12.

Corrigan fuhr durch die fast leeren Straßen im Südosten Londons zu seinem Haus in Dulwich. Da kaum noch jemand unterwegs war, fiel die Fahrt erstaunlich kurz aus. Er genoss die Atmosphäre in der stillen Zeit vor dem Morgengrauen – eine friedvolle, aber irgendwie unheimliche Stimmung, eine Zwischenwelt, die vielleicht nur Sondereinsatzkräfte kannten. Corrigan dachte an die ersten Jahre im Polizeidienst zurück. Nach der langen Schicht im Streifenwagen fuhr er nach Hause, müde und zufrieden, und sah all die unausgeschlafenen Pendler, die stadteinwärts auf der Gegenfahrbahn fuhren. Er hatte sich damals anders gefühlt – einzigartig, privilegiert.

So nah wie möglich parkte er auf Höhe des Hauses und ging die wenigen Schritte bis zur Eingangstür. In der Stille der sterbenden Nacht waren seine Schritte schwerfällig, doch der auffrischende Wind überdeckte die leisen Geräusche. Während er sich mit den Schlüsseln an der Tür zu schaffen machte, merkte er, dass Kate seinen Ratschlag endlich beherzigt hatte: Das Sicherheitsschloss war angebracht, nicht nur der Riegel von innen. Leise schloss er auf und betrat sein Zuhause. Die Wärme und die vertrauten Gerüche seiner Familie vermochten zumindest vorübergehend die Dämonen zu verjagen, die ihn tagsüber verfolgten. Kate hatte ihm eine kleine Lampe angelassen, da sie es hasste, nach einem späten Feierabend in ein stockdunkles Haus zu kommen. Kein Bedarf also, das grelle Flurlicht einzuschalten und womöglich jemanden zu wecken. Polizisten und Ärzte, Feuerwehrmänner und Krankenhauspersonal – sie waren wie ewige Teenager, die sich mitten in der Nacht ins Haus stahlen, immer in der Angst, erwischt zu werden.

Corrigan drückte die Haustür leise ins Schloss, schlüpfte aus den Schuhen und schlich auf Zehenspitzen in die Küche, wo er nur das Licht an der Dunstabzugshaube anknipste, um sich zurechtzufinden. Danach leerte er seine Taschen aus und verteilte alles vorsichtig auf einer Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. Das Papier dämpfte die Laute des Handys, der Schlüssel, der Brieftasche, der Karten und des Kleingelds. Den Regenmantel und die Jacke hängte er über die Stuhllehne, lockerte die Krawatte noch ein wenig mehr und ging zu dem Schrank, in dem er den Jack Daniel’s aufbewahrte. Er griff nach dem kleinen, dickrandigen Glas und genehmigte sich mehr als einen doppelten Whisky, in der Hoffnung, in etwas mehr als drei Stunden das Bett ohne große Kopfschmerzen verlassen zu können. Schwer ließ er sich auf einen der Küchenstühle sinken und seufzte laut, als er merkte, dass ihm die Glieder wehtaten.

Drei Stunden Schlaf würden ohnehin nicht ausreichen, seinem Körper und Geist die nötige Ruhepause zu verschaffen. Corrigan versuchte sich zu erinnern, wie viele Stunden er schon ununterbrochen auf den Beinen war, aber er war so erschöpft, dass er den Überblick über den Tagesablauf verloren hatte. Anklagend führte ihm die Küchenuhr an der Wand vor Augen, dass es schon halb drei war.

Wieder seufzte er und starrte in sein Whiskyglas. Der Jack Daniel’s war vielleicht die einzige Möglichkeit, die Corrigan blieb, um sein Denken zu verlangsamen, sodass der Schlaf eine Chance bekam. Er leerte den Whisky in einem Zug und spürte, wie ihm die brennende Flüssigkeit den leeren Magen wärmte. Der Mangel an Essen beschleunigte die Wirkung des Alkohols. Sehr zu Corrigans Zufriedenheit.

Schließlich stemmte er sich aus dem Stuhl hoch, verließ die Küche und stieg die Treppe hinauf. Als er am Zimmer seiner Töchter vorbeikam, versuchte er dem Verlangen zu widerstehen, einen Blick durch den Türspalt zu werfen, blieb dann aber stehen. Im schwachen bläulichen Schimmer der Nachtlampe sahen die beiden fast lebendiger aus als bei Tageslicht, obwohl Corrigan sich fragte, wann er seine Kleinen zuletzt bei Tag zu Gesicht bekommen hatte. Noch waren sie kleine Mädchen, aber ehe er sich’s versah, wären sie zwei junge Frauen – wie die, die dieser Irrsinnige in seine Gewalt gebracht hatte. Seine älteste Tochter hieß sogar wie eines der Opfer: Louise.

Corrigan verscheuchte die Gedanken; sie hatten in seinem Haus nichts zu suchen. Er zog den Kopf aus dem Türspalt und schlich ins Schlafzimmer. Kates Gestalt zeichnete sich unter der Bettdecke ab. Er zog sich im Dunkeln aus, hängte seine Kleidung über den einzigen Stuhl und schlüpfte unter die Decke. Der Whisky wirkte wie ein Anästhetikum, wie das Chloroform, das der Irre seinen Opfern verabreichte. Wieder verscheuchte er diese Gedanken, denn sie hatten nichts in seinem Bett verloren, hier neben ihm und seiner Frau.

Kates Stimme ließ ihn zusammenzucken. Sie sprach nicht wie jemand, der eben erst aufgewacht war; sie hatte offenbar auf ihn gewartet. »Ich nehme an, du hast ihn noch nicht geschnappt, sonst wärst du nicht zu Haus«, stellte sie nüchtern fest. »Also hast du auch die Frauen noch nicht gefunden.«

»Nein.« Sein Herzschlag hatte sich noch nicht beruhigt. »Aber das dauert nicht mehr lange, da bin ich mir ganz sicher. Wir kommen dem Ende näher. Ich werde ihm schon bald begegnen.«

»Was macht dich so sicher? Hast du irgendwas herausgefunden?«

»Nein. Aber die Antwort ist irgendwo dort und wartet nur darauf, dass ich sie sehe.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Kate.«

»Hm?«

»Was machst du mit einem Patienten, der schwer krank ist? Du hast alles versucht, um ihm zu helfen, ihn zu heilen, aber sein Zustand verschlechtert sich von Stunde zu Stunde. Was würdest du machen?«

Sie überlegte eine Weile, ehe sie antwortete. »In diesem Fall würde ich davon ausgehen, dass ich irgendetwas übersehen habe. Ich würde mir die gesamte Akte noch einmal vornehmen und überprüfen, ob mir bei der Medikation etwas durchgegangen ist.«

»Und wenn du nichts übersehen hast?«, fragte er. »Was dann?«

Kate drehte sich zu ihm. Ihr Gesicht war kaum mehr als eine Silhouette im Zwielicht. »Dann würde der Patient sterben, und wir würden uns mies fühlen. Auch dann, wenn wir nichts tun konnten.«

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und nahm wieder ihre Schlafposition ein. Corrigan lag auf dem Rücken und starrte in der Dunkelheit an die Zimmerdecke.

Allein.

*

Sie stolperte zwischen den Bäumen hindurch, die Arme um den Oberkörper geschlungen, ein nutzloser Versuch, sich gegen die Kälte zu schützen. Sie trug nur noch Unterwäsche. Dieselbe schmutzige Wäsche, die er ihr Tage zuvor gegeben hatte. Wie viel Zeit vergangen war, konnte sie längst nicht mehr sagen. Mit den bloßen Füßen stieß sie gegen scharfe Steine, blieb in Dornengestrüpp hängen und geriet immer wieder ins Straucheln. In dem ungelenken Versuch, das Gleichgewicht zu halten, streckte sie die Arme aus. Gelegentlich schaute sie sich zögerlich um und erahnte die Gestalt, die unmittelbar hinter ihr war, den Kopf unter einer Kapuze verborgen. In der einen Hand hielt er einen Baseballschläger, in der anderen den Viehtreiber. Wann immer sie zu langsam wurde, stieß er ihr den Schläger in die Rippen und drängte sie tiefer in den Wald, tiefer in das Schicksal, das ihr bestimmt war. Da das Betäubungsmittel sie noch zu sehr lähmte, konnte sie sich weder zur Wehr setzen noch an Flucht denken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als um ihr Leben zu betteln.

»Bitte«, schniefte sie. »Das brauchst du nicht zu tun.« Die Worte kamen ihr schwer über die Lippen. »Ich erzähl’s auch keinem. Ehrlich.« Wieder erhielt sie einen Schlag in den Rücken, und der kalte Wind fuhr über ihren halbnackten Leib. Sie stolperte erneut, trug weitere Risswunden an Füßen und Beinen davon, als wären Bäume und Dornen die Komplizen des Verrückten, die nur darauf warteten, sie quälen zu können. »Meine Kinder brauchen mich«, log sie und versuchte verzweifelt, an das Gewissen ihres Peinigers zu appellieren. Doch sie ahnte, dass sie nie bis zum kranken Geist dieses Monsters vordringen könnte.

»Lüg nicht«, schimpfte er. »Du hast keine Kinder. Du solltest mich bei so was nicht anlügen. Hättest du welche, wüsste ich es.«

»Du hast mich beobachtet«, warf sie ihm vor. »Hast mir wochenlang nachgestellt.« Sie blieb stehen und wandte sich ihm abrupt zu, selbst auf die Gefahr hin, sich wieder einen Schlag mit dem Baseballschläger einzufangen. Aber nichts geschah.

»Ich dachte, du wärst die Richtige«, sagte er. »Ich dachte, du wärst sie, aber ich lag falsch. Jetzt kann ich dich nicht mehr gebrauchen. Du warst ein Irrtum.«

»Nein«, versuchte sie ihn umzustimmen. »Vielleicht bin ich ja doch sie? Du musst mir helfen, so zu werden wie sie. Ich kann wie sie sein. Ich weiß, dass ich das schaffe – für dich.«

»Nein!«, schrie er. »Dafür ist es zu spät. Weiter. Vorwärts.«

»Ich kann nicht mehr«, flehte sie ihn an und lehnte sich an einen Baum. »Ich bin am Ende. Bitte, ich kann nicht mehr …«

»Nur noch ein Stückchen, dann kannst du gehen«, stellte er ihr in Aussicht. »Ich bringe dich nicht um. Nur noch ein paar Schritte, und du kannst gehen.«

Tief in ihrem Innern wusste sie, dass er ihr falsche Hoffnungen machte. Aber es war alles, was sie hatte, daher klammerte sie sich an den Strohhalm. »Du lässt mich wirklich gehen?«, fragte sie atemlos. Er nickte im Mondlicht. »Versprochen?«

»Nur noch ein paar Schritte.« Mit dem Schläger deutete er voraus in den Wald.

Louise löste sich vom Baum, strich sich die dünnen Zweige aus dem Gesicht, schloss die Augen in einem stummen Gebet und tastete sich weiter, die Arme von sich gestreckt. Bald spürte sie, dass sie auf einer Lichtung stand. An den Stellen, an denen tagsüber Licht bis zum Boden fiel und Gras wuchs, wurde der Untergrund weicher unter ihren Füßen. Um sie her nahm sie ein unheimliches Flattern wahr, als wären aberhunderte Vögel im Geäst der Bäume gefangen; sie konnten nicht mehr fliehen, ganz gleich, wie wild sie mit den Flügeln schlugen.

Louise öffnete die Augen, betrat die freie Fläche und hielt Ausschau nach der Quelle der seltsamen Laute, konnte in der Dunkelheit aber nichts erkennen. Dann spürte sie, dass er hinter ihr war und näher kam. Und da wusste sie es: Dies war der Ort, an dem er sie umbringen wollte. Hätte er sie gehen lassen, wäre er längst mit den Schatten des Waldes verschmolzen wie ein Gespenst, das zwischen den Bäumen entschwindet. Aber er war noch da, hinter ihr. Er kannte diese Lichtung und hatte die ganze Zeit vorgehabt, sein Opfer hierherzubringen. Dies war der Ort, an dem sie ihren letzten Atemzug tun würde.

Panik und Selbsterhaltungstrieb begehrten gegen die Wirkung des Betäubungsmittels auf, und Louises Körper verspannte sich. Sie sprang tiefer ins Dunkel der Lichtung, spürte das weiche Gras unter den Füßen, aber er hatte damit gerechnet, hatte vorausgesehen, dass sie fliehen würde. Nach nur vier Schritten wurden ihr die Beine weggerissen. Sie flog durch die Luft, stürzte zu Boden, rang nach Atem. Desorientiert schaute sie sich um. Sie kam auf die Knie, verharrte kurz und suchte eine neue Fluchtmöglichkeit. Aber ehe sie sich entscheiden konnte, vertrat ihr eine dunkle Gestalt den Weg, in jeder Hand eine Waffe. Blinzelnd schaute Louise zu ihm auf und versuchte, unter der Kapuze etwas von den Konturen seines Gesichts zu erkennen. »Bitte«, keuchte sie. »Bitte …«

Langsam schob er den Viehtreiber in die Hosentasche und warf den Baseballschläger zur Seite. Er stand unmittelbar vor ihr, starrte auf sie hinunter. Dann streckte er die Hände nach ihr aus, nach ihrem Hals, während sie ihn durch einen Tränenschleier beobachtete und die Hände hochriss. Ihre Finger schlossen sich um seine Handgelenke, vermochten aber nichts auszurichten. Kräftige, schmale Finger legten sich ihr um den Hals, drückten zu, während die Daumen ihr den Kehlkopf zerquetschten. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, ihre Augen traten aus den Höhlen, und ihre geschwollene Zunge lugte zwischen den Lippen hervor. Für einen kurzen Moment glaubte sie, ihren Mann zu sehen, meinte, seine Stimme zu hören, die Kinder zu sehen, die sie sich so oft vorgestellt hatte. Noch einmal klammerte sie sich an ihr Leben, riss an seinen Handgelenken, kratzte über die Klauen, die sich um ihren Hals gelegt hatten, aber sie war viel zu schwach.

Schließlich rutschten ihre Finger von seinen Händen, ihre Arme wurden schwer wie Blei und hingen schlaff herab. Ein hässliches Zischen entwich ihrem Mund – der letzte Laut, den sie je von sich geben würde.

Er ließ ihren Hals eine ganze Weile nicht los und starrte auf das tote Geschöpf, das vor ihm kniete. Er war froh, sie nicht bewusstlos geschlagen zu haben, ehe er ihr das Leben aus dem Körper presste. Denn er hatte dem Verlangen nicht widerstehen können, zu beobachten, wie sie aus dieser Welt hinüberglitt in die Schattenwelt. Die Lebenskraft wich aus ihrem Körper, langsam, unaufhörlich. Hätte er ihr halb den Schädel zertrümmert wie bei Karen Green, wäre das Spektakel nur halb so schön gewesen. So aber hatte er den Augenblick viel besser genießen können.

Er hielt sie so lange, bis er sah, dass ihre toten Augen trüb wurden. Erst dann ließ er sie los und schaute zu, wie sie schwer und schlaff zu Boden sackte. Wie ein Kind lag sie im Gras, doch ihre Arme waren seltsam verdreht. Immer noch stand er über ihr und fragte sich, was anders gewesen war als beim letzten Mal. Dann machte er sich bewusst, dass er diesmal etwas empfunden hatte – ein Gefühl von Ruhe und Macht.

Der unerbittliche Wind, der ihm ins Gesicht wehte, holte ihn in die Realität zurück. Plötzlich war die tote Frau zu seinen Füßen bedeutungslos für ihn. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Er kauerte neben der Leiche und zog ihr umständlich Slip und BH aus. Dann rollte er die Unterwäsche zusammen und stopfte sie in die Tasche seiner Kapuzenjacke, ehe er ihren Körper wieder in exakt die Position legte, die er sich eingeprägt hatte. Warum er sich diese Mühe machte, wusste er nicht. Nicht einen Moment dachte er über sein Tun nach.

Schließlich warf er einen letzten Blick auf Louise Russell, wandte sich von der Toten ab und nahm den Weg zurück durch den Wald zu seinem Auto. Es war Sonntag. Einen Tag wollte er sich Ruhe gönnen und für Ordnung sorgen. Er musste den Käfig säubern und die Kleidung waschen … die Kleidung, die im Augenblick die andere Frau trug. Am Montag, nach der Arbeit, würde er sie retten. Er wusste auch schon, wo sie wohnte und wie ihr Leben aussah. Er hatte sie schon eine ganze Weile beobachtet, genau wie die anderen vor ihr. Aber diesmal war er sicher, dass sie die Richtige war, auch wenn sie es noch nicht ahnen konnte.