dem Rasen und war nicht ansprechbar, aber die frischen Kratzer auf seinen Handrücken verrieten alles – die Katze hatte ihren Mörder gezeichnet.
Einige Betreuer im Heim waren der Ansicht, eine rote Linie sei überschritten worden. Thomas Keller sollte nie wieder zu Gast bei einer fremden Familie sein. Andere vertraten die Ansicht, es sei die Pflicht des Heims, auch diesem Jungen noch eine Chance zu geben. Man sollte allerdings keine Familien mehr in Betracht ziehen, die Haustiere hatten. Widerstrebend gaben die Zweifler nach.
Ein paar Wochen später war Thomas zu Gast bei einer sehr christlich orientierten Familie, die fest davon überzeugt war, dass vor Gottes Angesicht alle Kinder gerettet werden konnten. Sie hatten ihn von Anfang an genau im Auge behalten, da man sie vorab gewarnt hatte. Aber irgendwie war es ihm gelungen, sich unbemerkt davonzustehlen. Die Eltern der Familie machten sich zwar Sorgen, bewahrten zunächst aber Ruhe. Doch dann merkten sie, dass auch die fünfjährige Tochter verschwunden war. Sie hatte allein in ihrem Zimmer mit ihren Puppen gespielt, nun wurde sie vermisst. Die Mutter reagierte hysterisch und wollte sofort die Polizei rufen, aber der Vater blieb besonnen und meinte, er werde in Ruhe nach den Kindern Ausschau halten. Im Haus keine Spur von dem Gast und der kleinen Tochter. Auch im Garten und in der Garage konnte der Vater sie nirgends finden. Also lief er durch die Gasse, die sich entlang der Gärten zog. Und dort fand er die Kinder – in einem Schuppen im Garten eines Nachbarn. Seine fünfjährige Tochter stand splitternackt da und weinte, während Thomas Keller sich unmittelbar vor ihr aufgebaut hatte. Er hatte sich die Hose und Unterhose bis über die Knie gestreift und hielt die Andeutung einer Erektion in der einen Hand, während er das kleine Mädchen mit einem Messer bedrohte.
Außer sich vor Wut ging der Vater dazwischen und schlug Thomas zu Boden. »Du kranker kleiner Mistkerl! Ich werde dir eine Lektion erteilen, die du so schnell nicht vergisst!« Er zog den Ledergürtel aus den Schlaufen seiner Hose, packte ihn an der Schnalle und ließ ihn wie eine Peitsche durch die Luft knallen. Thomas sah, wie der große Mann die Schuppentür zudrückte und zum ersten Hieb ausholte.
Was dann folgte, war ihm in der Tat eine Lektion gewesen, die er nie vergessen sollte. Spätestens an diesem Tag hatte er gelernt, dass er allein war und immer auf sich gestellt sein würde.
Nach diesem Vorfall hatte Thomas nie wieder bei einer fremden Familie zu Gast sein dürfen.
*
Corrigan und Sally fuhren über den unbefestigten Weg in Elmstead Woods, unmittelbar an der Grenze zwischen der Grafschaft Kent und London. Seit sie die Peckham Police Station verlassen hatten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Als Corrigan zwei Streifenwagen entdeckte, wusste er, dass sie richtig abgebogen waren. Ein langes, blau-weiß gestreiftes Flatterband sperrte die schmale Straße für den normalen Verkehr ab.
Corrigan parkte hinter den Dienstwagen. Fast synchron stiegen er und Sally aus. Einer der Beamten, der sich wegen der Kälte des Morgens ein wenig im Streifenwagen aufgewärmt hatte, stieg ebenfalls aus und kam auf Corrigan zu.
Der hielt ihm seinen Ausweis hin. »Detective Inspector Corrigan.« Er deutete mit einem Nicken auf Sally. »Und das ist Detective Sergeant Jones. Warum haben Sie gleich die ganze Zufahrtsstraße abgesperrt?« Dass der Wald abgesperrt wurde, war zu erwarten, aber die Straße …?
»Reifenspuren«, erklärte der Polizist. »Sieht ganz danach aus, als hätte er am Straßenrand geparkt, dort, wo der Untergrund weicher ist. Hat ziemlich gute Spuren hinterlassen, auch Fußabdrücke. Zwei Personen, nach jetzigem Ermittlungsstand. Eine trug Turnschuhe, die andere …«
Corrigan unterbrach ihn. »… war barfuß.« Er sah, dass der Beamte ihn verdutzt ansah. »Das letzte Opfer war ebenfalls barfuß. Deshalb.«
Der Polizist schwieg, aber seine Miene sprach Bände.
Als Corrigan sich umschaute und die Atmosphäre des Waldes in sich aufnahm, spürte er, dass der Wahnsinnige hier gewesen war. Dieser Ort stank regelrecht nach ihm. Genauso gut hätten sie jetzt auf der Lichtung sein können, auf der Karen Green ermordet worden war. Die beiden Tatorte ähnelten einander so sehr, dass man sie kaum unterscheiden konnte. »Wer hat sie gefunden?«, erkundigte er sich. »Wieder jemand, der mit seinem Hund unterwegs war?«
»Nein«, erwiderte der Beamte. »Zu früh für Hundebesitzer. Die Leiche wurde von einem Ornithologen gefunden, der in aller Frühe nach Bachstelzen Ausschau gehalten hat. Sagt er zumindest. Offenbar ist jetzt die richtige Saison dafür.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Corrigan abwesend. »Kam Ihnen der Mann verdächtig vor?«
»Da fragen Sie den Falschen, Sir. Ich habe nicht mit dem Zeugen gesprochen. Das waren die Kollegen hier vor Ort. Sie haben ihn längst mit auf die Wache genommen.«
»Verstehe«, sagte Corrigan, aber die Worte des Mannes interessierten ihn gar nicht. Er hielt sich nur an die Frage-und-Antwort-Routine, die die Polizisten erwarteten. Er wusste, dass der Killer die Leiche nicht selbst der Polizei gemeldet hatte, etwa in einem Anflug von Selbstvernichtung. So war der Bastard nicht gestrickt. Er hatte sich längst wieder in seinem Loch verkrochen und träumte von seiner Tat. Wahrscheinlich plante er in seiner kranken Fantasie weitere Verbrechen für die Zukunft.
Corrigan betrachtete die Reifenspuren am Wegesrand, die der Polizist erwähnt hatte. Er sah auch die Fußspuren, die im Grasstreifen verschwanden und zweifellos tiefer in das Waldstück führten. Jenseits des Waldsaums konnte er nichts erkennen, aber in seinem Geist sah er alles – der Wahnsinnige ging hinter Louise Russell her und trieb sie dem Tod in die Arme. Ab und zu stieß er ihr in den Rücken, wenn sie ihm zu langsam ging.
»Chef«, wandte Sally sich an Corrigan, aber der hörte sie nicht. »Sean«, sagte sie lauter.
»Sorry, was ist?«
»Alles okay?«
»Alles in Ordnung«, log er. »Wie geht es Ihnen?«
Sie zuckte die Schultern, aber er sah, wie angespannt sie war. Sally war zum ersten Mal seit Langem wieder an einem Tatort, an dem die Leiche noch unverändert lag. Da Sally selbst beinahe zum Mordopfer geworden wäre, ahnte Corrigan, was ihr durch den Kopf gehen würde, wenn sie Louise Russell tot im Wald sah. Das hätte ich sein können, würde sie beim Anblick der Leiche denken.
»Sie brauchen nicht mitzukommen, Sally«, sagte er. »Ich kann allein zum Tatort. Sie warten hier oder schauen sich im näheren Umkreis um. Vielleicht finden Sie etwas, das uns weiterhilft.«
Sally atmete tief durch die Nase ein und wünschte, sie hätte eine Zigarette zur Hand. »Nein«, sagte sie. »Ich glaube, ich muss das tun.«
»Also gut«, willigte er ein und wandte sich wieder an den Polizisten, der den Tatort abriegelte. »Gibt es noch einen Weg zum Opfer?«
»Sicher. Einfach unter dem Band durch, dann ein paar Meter parallel zur Straße. Dort folgen Sie dem Band in den Wald hinein. Sie können die Stelle nicht verfehlen.«
Es hörte sich an, als wollte der Beamte einem Motorradfahrer den Weg erklären, aber Corrigan bewunderte ihn für die Professionalität. Denn es war keine schlechte Idee, am Tatort einfach dem blau-weiß gestreiften Flatterband zu folgen. Die Forensiker würden es auch nicht anders machen.
Corrigan vergewisserte sich ein letztes Mal, wo genau die Fußabdrücke am Wegesrand in und aus dem Wald führten. Die Abdrücke der bloßen Füße hingegen zeigten nur in eine Richtung. Auf dem Rückweg schien der Mörder denselben Weg genommen zu haben wie zuvor. Daher brauchte die Spurensicherung sich nur auf eine Strecke zu konzentrieren. Es bedeutete auch, dass der Killer den Weg des geringsten Widerstands genommen hatte, sowohl vor als auch nach der Tat. Wie es schien, war diesem Mann das Vertraute wichtiger als das Verwischen forensischer Indizien.
Corrigan ging an den Streifenwagen vorbei, tauchte unter dem Absperrband hindurch und hielt es für Sally hoch wie ein Boxtrainer, der seinem Schützling in den Ring hilft. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis sie die Stelle erreichten, an der das Flatterband in den Wald abzweigte. Sie waren wie Hänsel und Gretel, die der Spur der Brotkrumen folgten. Immer tiefer ging es in das Waldstück. Die städtische Kleidung verhinderte ein schnelleres Vorankommen, denn ihre weiten Mäntel blieben an Dornen und Gestrüpp hängen, das nur auf sie gewartet zu haben schien und die Zweige nach ihnen ausstreckte. Mehrmals rutschten sie mit ihren glatten Sohlen auf dem feuchten Untergrund aus. Die Luft war frisch und würzig. Verschwörerisch raschelten die Blätter im Wind, wie Wellen, die über einen einsamen Strandabschnitt spülten. Ein unheimlicher Ort, zumal sie wussten, dass sie jeden Moment auf die Leiche stoßen konnten.
Sally knöpfte ihren Mantel auf, als sie sich dem Tatort näherten. »Wie weit mag es noch sein?«, fragte sie. Die Antwort war ihr nicht so wichtig; sie konnte nur das Schweigen nicht mehr ertragen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Corrigan aufrichtig und wünschte sich, er hätte denselben Weg wie der Killer nehmen können. Aber das durfte er nicht, der Spuren wegen. Im Grunde spielte es keine Rolle, welchen Weg sie tiefer in den Wald hinein nahmen, aber für Corrigan machte es einen Unterschied. Er war sicher, etwas Besonderes gespürt zu haben, hätte er genau in die Fußstapfen des Killers treten können. Er hätte dasselbe empfunden wie der Mörder, hätte genau das gesehen, was dieser Verrückte gesehen hatte.
Als Corrigan einen Zweig zur Seite drückte, unterschätzte er dessen Spannkraft, sodass der Zweig zurückschnellte und ihn im Gesicht traf. Er verspürte ein Brennen direkt unterhalb des linken Auges. »Bastard!«, rief er und hielt sich eine Hand vor die Wange. Als er die Hand wegnahm, sah er Blutspuren an seinen Fingern.
»Ist alles okay?« Sally ging hinter ihm.
Corrigan behielt das Schritttempo bei. »Ja.«
»Ich frage mich, wie Roddis und sein Team ihre forensische Ausrüstung durch dieses Dickicht tragen wollen.«
»Könnte sein, dass sie beim Forstamt klingeln müssen. Vielleicht muss ihnen jemand den Weg mit einer Kettensäge freimachen. Wenn es nicht anders geht.«
»Wird Roddis gar nicht schmecken«, meinte Sally. »Er lässt ja sonst niemanden an einen Tatort heran.«
»Soll unser Problem nicht sein«, murmelte Corrigan. Er hatte keine Lust an Geplauder, das ihn nur in seinen Gedanken störte. Er ging schneller und scherte sich nicht mehr darum, ob ihm Äste oder Zweige in die Quere kamen. Insgeheim hoffte er, Sally ein Stück abhängen zu können, damit er allein bei Louise Russell sein konnte. Er musste die Spuren, die der Täter hinterlassen hatte, in Ruhe und mit eigenen Augen analysieren. Aber Sally hielt mit ihm Schritt.
»Nett, dass die Kollegen uns vor dem Weg gewarnt haben«, bemerkte sie. »Hätte ich geahnt, dass meine Strumpfhose Laufmaschen kriegt, wäre ich im Wagen geblieben.«
Corrigan durchschaute Sallys Verhalten – sie gab sich locker und versuchte dadurch, ihre Angst zu bekämpfen. Immerhin schimmerte allmählich wieder die alte Sally durch. Vielleicht musste sie erst die Talsohle durchschreiten, ehe die alten Wunden verheilten.
»Die haben das schon ganz richtig gemacht«, sagte Corrigan und bahnte sich seinen Weg durch das Geäst. »Denn unser Täter hätte nie einen Weg genommen, der so beschwerlich ist.«
»Das wissen Sie?«
Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um und blickte ihr in die Augen. »Ja.« Mehr sagte er nicht. Schweigend sahen sie einander an, bis Corrigan sich abwandte und den Weg fortsetzte.
Sally wartete noch einen Moment, ehe auch sie weiterging. Sie beobachtete, wie Corrigan sich durch Sträucher kämpfte, die sich hinter ihm wieder zu einem schier unentwirrbaren Geflecht schlossen. Stellenweise konnte sie ihn gar nicht mehr sehen, als hätte er sich mit den Bäumen und Sträuchern verschworen, seine Kollegin abzuhängen. Zum ersten Mal nahm Sally die Vögel wahr, die ringsum zu hören waren. Amseln und Eichelhäher warnten die anderen Waldbewohner mit schrillen Rufen vor den Eindringlingen.
Sally wusste, dass Corrigan nicht auf die Vögel achtete, die das Eindringen in den Wald aus dunklen Augen verfolgten. Er hatte bereits einen ganz eigenen Weg eingeschlagen und versuchte, mit dem Geist des Mörders zu verschmelzen. So gelangte er an Orte, zu denen sie, Sally, keinen Zutritt hatte, wo sie nicht einmal erwünscht war. Also ließ sie Corrigan den Vorsprung, den er brauchte.
Jeder Schritt, den er machte und der ihn näher zu Louise Russell brachte, war ein Schritt in Richtung des Killers. Und bei jedem Schritt verwandelte Corrigan sich ein wenig, denn seine Gedanken verschmolzen immer mehr mit denen des Mörders. Er war ihm so nah. Corrigan spürte es, sah mit den Augen des Mörders.
Der Wald bei Nacht. Nur der Mond beleuchtet den schmalen Pfad. Äste und Ranken verfangen sich in seiner Kleidung und kratzen über die nackte Haut der Frau. Er ist ruhig, hat alles unter Kontrolle, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er weiß, was er zu tun hat, und wird weder von Zweifeln noch Gewissensbissen geplagt …
Auf einmal schienen sich die Geräusche des Waldes zu verändern. Das Zischeln der Blätter ging unter in fremdartigen Lauten, die an das Flattern kleiner Schwingen erinnerten, oder an hundert zerbrochene Lenkdrachen. Corrigan folgte dem Verlauf des Absperrbands, das ihn direkt zur Quelle jener seltsamen Laute führte.
Was mag sie empfunden haben?, fragte er sich. Sie war allein mit diesem Wahnsinnigen im dunklen Wald und wusste nicht, ob diese flatternden Geräusche von Menschen oder Tieren stammen.
Plötzlich fand Corrigan sich auf einer Lichtung wieder. Er blieb vorsichtig, bis er sicher sein konnte, dass die Geräusche, die ihn von allen Seiten bestürmten, keine Gefahr darstellten.
Als er sich umschaute, erkannte er, was diese merkwürdigen Laute erzeugt hatte: Dutzende leere Plastiktüten waren an Dornenhecken oder Zweigen hängen geblieben, blähten sich im Wind und flatterten wie überdimensionaler Christbaumschmuck, halb zerrissen und unheimlich. Im matten Mondschein hatte Louise Russell vermutlich nicht sehen können, dass harmlose, ausgediente Tüten die Begleitmusik zu ihrem Tod gespielt hatten.
»Heilige Scheiße«, sagte er laut. »Was musst du gedacht haben, als du dieses Rascheln gehört hast?«
Eine andere Stimme erinnerte ihn daran, dass er nicht allein war.
»Sean?«, rief Sally. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Alles in Ordnung, keine Sorge«, antwortete er. »Lassen Sie mir einen Moment Zeit.«
Er nahm den Blick von den Dornenhecken und schaute sich um. Und dann sah er sie, genau in der Mitte der Lichtung. Keine zwanzig Schritte entfernt. Hier und da war ihr Körper von Laub bedeckt, das der Wind über die Lichtung wehte. Die Ansammlung Laub unmittelbar an der Leiche verriet dem geübten Auge, aus welcher Richtung der Wind vorwiegend kam. Selbst auf die Entfernung sah Corrigan, dass sie halb auf der Seite lag. Sie hatte die Beine angezogen, und ihre blasse Haut zeichnete sich auf beinahe malerische Weise von den satten Brauntönen des Waldbodens und dem Grün des Moosteppichs ab, der ihr als weiches Totenbett diente. Langsam ließ Corrigan den Blick schweifen, bis er die Stelle sah, an der Täter und Opfer mit ziemlicher Sicherheit die Lichtung betreten hatten: eine Lücke zwischen den Bäumen. Der Weg des geringsten Widerstandes. Eine schmale Spur aus platt getretenem Gras und Moos verriet ihm, wie Louise Russells letzter Weg ausgesehen hatte. Unmittelbar vor ihm waren ebenfalls Spuren am Waldboden zu erkennen, offenbar von den Polizisten und dem Vogelkenner, der die Leiche entdeckt hatte. Kein Zweifel, der Ornithologe war regelrecht über die Tote gestolpert.
Corrigan überlegte, auf welchem Weg der Vogelkundler die Lichtung betreten haben könnte, und gelangte zu dem Schluss, dass er aus derselben Richtung gekommen war wie der Killer. Vielleicht war er an einer anderen Stelle in den Wald eingedrungen, aber an einem bestimmten Punkt hatten sich sein Weg und der des Mörders getroffen. Corrigan wusste jetzt schon, dass der Ornithologe seine Stiefel los war. Roddis würde sie einfordern und ins Labor schaffen lassen.
Schließlich bedeutete er Sally mit einer Handbewegung, dass sie die Lichtung betreten durfte. Kurz darauf hatte sie zum ihm aufgeschlossen. Corrigan ließ ihr Zeit, sich auf die Umgebung einzustellen, und wollte ihr das Sprechen überlassen. Tatsächlich ergriff sie nach kurzem Schweigen das Wort.
»Ich denke, wir sollten uns das aus der Nähe ansehen«, sagte sie auffallend leise, als wollte sie nicht aussprechen, was ihr durch den Kopf ging, aus Angst, er würde zustimmen. Corrigan schwieg und ging vorsichtig weiter hinaus auf die Lichtung, wobei er den Waldboden bei jedem Schritt inspizierte, stets auf der Suche nach den kleinsten Indizien. Er hielt Ausschau nach Spuren, die nicht von den beiden Beamten stammten, die vor ihm am Tatort gewesen waren, und versuchte, möglichst genau in den Fußspuren der Polizisten zu bleiben. Sally folgte ihm auf den Fersen. Als er noch etwa sieben, acht Schritte von der Leiche entfernt war, ging er in die Hocke und schaute hinüber zum starren Gesicht der Toten. Das kurze braune Haar fiel ihr in die Stirn. Die Augen waren halb geschlossen, der Mund stand offen, und die geschwollene Zunge lugte zwischen den blau angelaufenen Lippen hervor. Die Zähne waren nur zu erahnen. Die Tote war vollkommen nackt. An ihrem Körper waren zu viele Prellungen und Verletzungen, um sie zu zählen. Doch schon aus dieser Warte erkannte Corrigan, dass es sich bei manchen Verletzungen um jene kreisrunden Stellen handelte, die der Viehtreiber auf Karen Greens Körper hinterlassen hatte. Damit hatte er die Bestätigung, die er eigentlich gar nicht mehr brauchte: Es handelte sich um ein und denselben Killer.
»Ist sie es?« Sally ahnte die Antwort.
Corrigan blickte sie über die Schulter an. »Ja, das ist Louise Russell. Wir sind zu spät. Wir können nichts mehr für sie tun.«
Seinem Tonfall entnahm Sally, wie sehr er sich als Versager fühlte. »Das ist nicht Ihre Schuld, Sean.«
»Doch«, gab er scharf zurück. »Ich habe etwas übersehen. Wir stehen hier, weil ich etwas übersehen habe.«
Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn von dieser Meinung abzubringen. »Wir sollten gehen«, sagte sie. »Hier können wir nichts mehr tun. Wir bringen schlimmstenfalls den Tatort durcheinander.«
»Noch einen Augenblick«, wandte er ein. »Ich muss noch etwas überprüfen.«
»Roddis wird alles andere als begeistert sein«, warnte sie ihn und wollte am liebsten wieder zurück zum Rand der Lichtung. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, in den unmittelbaren Bannkreis der Toten zu treten.
»Es dauert nicht lange«, versicherte Corrigan ihr, während er die verbliebene Strecke zu Louise Russells Leiche überwand. Je näher er der Toten kam, desto schneller traten alle äußeren Einflüsse am Tatort in den Hintergrund. Die Stimmen der Vögel, das Rascheln der Blätter, das Flattern der Plastiktüten – alles ordnete sich dem dumpfen Dröhnen in seinem Kopf unter. Er zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche, streifte sie über und streckte die Hände nach dem Kopf der Toten aus. Sanft umschloss er ihr Kinn und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Die Verfärbungen und Striemen am Hals verrieten ihm, dass sie erwürgt worden war. Aber er musste wissen, was sich noch ereignet hatte.
»Was tun Sie da?«, flüsterte Sally in die Stille des Tatorts hinein, aber ihre Worte trafen bei Corrigan auf taube Ohren. Vorsichtig drehte er Louise Russells Kopf. Er spürte, dass die Leichenstarre eingesetzt hatte: Die Muskeln waren steif und ließen sich schlecht bewegen. Schließlich konnte er einen Blick auf ihr Hinterhaupt werfen. Mit einer Hand stützte er ihren Kopf, mit der anderen schob er vorsichtig ihr Haar beiseite und suchte nach einer Wunde – eine Verletzung wie die an Karen Greens Hinterkopf. Aber er fand keine von Blut verklebten Haare.
Langsam ließ Corrigan den Kopf der Toten zurücksinken. Das Rauschen in seinem Schädel wurde immer lauter. Stumm starrte er zu Boden.
Wieder ließ sich Sally vom Rande der Lichtung vernehmen, diesmal lauter. »Was ist?« Er hörte sie nicht. »Was haben Sie gefunden, Chef?«, wiederholte sie.
Corrigan schaute auf. Er wirkte wie in Trance. »Keine Kopfverletzung.« Seine Stimme klang verwundert. »Und er ist mindestens einen Tag zu früh. Er hätte sie noch gar nicht töten dürfen.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Dass er sich verändert. Sein Zyklus verkürzt sich. Aber es ist nicht nur das. Es hat sich noch etwas verändert …«
»Und was?«, fragte Sally gespannt.
»Als er Karen Green ermordete, bedeutete es ihm nichts. Der Mord an sich, meine ich. Alles, was vor dem Mord geschah, hat ihn zutiefst berührt. Aber nachdem er den Entschluss gefasst hatte, Karen zu ermorden, hat er sich ihrer entledigt wie … wie Müll. Als würde er etwas wegschmeißen, das nicht den geringsten Wert hat. Der Selbsterhalt war ihm wichtiger als die Erfahrung, einen Menschen zu töten. Deshalb hat er Karen zuerst den Schädel zertrümmert, ehe er sie würgte … zumindest hat er es sich so eingeredet. Er wollte sich selbst davon überzeugen, dass er nicht aus purer Lust am Morden tötete. Denn das hätte das Bild verzerrt, das er von sich selbst hat. Seine Selbstwahrnehmung hätte Risse bekommen. Aber was hat es mit der Selbstwahrnehmung auf sich? Wie denkt man über sich selbst?«
Er unterbrach sich, spürte den Bildern in seinem Kopf nach. »Verdammter Mist«, fluchte er, als er einsah, dass er das Rätsel nicht auf Anhieb lösen konnte. »Diesmal haben wir keine Kopfverletzung, weil er spüren wollte, wie seinem Opfer das Leben entglitt. Er wollte fühlen, wie es aus ihrem Körper wich.« Einen Moment lang betrachtete er die Position, in der die Leiche am Boden lag, ehe er fortfuhr. »Er stand vor ihr. Sie kniete bereits vor ihm, weil sie versucht hatte, davonzulaufen. Aber mit bloßen Füßen hatte sie in der Dunkelheit keine Chance. Sie stürzte und kam nicht mehr rechtzeitig hoch, denn er war bereits bei ihr, starrte ihr in die Augen … Er ließ sich Zeit, streckte die Hände nach ihr aus, legte ihr die Finger um den Hals, presste mit beiden Daumen gegen ihren Kehlkopf. Sie hat noch versucht, sich zu wehren, aber er war zu stark. Es fühlte sich gut für ihn an, ihren Todeskampf mitzuerleben. Es fühlte sich gut an, zu beobachten, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Selbst als sie längst tot war, hielt er sie noch fest, blickte in ihr lebloses Gesicht … bis er sie losließ, sodass sie zu Boden sank und genau in dieser Haltung liegen blieb, wie wir sie jetzt sehen, die Arme verdreht. Er betrachtete sie noch eine Zeit lang. Die kalte Nachtluft hat sich wunderbar angefühlt … nicht wahr, du Hurensohn? Und jetzt, da du dir eingestanden hast, dass das Töten sich gut anfühlt, sich geil anfühlt, wirst du erst damit aufhören, wenn jemand dich aufhält. Ist es nicht so? Erst muss ich dich stoppen.«
»Sean?«, rief Sally. »Sean, mit wem sprechen Sie?«
Er drehte den Kopf, blickte in ihre Richtung und schien erst jetzt zu realisieren, dass er laut gesprochen hatte. »Mit Ihnen«, log er. »Ich habe mit Ihnen gesprochen.«
Schweigen erfüllte die Lichtung, bis Sally wieder das Wort ergriff. »Wir sollten besser gehen, Sean.«
»Eine Sache muss ich noch überprüfen.«
»Also gut. Aber dann sollten wir uns auf den Weg machen, bevor die Forensiker anrücken.«
Corrigan kauerte immer noch neben der Toten und ließ den Blick über ihren Oberkörper und den Arm gleiten, der halb unter ihr lag. Er sah Kratzer und Prellungen, aber sonst nichts.
»Wonach suchen Sie?«, fragte Sally und wurde allmählich nervös. Sie wollte den Tatort so schnell wie möglich verlassen, um die düsteren Gedanken, die immer irgendwo in ihr lauerten, gar nicht an sich herankommen zu lassen. Beinahe wäre auch sie ein lebloses Etwas geworden, das man betrachtete und fotografierte und schließlich zur Obduktion freigab: Ein Objekt, das man mit scharfen Instrumenten sezierte, auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten der Bluttat. Man war keine Person mehr, nur noch eine Akte in einem neuen Fall.
Corrigan achtete nicht weiter auf Sally, während er nach Louise Russells Arm griff, der verdreht hinter ihrem Rücken lag. So vorsichtig er konnte, umfasste er ihr Handgelenk und drehte es so, dass er ihren Unterarm sah. Beim Anblick des grellbunten Phönix wurde ihm schwindelig. Sein Puls beschleunigte sich, Verwirrung lähmte sein Denkvermögen. Fast hätte er ihr Handgelenk losgelassen, da er ins Taumeln geriet, doch er fing sich rechtzeitig und bettete den Arm wieder auf den Waldboden. Dann erhob er sich, nahm den Blick jedoch keine Sekunde von der Toten.
»Was ist, Chef?«, rief Sally aus einiger Entfernung. »Was haben Sie gefunden?«
»Den Schlüssel«, antwortete er. »Den Schlüssel zu allem. Jetzt muss ich nur noch das Schloss finden, in das er passt.«
»Ich verstehe nicht …« Sally beobachtete, wie Corrigan das Handy aus seiner Manteltasche zog und die Kontaktliste durchging. Sekunden später hatte er Donnelly an der Strippe.
»Dave? Hören Sie genau zu. Die Sache ist verdammt wichtig, und ich habe nicht viel Zeit. Dieses Abziehbild, um das Paulo sich kümmern sollte, der Phönix, sind wir da einen Schritt weiter? Hat Zukov etwas herausgefunden?«
»Gott, ja, dieser Kinderkram. Ja, ich habe Zukovs Bericht. Habe ihn auf Ihren Schreibtisch gelegt, zusammen mit den anderen Akten. Ich dachte, Sie hätten das schon durch den Schredder gejagt. Wie läuft es am Tatort?«
»Hören Sie, Dave«, sagte Corrigan eindringlich, »Louise Russell hat ebenfalls dieses Abziehbild am Unterarm, genau an der Stelle, an der wir es bei Karen Green gefunden haben.«
Donnelly dachte einen Moment nach. »Wie kann das sein? Das ist doch nicht möglich. Sie könnten doch nur dann dasselbe Fake-Tattoo haben, wenn … oh, verdammt!«, fluchte er, als er die Tragweite der Entdeckung erkannte.
»Wenn er den Frauen diese Abziehbilder aufklebt«, fuhr Corrigan fort, »muss es ihm etwas bedeuten. Es ist wichtig für ihn, weil sie ein solches Phönix-Tattoo hatte – die Frau, für die er ständig Ersatz braucht. Entweder hatte er einfach nur Glück und entdeckte zufällig irgendwo ein Abziehbild, das dem Kindertattoo von früher ähnelte, was ich bezweifle, oder er ließ sich diese Bildchen von einer Firma anfertigen, die individuelle Abziehbilder im Internet vertreibt. So was in der Art. Er bestellte diese Bilder, weil die Frauen dann noch mehr der einen Person ähnelten, um die es ihm geht. Er muss sich seit Monaten, vielleicht seit Jahren nach dieser Person verzehren. Wo sind Sie jetzt, Dave?«
»Im Büro.«
»Gut. Suchen Sie in meinem Ablagekorb nach dem Bericht, den Zukov Ihnen gegeben hat. Vielleicht finden wir den Namen der Firma, die Bilder dieser Art produziert. Da wird man uns sagen können, wer die Kunden sind.«
»Das wird nicht möglich sein.«
»Glauben Sie mir«, sagte Corrigan, »es ist möglich. Nehmen Sie den Bericht und lesen Sie ihn mir laut vor.«
»Nein, Sie verstehen nicht. Ich habe Zukovs Bericht gelesen. Das Abziehbild auf Karen Greens Arm war sechzehn Jahre alt. Es war eine Werbeaktion einer Firma, die Müsli und Frühstücksflocken herstellt. Damals waren diese Bildchen in Cornflakes-Packungen, Rice Krispies oder weiß der Teufel was.« Corrigan hörte wie betäubt zu. »Deshalb dachte ich, dass diese Spur uns nicht weiterbringt. Denn warum sollte ein sechzehn Jahre altes Abziehbild einer Cornflakes-Packung für unseren Fall relevant sein? Aber wenn Sie sagen, dass Sie mehr dahinter vermuten, kann das ja nur heißen, dass der Täter diese Bilder seit mindestens sechzehn Jahren irgendwo aufbewahrt.«
Corrigan starrte in unbestimmte Fernen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Eine Vorahnung befiel ihn. Er befürchtete, die Antwort auf dieses Rätsel könne ihm entgleiten, ehe er die Chance hatte, sie auch nur im Geist zu formulieren. »Rufen Sie die Verbrecherdatenbank auf, Dave«, forderte er seinen Sergeant auf.
»Augenblick«, sagte Donnelly, setzte sich an den erstbesten Computerterminal und loggte sich ein. »Okay, bin online. Was jetzt?«
»Machen Sie eine Suchanfrage. Alle Anzeigen, die sich auf Stalker und Personen beziehen, die weiblichen Opfern in irgendeiner Form nachgestellt haben. Das Jahr, das wir brauchen, muss 1996 sein. Das damalige Opfer dürfte nicht älter als zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Haben Sie verstanden?« Corrigan spürte seinen eigenen Herzschlag und war voller Zuversicht, diesmal auf der richtigen Spur zu sein. Er war kurz davor, den Wahnsinnigen zu finden.
»Ja, bin voll auf der Höhe«, bestätigte Donnelly, während er die relevanten Daten in die Suchmaske eingab.
»Gehen wir davon aus, dass die Eltern des Mädchens Anzeige erstattet haben«, überlegte Corrigan weiter.
Kurz darauf meldete Donnelly sich wieder zu Wort. »Okay, sieben Berichte über junge Mädchen, die sich belästigt fühlten. Was jetzt?«
»Unser Mann hat offenbar keine Vorstrafen, wie Sie sich bestimmt erinnern. Das bedeutet, dass der Vorfall zwar aktenkundig ist, die Eltern des Mädchens aber vermutlich von einer Anzeige abgesehen haben. Vielleicht sollte es dem Täter nur eine letzte Warnung sein. Können Sie damit etwas anfangen, Dave?«
Das Schweigen am anderen Ende der Verbindung verriet Corrigan, dass der Erfolg unmittelbar bevorstand.
»Das Mädchen heißt Samantha Shaw«, gab Donnelly durch. »Name des Täters: Thomas Keller. War zum Tatzeitpunkt zwölf Jahre alt. Als Anschrift ist das Waisenhaus in Penge aufgeführt. Na, da wird er heute nicht mehr sein.«
»Nein, aber das Mädchen könnte noch bei ihren Eltern wohnen.«
»Bei der alten Adresse? Unwahrscheinlich«, sagte Donnelly.
»Selbst wenn sie weggezogen sind, haben wir genügend Anhaltspunkte, um die Frau ausfindig zu machen«, betonte Corrigan. »Versuchen Sie herauszufinden, ob wir eine Adresse von diesem Thomas Keller haben. Und spüren Sie diese Shaws für mich auf. Wir müssen wissen, was aus Samantha wurde und wo sie heute lebt. Jetzt sofort.«
»Wird gemacht, Chef. Und was unternehmen Sie, während die Suche läuft?«
»Ich mache mich auf den Weg zu unserem sympathischen Abteilungsleiter der Sortierstelle bei der Post.«
»An einem Sonntag?«
»Ich habe seine Handynummer, schon vergessen? Er wird sich mit mir treffen. Deborah Thomson ist noch am Leben, ich weiß es. Falls nötig, setze ich Trewsbury die Pistole auf die Brust. Zu einem dritten Mord lasse ich es nicht kommen, egal was passiert.«
*
Superintendent Featherstone fädelte sich in den überschaubaren Verkehr am Vormittag ein und fuhr in Richtung Peckham Police Station. Nach seinem Dafürhalten war das Revier der geeignete Ort, um Sean Corrigan aufzutreiben und sich von ihm auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Sie hatten eine zweite Leiche. Also waren jede Menge Fragen offen. Außerdem war dies wieder eine Gelegenheit, sich beim Morddezernat blicken zu lassen und den Untergebenen auf die Finger zu schauen. Präsenz zeigen war wichtig in diesen Tagen. Mit etwas Glück wäre er gegen Mittag wieder zu Hause und könnte den Sonntagsbraten genießen, den seine Frau gerade vorbereitete. Alles Weitere ließe sich am Telefon klären, da war er zuversichtlich. Stressig wurde es erst wieder am Montagmorgen, wenn die Medien das Morddezernat wie lästige Insekten umschwirrten. Aber Corrigan wusste, was er tat, auch wenn seine Methoden ein wenig unkonventionell waren.
Kaum hatte Featherstone an das Telefon gedacht, klingelte und vibrierte das Handy in der Mittelkonsole seiner Limousine. Er griff nach dem Gerät und prüfte die Nummer des Anrufers im Display. Aber sie wurde unterdrückt. Nicht gerade verheißungsvoll beim Handy eines Polizisten. Für einen kurzen Moment überlegte er, das Gespräch nicht entgegenzunehmen, hielt es dann aber für besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen, anstatt sich den lieben langen Tag Gedanken zu machen, wer ihn am Vormittag zu erreichen versucht hatte.
»Ja?«, sagte er zurückhaltend.
»Schönen guten Morgen, Alan«, hörte Featherstone eine Stimme, die ihm vertraut war. »Commissioner Addis hier«, fügte der Sprecher hinzu, aber das wäre nicht nötig gewesen.
»Oh, guten Morgen, Sir«, antwortete Featherstone höflichkeitshalber, obwohl er sich schon jetzt ärgerte, das Gespräch entgegengenommen zu haben.
»Wie ich hörte, hat DI Corrigan es mit einer zweiten Leiche zu tun.«
»Ja, schlechte Nachrichten verbreiten sich wie Lauffeuer.«
»Wie ich schon sagte, gewisse Herren haben Interesse gefunden an DI Corrigan. Wann immer er einen Fall hat, werde ich schneller über den Stand der Ermittlungen informiert, als Sie sich vorstellen können.«
»Ja, in der Tat«, gab Featherstone knapp zurück.
»Und wie steht es um unsere gemeinsame Freundin? Hat Sie Ihnen schon ihren Bericht zugesandt? Gibt es weitere Informationen oder interessante neue Erkenntnisse, die sie Ihnen womöglich mitgeteilt hat?«
»Bedaure«, sagte Featherstone. »Noch nicht.«
»Hm, ich habe nachgedacht. Ich glaube, es wäre besser, wenn sie sich von nun an direkt an mich wendet. Es besteht kein Anlass für unnötige … Bürokratie. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Alan?«
»Ich verstehe, was Sie meinen, Sir.«
»Gut. Ach ja, noch was …«, fuhr Addis fort. »Glauben Sie, er ahnt etwas?«
»Ich glaube nicht.«
»Ausgezeichnet. Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.«
Featherstone hörte, wie die Verbindung unterbrochen wurde. Ungläubig starrte er auf sein Handy. Spontan dachte er daran, Corrigan anzurufen und ihn zu warnen, er solle aufpassen, aber Featherstone wusste, dass er seinem eigenen Handy nicht mehr trauen durfte. Denn inzwischen waren Addis und dessen Leute auf den Plan getreten.
Mit einem Achselzucken warf er das Handy auf den Beifahrersitz. Vielleicht schaffte er es ja doch noch, rechtzeitig zum Sonntagsbraten zu Hause zu sein.
*
Corrigan und Sally waren nicht mehr weit vom Briefzentrum in South Norwood entfernt, wo sie sich mit Leonard Trewsbury verabredet hatten. Auf der Fahrt schwiegen sie. Sally saß hinterm Steuer, während Corrigan nervös das Handy von einer Hand in die andere nahm, weil er auf Donnellys Anruf wartete. Das Handy hatte gleich mehrmals geklingelt, aber Corrigan hatte nur einen Anruf entgegengenommen, als im Display der Name Roddis aufgetaucht war. Sally fragte sich, wer die anderen Anrufer gewesen sein mochten.
»Was beschäftigt Sie gerade?«, wollte sie wissen. »Abgesehen von den üblichen Dingen, meine ich.«
»Diese Datenbanksuche, die ich Dave aufgetragen habe«, erwiderte Corrigan. »Ich habe selbst die Details in die Suchmaske eingegeben, mehrmals sogar. Aber ich bin nie darauf gekommen, bei der Suche mehr als ein paar Jahre zurückzugehen. Hätte ich den Zeitrahmen ausgedehnt, könnte Louise Russell noch leben.«
»Das ist doch Unsinn, Sean. Woher sollten Sie denn ahnen, dass Sie sechzehn Jahre zurückgehen mussten?«
»Ich hätte es ahnen können«, gab er knapp zurück. »Als ich das Tattoo entdeckt habe und später erfuhr, dass es ein Abziehbild ist, hätte ich die Suche ausdehnen müssen. Ich hätte bis weit in die Neunziger gehen müssen.«
»Aber wir wissen doch nicht einmal, ob dieser Thomas Keller überhaupt etwas mit den Morden zu tun hat.«
»Er ist es, Sally«, versicherte Corrigan ihr. »Ich weiß, dass er es ist. Er begehrt sie seit damals. Er hat diese Sache seit verdammten sechzehn Jahren geplant. Und jetzt scheint für ihn alles in Erfüllung zu gehen. Sobald wir bei Trewsbury sind, wird er uns bestätigen, dass Keller in der Sortierstelle in Norwood arbeitet, jede Wette. Dann besteht kein Zweifel mehr, dass er unser Mann ist. Und dann bringen wir es zu Ende.«
»Da ist noch etwas, nicht wahr?«, bohrte Sally nach. »Sie verheimlichen mir etwas.«
»Dieser Name – Thomas Keller. Ich habe ihn schon mal irgendwo gehört oder gelesen. Verdammt, ich weiß es nicht, vielleicht habe ich ihn sogar schon mal festgenommen, als ich noch Streifenpolizist war … oder ich habe ihn verhört, irgendwann. Seitdem Dave diesen Namen erwähnt hat, geht er mir durch den Kopf. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Wo habe ich diesen Namen bloß aufgeschnappt?«
»Sie sind überarbeitet, Chef«, versuchte Sally ihn zu beruhigen. »Vielleicht ist es ein Déjà-vu. Immer wenn Ihr müdes Hirn eine neue Information verarbeitet, hat Ihr Erinnerungsvermögen sie bereits verinnerlicht. Deswegen kommt Ihnen die Information vertraut vor. Der klassische Fall, wenn das Gedächtnis dem bewussten Denkprozess einen Schritt voraus ist …«
Corrigan sah sie an und zog die Brauen hoch. »Ich weiß, was ein Déjà-vu ist, Sally.«
»Sorry. Natürlich.«
Sein Handy summte erneut. Er warf einen Blick aufs Display und nahm das Gespräch entgegen. »Ja, Dave, was haben Sie für mich?«
»Zuerst einmal, bei Thomas Keller tappen wir im Dunkeln. Keine Adresse, keine Informationen, kein gar nichts. Alles, was mit dem sexuellen Übergriff und dem Stalking zu tun hat, wurde schon vor langer Zeit aus unseren Datenbanken gelöscht. Wie es aussieht, hat Keller sich danach nichts mehr zuschulden kommen lassen. Die Shaws wohnen noch in ihrem alten Haus, aber Samantha hat das Nest vor ein paar Jahren verlassen und lebt nun mit ihrem Freund in Catford, 16 Sangley Road. Ich simse Ihnen die Adresse und die Telefonnummer. Oder soll ich Samantha anrufen?«
»Nein«, antwortete Corrigan. »Ein Anruf reicht mir nicht. Ich muss sie sehen. Ich muss wissen, wie sie über diesen Kerl denkt.«
Donnelly beließ es dabei. »In Ordnung. Soll ich sonst noch etwas für Sie erledigen?«
»Nein. Bleiben Sie mit den Mitgliedern des Teams in Verbindung, bis ich die Adresse von diesem unterirdischen Gewölbe kenne. Ich melde mich dann sofort bei Ihnen.« Er beendete das Gespräch.
»Sie werden ihn nicht anrufen, oder?«, fragte Sally. »Wenn wir Kellers Adresse haben, dann rufen Sie ihn nicht an, oder?«
Corrigan ging darauf nicht ein; stattdessen deutete er auf den Gehweg in unmittelbarer Nähe des Briefzentrums. »Stopp! Da ist unser Mann.« Corrigan sprang aus dem Wagen, noch ehe Sally gebremst hatte. Er konnte es kaum abwarten, Leonard Trewsbury zu befragen. Er brauchte die Bestätigung für seine Vermutung.
Die beiden Männer hatten sich bereits per Handschlag begrüßt, als Sally sich zu ihnen gesellte. Corrigan hielt es nicht für nötig, seine Kollegin vorzustellen. »Danke, dass Sie Zeit für uns haben.«
»Hatte ich eine Wahl, Inspector?«, fragte Trewsbury. »Eine weitere junge Frau wurde ermordet aufgefunden. Was soll ich da sagen? Wahrscheinlich verliere ich meinen Job, vielleicht auch einen Teil meiner Pension, aber zumindest weiß ich, dass ich noch in den Spiegel schauen kann.«
»Ich hätte Sie nicht gebeten, herzukommen, wenn ich eine andere Möglichkeit gesehen hätte«, versicherte Corrigan ihm. »Mir blieb keine Wahl, sofern noch die Hoffnung besteht, ein weiteres Leben zu retten.«
»Die dritte Frau, die er gekidnappt hat?«, fragte Trewsbury, und seine Augen wurden schmal.
»Unwahrscheinlich, dass er diese Frau anders behandelt als die beiden anderen Opfer«, sagte Corrigan.
»Was kann ich für Sie tun, Inspector? Es muss wichtig sein, wenn Sie die Sache nicht am Telefon mit mir besprechen konnten.«
»Thomas Keller. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Trewsburys Miene veränderte sich kaum merklich. »Tommy, ja, klar, er arbeitet hier bei uns. Aber der hat nichts damit zu tun. Der könnte keiner Fliege was zuleide tun. Ist ein guter Bursche. Arbeitet gewissenhaft, ist aber sehr zurückhaltend. Manchmal ärgern ihn die anderen Jungs, aber Tommy hat mir noch nie Probleme gemacht.«
Trewsbury war nicht bewusst, dass er in Corrigans Beisein genau den Typ Mann beschrieb, den sie suchten. Corrigans Puls raste, als er spürte, dass all seine Theorien allmählich in ein Muster passten. Alles ergab nach und nach Sinn: Der Killer ging durch Wohngebiete, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; er trug die Dienstkleidung der Royal Mail; er suchte sich in aller Ruhe seine Opfer aus, fing die Post der Frauen ab, weil er nur auf diese Weise etwas über das Leben seiner zukünftigen Opfer erfahren konnte; er klingelte an der Haustür, da fast jeder einem Postboten die Tür aufmachen würde; dann überwältigte er die ahnungslosen Frauen und entführte sie. Alles passte ins Bild.
»Ich muss wissen, wo er wohnt«, wandte er sich nervös an Trewsbury.
»Das weiß ich nicht, Inspector.«
»Das dachte ich mir. Deshalb habe ich mich mit Ihnen verabredet, denn jetzt können wir uns die Personalakten ansehen. Sie haben es selbst gesagt, Leonard: Zwei Frauen wurden ermordet, und eine wird vermisst. Vermutlich lebt sie noch, aber wie lange?«
»Aber ausgerechnet Tommy …«, setzte Trewsbury an. »Eine Herausgabeanordnung haben Sie nicht dabei, oder?«
»Nein«, antwortete Corrigan. »Und bis ich eine habe, ist es zu spät für Deborah Thomson. Tut mir leid, Leonard, aber Keller ist unser Mann. Ich weiß es. Und jetzt brauche ich seine Adresse.«