10.
Corrigan saß in seinem Büro und brütete über Papierkram: Notizen der ausgeweiteten Verkehrskontrollen, Berichte von Polizisten, die außerhalb der Metropole abgelegene Orte absuchten, und andere Informationen der laufenden Ermittlungen. Anna hatte sich zu ihm gesetzt und beharrte darauf, jeden Bericht lesen zu dürfen, den er überflog. Ihre Anwesenheit tolerierte er nur, weil Anna schnell und vor allem leise arbeitete und ihn nie unterbrach. Corrigan hasste es, wenn man ihn in seinem Gedankengebäude störte. Als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, schrak er zusammen und kehrte mühsam in die reale Welt zurück. Wütend griff er zum Hörer, riss ihn von der Gabel und fauchte mehr, als dass er sprach: »Sean Corrigan hier. Was gibt’s?«
»Sir, Detective Constable Croucher am Apparat. Paul Croucher vom Lambeth Borough Morddezernat.« Der Name sagte ihm nichts. »Wie ich hörte, sind Sie an vermissten Personen interessiert.«
»Nur an einem bestimmten Typ«, erklärte Corrigan.
»Wie wäre es mit folgender Beschreibung: Frau, weiß, siebenundzwanzig Jahre, ungefähr eins fünfundsechzig, schlank, kurze braune Haare, grüne Augen?«
»Schießen Sie los.«
»Deborah Thomson, Krankenschwester im St. George’s Hospital in Tooting. Wohnhaft in 6 Valley Road, Streatham. Verließ die Arbeit gestern kurz nach zwei am Nachmittag und ist seither unauffindbar. Am Abend warteten ihre Freunde vergeblich auf sie, und diesen Morgen erschien sie nicht zum Frühstück bei ihrem neuen Freund. Er hat sie übrigens als vermisst gemeldet, nachdem er sie weder zu Hause noch übers Handy erreichen konnte. Ihr Auto ist auch nirgends zu finden. Der junge Mann erfuhr schließlich von Miss Thomsons Freunden, dass sie die ebenfalls versetzt hatte. Daraufhin meldete er sich bei der Polizei. Wäre das etwas für Sie, Inspector?«
»Hätten Sie ein Foto von der Frau?«
»Haben wir.«
»Könnten Sie es mir per Mail schicken?«
»Kein Problem.«
»Bleiben Sie bitte am Apparat, während Sie die Mail schicken«, sagte Corrigan. »Ich muss erst das Gesicht der Frau sehen, ehe ich eine Entscheidung treffe.« Aber das Krampfen in seiner Magengegend verriet ihm bereits, dass seine schlimmsten Befürchtungen jeden Augenblick Gewissheit würden.
»Ist schon zu Ihnen unterwegs«, bestätigte Croucher. Corrigan holte sein E-Mail-Konto auf den Schirm und wartete, dass die Nachricht hereinkam. Sekunden später setzte sie sich an die Spitze der ungelesenen Liste. So schnell er konnte, bewegte Corrigan den Cursor auf die neue Mail und öffnete sie mit Doppelklick. Es gab keinen Text, nur einen Anhang. Wieder klickte er zweimal und wartete, bis der altersschwache Rechner ihm ein Bild auf den Monitor zauberte. Nach einer gefühlten Ewigkeit entstand auf dem Schirm das pixelige Bild einer jungen, attraktiven Frau. Die Ähnlichkeit mit den anderen Opfern war frappierend. Während Corrigan in die grünen Augen der Frau blickte, hatte er keine Zweifel, dass sie wirklich entführt worden war. Und er wusste eins mit Sicherheit: Die Zeit für Louise Russell lief allmählich ab.
Anna holte hörbar Luft, als sie das Bild der Frau betrachtete. »Probleme?«, fragte sie.
Corrigans Antwort war ein energisches Kopfschütteln. Es würde zu lange dauern, Anna über alles zu informieren. Sie würde sich damit begnügen müssen, die Einzelheiten aufzuschnappen.
»Wir kümmern uns von jetzt an um die Vermisstenanzeige dieser jungen Frau«, ließ er DC Croucher wissen. »Ich möchte Sie bitten, zu ihrer Wohnung zu fahren und nachzuschauen, ob sie nicht zufällig mit Grippe im Bett liegt. Verschaffen Sie sich gewaltsam Zutritt, wenn es nicht anders geht. Aber halten Sie den Tatort frei für die Spurensicherung. Verstanden?«
»Ich kümmere mich darum.«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie etwas wissen.«
Corrigan legte auf und erhob sich. Als er das Großraumbüro betrat, bedeutete er den Kollegen mit knapper Geste, dass er die Aufmerksamkeit aller brauchte. Donnelly war als Erster aufgestanden und kam zu seinem Chef. »Wo ist Sally?«, fragte Corrigan.
»Sie geht Hinweisen nach, die nach Featherstones Fernsehauftritt bei uns eingegangen sind. Wenn Sie mich fragen, führen all diese Spuren ins Leere. Wieso? Ist was passiert?«
Corrigan ging über die Frage hinweg und wandte sich an alle Anwesenden. »Also gut, Leute, alle mal herhören.«
Nach Donnellys Dafürhalten war die Stimme seines Chefs noch zu leise gewesen. »Was immer ihr gerade macht«, rief er, »hört auf damit und spitzt die Ohren. Der Chef will euch was sagen.«
Das Gemurmel verstummte, als die Mitglieder des Teams sich Corrigan zuwandten.
»Danke«, sagte er zu Donnelly, ehe er sich an die anderen Detectives wandte. »Sobald dieses Briefing vorbei ist, schicke ich Ihnen per Mail das Foto einer jungen Frau namens Deborah Thomson. Sie ist soeben unser drittes Opfer geworden.« Die Mitglieder des Teams sahen einander ungläubig an. Hier und da wurde missmutiges Gemurmel laut. »Gestern um kurz nach zwei Uhr mittags, als sie ihren Arbeitsplatz verlassen hat, wurde sie zum letzten Mal gesehen. Zu einer Verabredung mit Freunden am Abend ist sie nicht erschienen, und heute Morgen kam sie nicht zum Frühstück mit ihrem Freund. Sie geht nicht ans Telefon oder ans Handy und ist offenbar nicht zu Hause. Das prüfen wir gerade. Ihr Auto ist ebenfalls verschwunden. Wenn Sie das Foto sehen und die Personenbeschreibung lesen, werden Sie nachvollziehen können, warum ich glaube, dass der Entführer wieder zugeschlagen hat. Die Entführung bedeutet natürlich, dass wir einen Tatort mehr zu untersuchen haben. Wir gehen wieder von Tür zu Tür und befragen die Nachbarn, machen verstärkt Verkehrskontrollen und suchen mögliche Zeugen – also wieder Arbeit über Arbeit. Rufen Sie Ihre Frauen oder Freundinnen an«, sagte Corrigan und fügte mit Blick auf die weiblichen Teammitglieder hinzu, »oder Ihre Männer und Freunde. Teilen Sie ihnen mit, dass Sie mal wieder rund um die Uhr eingespannt sind und erst dann mehr Zeit haben, wenn wir diesen Bastard dingfest gemacht haben. Unsere Chance, Louise Russell lebend zu finden, schwindet von Stunde zu Stunde. Also verlange ich von jedem, dass er sich voll reinhängt. Paulo …«, wandte er sich an Zukov.
»Ja, Chef.«
»Was haben Sie über dieses Abziehbild von Karen Green in Erfahrung bringen können?«
»Ich habe mich mit den Herstellern dieser Bildchen in Verbindung gesetzt, bislang ohne Erfolg. Man hat mir allerdings versprochen, in älteren Katalogen nachzuschauen, aber das dauert.«
»Okay, bleiben Sie dran. Ich möchte alles über dieses Bild wissen, möglichst schnell.«
»Warum ist das Bildchen so wichtig?«, wagte Zukov sich vor. »Das ist doch Dutzendware, kein einzigartiges Motiv. Warum vergeuden wir unsere Zeit damit?«
»Forschen Sie weiter«, entgegnete Corrigan kurz angebunden. »Hier entscheide immer noch ich, was wichtig und was unwichtig ist, verstanden?«
Zukov wusste, wann es ratsam war, den Kopf einzuziehen. »Klar, Chef.«
»Ich erwarte von jedem, dass er Gas gibt«, betonte Corrigan. »Lassen Sie sich von Dave und Sally einweisen und führen Sie Ihre Aufträge aus. Sobald Sie mit einer Aufgabe fertig sind, kommen Sie zurück aufs Revier und lassen sich wieder briefen. Und keine Sorge, die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Schwingen Sie die Hufe und kommen Sie nicht extra zurück, um mir zu erzählen, ob Sie etwas herausgefunden haben. Rufen Sie mich auf dem Handy an, schicken Sie mir Mails, wie auch immer. Twittern Sie, wenn es sein muss, aber machen Sie sich an die Arbeit. Setzen Sie etwas in Bewegung. Warten Sie nicht erst, ob sich etwas tut. Fiona?«
Detective Constable Cahill straffte die Schultern. »Ja, Chef?«
»Rufen Sie Sergeant Roddis an und sagen Sie ihm, dass es wieder einen neuen Tatort gibt.« Sie nickte. »Allen sollte inzwischen klar sein, dass unser Täter sich womöglich als Postbote tarnt. Ich denke, dass er es auf diese Weise schafft, dass die Frauen ihm ahnungslos die Türen öffnen.«
»Woher wissen Sie das, Sir?«, fragte einer der Detectives müde.
»Von einem Zeugen, den ich persönlich gesprochen habe«, erwiderte Corrigan und nahm sich vor, es bei dieser Andeutung zu belassen. »Ich gehe auch davon aus, dass der Täter Werbeprospekte und dergleichen in den Straßen verteilt, in denen er die Frauen entführt. Das tut er vermutlich, um nicht aufzufallen. Sobald Sie also die Nachbarn aufsuchen, fragen Sie die Leute, ob sie im Laufe der letzten Tage mit Werbeprospekten zugemüllt wurden. Sollte das der Fall sein und sollten die Leute diese Flyer noch haben, tüten Sie alle Beweisstücke für die Forensiker ein. Noch Fragen?«
Die Antwort war ein Gemisch aus gemurmelter Zustimmung und leise getuschelten Bemerkungen.
»Ach ja, und noch was«, sagte Corrigan und schaute sich im Büro um. Er fing den Blick jedes Teammitglieds ein, um sicherzugehen, dass man ihm zuhörte. »Keine langen Abende im Pub, solange wir diesen Fall nicht gelöst haben. Ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen meiner Leute zu verlieren. Also, kein Kater am Morgen.«
Das Gemurmel hob an. Corrigan ignorierte die Unmutsbekundungen einiger Teammitglieder und kehrte in sein Büro zurück. Donnelly war unmittelbar hinter ihm.
Corrigan ließ sich schwer auf seinen Stuhl sinken und wartete auf die unvermeidlichen Fragen seines Detective Sergeants.
»Aha, verkleidet als Postbote? Interessant«, begann Donnelly.
»Einer von Louise Russells Nachbarn hat extra bei der Postdirektion angerufen, da er keine Werbeflyer mehr wollte. Aber etwa um die Zeit, als Louise entführt wurde, stopfte ihm wieder jemand diesen Kram durch den Briefkastenschlitz. Glauben Sie mir, dieser Mann war hocherfreut darüber.«
»Das ist alles? Ein Nachbar und ein paar Werbeprospekte?«
»Es ergibt trotzdem Sinn. Nur so kann er sicherstellen, dass er in den Straßen nicht weiter auffällt, ehe er sich Zutritt zu den Häusern der Opfer verschafft. Wahrscheinlich späht er auch auf diese Weise die Frauen vorab aus. Wer achtet schon groß auf einen Postboten, der von Tür zu Tür geht? Welches Briefzentrum überprüft die Runden der Angestellten?«
»Briefzentrum?«, hakte Donnelly nach. »Augenblick mal, ich dachte, Sie suchen nach jemandem, der sich als Postbote verkleidet. Wieso interessiert Sie dann das Briefzentrum?«
»Ich darf die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass unser Täter ein echter Postbote ist. Es könnte ja sein, dass er alles, was er über die Frauen wissen musste, nur deshalb wusste, weil er ihre Post geöffnet hat. So könnte er erfahren haben, wo die Frauen arbeiten, ob sie verheiratet sind und ob sie Kinder haben. Auf diese Weise hätte er sogar in Erfahrung bringen können, wann Karen Green nach Australien fliegen wollte. Das alles erfährt er durch die Post. Würde er sich bloß als Postbote verkleiden, müsste er die Frauen über Wochen hinweg beobachten. Er müsste ständig wiederkommen, um dafür zu sorgen, dass sich nichts verändert hat. Ist er aber ein echter Postbote …«
»… braucht er bloß die Post zu überwachen.« Donnelly pfiff leise durch die Zähne. »Ein verdammter Postbote. Warum haben Sie das nicht dem Rest des Teams erzählt?«
»Featherstone hat mich gewarnt, öffentlich zu erwähnen, dass unser Täter womöglich bei der Post angestellt ist. Er meinte, wenn wir Pech haben, werden in den nächsten Tagen überall in South East London Postboten verprügelt. Behalten wir das also vorerst für uns.«
»Schon verstanden«, stimmte Donnelly zu. »Übrigens ist es South Norwood – das Briefzentrum, das all diese Bezirke betreut.«
»Alle drei?«
Donnelly kniff die Augen zusammen, während er sich an ältere Ermittlungen zu erinnern versuchte, bei denen die Postcodes in South East London eine Rolle gespielt hatten. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass South Norwood diese Viertel abdeckt.«
»Okay.« Corrigan seufzte. »Dann nichts wie hin.« Er sprang auf und suchte seine Sachen zusammen.
»Wir fahren zum Briefzentrum?«
»Wieso nicht?«
»Wäre der aktuelle Tatort nicht interessanter?«
»Nein.« Corrigan war anderer Meinung und suchte bereits Sallys Nummer in seinem iPhone. Sie nahm das Gespräch nach wenigen Klingeltönen entgegen.
»Sally, wir haben wieder eine Entführung.«
»Ich weiß. Paulo hat es mir gesimst.«
»Überprüfen Sie das Haus des Opfers, Sally. Fiona wartet dort auf Sie. Von ihr erfahren Sie die Anschrift. Sobald Sie etwas finden, melden Sie sich.« Er hatte das Gespräch schon beendet, ehe sie etwas erwidern konnte. Dann eilte er in das Großraumbüro und ging zu Detective Constable Cahill, die noch an ihrem Schreibtisch telefonierte.
»Augenblick«, sagte sie zu dem Gesprächspartner am anderen Ende, wobei sie die Muschel mit einer Hand abschirmte und zu Corrigan aufschaute.
»Fiona, simsen Sie DS Jones die Anschrift des Opfers. Dann fahren Sie dorthin und warten auf sie.«
»Geht klar«, willigte sie ein.
»Schon was Neues von Roddis?«
»Ich habe die Jungs gerade am Apparat.«
»Ah, gut. Bestellen Sie den Zeugen zum Haus des Opfers. Bringen Sie so viel wie möglich über ihn in Erfahrung.«
»Sie meinen Ihren Freund?«
»Ja. Und dann brauchen wir noch die Angaben zu ihrem Auto. Falls unser Mann nach bewährtem Muster vorgeht, hat er das Auto gestohlen und dann auf irgendeinem abgelegenen Parkplatz abgestellt. Wir müssen den Wagen finden und untersuchen lassen.«
»Ich kümmere mich um alles«, versicherte sie ihm.
»Prima«, sagte Corrigan und spürte plötzlich, dass Anna hinter ihm stand.
»Ist es okay, wenn ich mit Fiona zum Tatort fahre?«, fragte sie. Corrigan musterte sie einen Moment, da er ihre Absichten zu ergründen versuchte. Sie spürte seine Zurückhaltung. »Ich würde den Ort gern aus dem Blickwinkel des Verdächtigen sehen. Wer weiß, vielleicht erfahre ich etwas über ihn.«
»Okay, einverstanden«, stimmte er schließlich zu, ehe er sich Donnelly zuwandte und zum Großraumbüro nickte. »Sie alle halten mich auf dem Laufenden, verstanden?«, rief er in die Runde und verließ das Konferenzzimmer, ohne sich noch einmal umzuschauen. »Ich will sofort wissen, sobald jemand etwas Neues entdeckt«, rief er abschließend über die Schulter.
Die Teammitglieder sahen gerade noch, wie Corrigan sein iPhone über dem Kopf schwenkte, um zu zeigen, wie er am schnellsten zu erreichen war. Dann verschwand er durch die Schwingtüren.
*
Als Sally den Wagen vor Deborah Thomsons Haus parkte, fiel ihr sofort auf, wie sehr das Haus des jüngsten Entführungsopfers denen der anderen Frauen ähnelte. Wieder eines dieser uniformen modernen Stadthäuser mit separater Auffahrt und Unterstellplatz für das Auto. Auch bei Deborah Thomsons Haus war der Eingangsbereich von der Straße aus nicht einsehbar. Sally war kurz davor, Corrigan anzurufen, sagte sich dann aber, dass es noch warten konnte. Detective Constable Cahill wartete bereits vor dem Haus, in Begleitung eines kleinen, kräftigen Mannes Anfang dreißig, der gut frisiert und geschmackvoll gekleidet war. Sally fand, dass er für den Freund einer entführten Frau ziemlich gelassen wirkte, doch sie nahm sich vor, sich nicht vorab ein falsches Urteil über diesen Mann zu bilden. Sie brauchte erst noch Fakten.
Einen Augenblick lang blieb sie im Wagen sitzen, fand sich in ihre Rolle und stieg dann aus. Cahill stellte die beiden einander vor. »Sam, das ist DS Sally Jones. DS Jones, das ist Sam Ewart, Deborahs Freund. Er war es, der Deborah als vermisst gemeldet hat.«
Sally streckte dem Mann die Hand entgegen und sah Angst in seinem Blick. Darüber konnten weder die sorgfältig zurückgekämmten Haare noch die sonnengebräunte Haut hinwegtäuschen. Aber was hatte diese Angst ausgelöst? Die Sorge um Deborah oder die Furcht, überführt zu werden? Da Sally davon ausging, dass Cahill bereits Smalltalk gehalten hatte, nahm sie sich vor, den Mann ohne Umschweife mit ernsteren Fragen zu konfrontieren. Sie wollte herausfinden, wie dieser Sam Ewart wirklich gestrickt war.
»Warum haben Sie Ihre Freundin gleich als vermisst gemeldet? Vielleicht wollte sie sich nur nicht mit Ihnen treffen«, preschte Sally vor.
»Nein«, sagte Ewart und klang traurig und resigniert. »Wir wollten uns zum Frühstück sehen. Sie hatte sich darauf gefreut, ich weiß es. Und auch ich habe mich gefreut.«
»Wie lange sind Sie schon zusammen?«
»Erst seit ein paar Wochen.«
Sally musterte ihn von Kopf bis Fuß und glaubte zu wissen, warum er sich herausgeputzt hatte. Er wollte Deborah gefallen und mit seinem ansprechenden Äußeren beeindrucken, um die junge Beziehung am Laufen zu halten. »Hören Sie«, fuhr er fort, »ich weiß von den beiden anderen Frauen, die ebenfalls vermisst werden. Ich habe es im Fernsehen gesehen. Der Mann hat bereits eine umgebracht. Er hat sie doch entführt, oder nicht? Deshalb sind Sie doch hier? Weil Sie denken, dass er auch Deborah entführt hat?«
»Das können wir noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Manchmal nehmen Leute sich eine Auszeit. Sie brauchen ein bisschen Zeit für sich. Das hört sich jetzt vielleicht ein …«
»Nicht Deborah.« Ewart schüttelte energisch den Kopf. »Er hat sie gekidnappt, da bin ich mir sicher.« Ein Zittern durchlief seinen Körper, während er versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Haben Sie einen Schlüssel von ihrem Haus?«, wollte Sally wissen.
»Klar.« Er wühlte in der Hosentasche und reichte Sally zwei Schlüssel, einen für das Einsteckschloss, den anderen für das Sicherheitsschloss.
»Waren Sie schon drin?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Ich habe die Schlüssel erst vor einer Stunde bekommen. Für ihr Haus habe ich noch keinen eigenen Schlüssel. Die hier habe ich von einer Arbeitskollegin Deborahs aus der Klinik. Als sie mir die Schlüssel gab, erfuhr ich von der Polizei, dass ich das Haus nicht betreten darf.«
Sally nickte. Sie überlegte, die Aufgabe an Cahill zu delegieren, hatte aber Angst, allein mit Ewart vor dem Haus warten zu müssen und seine Furcht und seinen Kummer zu spüren. Dann lieber allein in das Haus, sagte sie sich im Stillen.
»Ich muss mich kurz im Haus umschauen«, sagte sie zu Cahill. »Sie warten hier mit Mr. Ewart.«
»Sollten wir nicht erst die Forensiker abwarten?«, gab Cahill zu bedenken.
»Der Chef will, dass ich zuerst einen Blick hineinwerfe. Außerdem haben wir noch gar nicht überprüft, ob das Opfer nicht vielleicht doch zu Hause ist.« Sally bereute augenblicklich, Deborah in Ewarts Beisein als Opfer bezeichnet zu haben, und hätte sich beinahe entschuldigt, hielt sich aber zurück, befürchtete sie doch, den Fehler dadurch nur noch hervorzuheben. »Bin gleich wieder da.«
Nachdem sie die Sicherheitsschlösser geöffnet hatte, drückte sie die Tür ein Stück auf und spähte ins Halbdunkel des kleinen Hauses. Die Wärme der Zentralheizung wallte ihr aus dem Flur entgegen und strömte in die Kühle des Frühlingstages. »Hallo«, rief sie gedämpft in die Stille des Hauses. Ihre Stimme war belegt, ihr Hals trocken. Sie räusperte sich, ehe sie mit festerer Stimme rief: »Polizei. Ist jemand zu Hause?«
Keine Antwort.
Vorsichtig trat Sally über die Schwelle, drückte die Tür aber nicht ganz ins Schloss, sondern ließ sie einen Spalt offen für den Fall, dass sie schnell fliehen musste. Als sie sich von der Haustür entfernte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten. Langsam wagte sie sich weiter vor in den einstigen Zufluchtsort von Deborah Thomson, wo das erste von vielen Verbrechen an dieser Frau verübt worden war.
Sally ging langsam über den Flur und schaute hin und wieder zu Boden, um nicht unbedacht über Indizien zu stolpern – zurückgelassen in all dem Irrsinn, der Deborah Thomsons kleine Welt aus den Fugen gerissen hatte. Bald wurden Sallys Schritte sicherer. Die jahrelange Erfahrung steigerte ihr Selbstbewusstsein und leitete sie durch das Haus, ohne dass sie bewusst nachdenken musste, was sie zu tun oder zu lassen hatte.
Als sie an der Wand die Bedienkonsole einer Alarmanlage entdeckte, trat sie näher. Die Anlage war nicht aktiviert, die Lämpchen leuchteten grün. Hatten auch die anderen Häuser Alarmanlagen gehabt? Sally erinnerte sich, wie sie durch Karen Greens Haus geschlichen war, und ging die Berichte über die anderen Tatorte durch. Sie war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, dass beide Häuser alarmgesichert waren. Doch die Anlagen waren ebenfalls nicht aktiviert worden. Offenbar kannte der Entführer sich nicht sonderlich mit Alarmanlagen aus – ein Grund mehr, weshalb er tagsüber gekommen war und Betäubungsmittel benutzte. Wahrscheinlich hätte er nachts nicht gewusst, wie man die Anlagen abstellte.
Die Küche lag am Ende des Flurs, aber Sally wollte erst den Raum direkt zu ihrer Rechten überprüfen. Die Tür stand halb offen. Während sie durch den Spalt spähte, hoffte sie, ein leeres Zimmer vorzufinden, denn eine Leiche würde sie in ihrer jetzigen Verfassung aus der Bahn werfen. Ihr behagte auch die Vorstellung nicht, auf eine verkaterte Deborah Thomson zu stoßen, die trotz der Rufe nicht reagiert hatte. Auch wenn dadurch die Suche nach einer vermissten Frau schnell und unkompliziert zu Ende gegangen wäre – auf Überraschungen dieser Art konnte Sally verzichten.
Vorsichtig schob sie die Tür auf und machte sich darauf gefasst, im Ernstfall die Flucht zu ergreifen. Instinktiv griff sie nach dem Teleskopschlagstock an ihrem Gürtel, wodurch sie sich ein wenig sicherer fühlte. Dann stieß sie die Tür ganz auf und blickte ins Wohnzimmer der fremden Frau. Die modernen Möbel sahen billig aus, und die Sitzgruppe aus Lederimitat legte die Vermutung nahe, dass Deborah ein möbliertes Haus gemietet hatte. Die ganze Einrichtung sah unpersönlich aus, verschlissen. Auf dem Sofa und dem Fußboden lagen Zeitschriften, in Plastikrahmen hingen Drucke von Monet und Cezanne an den Wänden. Auf einem alten grauen Röhrenfernseher mit kleinem Bildschirm stand ein Digitalreceiver. Sally fiel ein, dass Deborah Krankenschwester war. Offenbar ging ein Großteil des Gehalts für die Miete drauf – selbst die Sammlung von CDs und DVDs war alles andere als eindrucksvoll. »Vielleicht hast du ein ganz anderes Leben als ich«, wisperte Sally in die Stille. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie das Zimmer verließ und die Tür halb zuzog, immer darauf bedacht, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Nach wenigen Schritten fand sie sich in der Küche wieder und schaute sich um. Langsam ließ sie die Blicke über die Einrichtung und die Wände schweifen. Sie glaubte, den Geruch der letzten Mahlzeit wahrnehmen zu können. Die Düfte schienen noch an den Türen der Hängeschränke und der Arbeitsfläche zu haften, verstärkt durch die Hitze in der Küche. Die Fenster waren fest verschlossen, da es während der letzten Tage winterlich kalt gewesen war.
Kaum hatte sie die Anrichte erreicht, fiel ihr Blick auf eine braune Handtasche, die auf dem Küchentisch lag. Daneben lag ein schlichtes Handy, das in Abständen summte, um den Besitzer daran zu erinnern, dass er oder sie Anrufe oder SMS verpasst hatte. Bei dem Gedanken, dass Deborah Thomson diese Nachrichten womöglich nie lesen würde, durchzuckte es Sally heiß. Sie schüttelte diese bedrückende Vorstellung ab, konnte aber nicht verhindern, den bitteren Geschmack von Galle auf der Zunge zu spüren.
Sie trat an den Küchentisch und versuchte, einen Blick in die Handtasche zu werfen, ohne sie anzufassen, aber das klappte nicht. Sie fluchte leise, da sie Latexhandschuhe vergessen hatte, nahm stattdessen einen Kugelschreiber aus der Jackentasche und stocherte damit in der Handtasche herum. Kurz darauf bestätigte sich ihr Verdacht, auch wenn sie den Inhalt der Tasche nicht auf dem Tisch hatte ausbreiten dürfen: Deborahs Handy war noch im Haus, nicht aber die Hausschlüssel und der Autoschlüssel. Für Sally war dies der endgültige Beweis, dass Deborah Thomson von jenem Mann entführt worden war, den sie jagten. Sie musste Corrigan anrufen.
Während sie die Nummer heraussuchte, hörte sie eine Stimme an der Haustür und erschrak. Beinahe hätte sie das Handy fallen lassen. Es war Anna. »Sally? Sind Sie da?«
»Nicht hereinkommen«, rief Sally, doch Anna ignorierte die Warnung und kam in den Flur. »Das ist ein Tatort, Anna. Hier dürfen Sie gar nicht sein.«
»Sorry, aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Ich hielt es für besser, wenn Sie nicht allein sind.«
»Mir geht es gut«, log Sally. »Was wollen Sie eigentlich hier?«
»Ich bin zusammen mit Detective Constable Cahill gekommen.«
»Tatsache? Ich habe Sie gar nicht gesehen, als ich hier angekommen bin.«
»Konnten Sie auch nicht, weil ich mir die Straße angeschaut habe.«
»Wieso?«
»Ich habe versucht, die Dinge mit den Augen des Täters zu sehen.«
Sally seufzte. »Nicht auch noch Sie!«
»Bitte?«
»Ach, nichts. Wenn Sie schon im Haus sind, halten Sie sich im Flur bitte ganz rechts, damit Sie keine Spuren verwischen.«
»Ich weiß, wie man sich an einem Tatort zu bewegen hat«, sagte Anna und kam zu Sally in die Küche. »Irgendwas gefunden?«
»Ihre Handtasche und das Handy liegen hier, aber die Schlüssel fehlen.«
»Also wieder er?« Sally ging auf die Frage nicht ein. »Ich bin wirklich der Meinung, dass Sie für so was noch nicht wieder bereit sind«, beharrte Anna. »Sie sollten sich mehr Zeit gönnen. Sagen Sie Corrigan, dass Sie langsam wieder in die Ermittlungsarbeit hereinwachsen möchten.«
»Sie verstehen das nicht«, wisperte Sally. »Wenn ich das zu Corrigan sage, bin ich erledigt. Er würde mich an die psychiatrische Hilfe verweisen, und damit wäre meine Karriere beim Morddezernat zu Ende. Ich bin Cop. Wir dürfen uns nicht helfen lassen. Von uns erwartet man, dass wir mit den Dingen klarkommen, egal was passiert. Sind wir nicht mehr dazu in der Lage, können wir den Job an den Nagel hängen. Corrigan ist ein netter Mann, aber wenn er den Eindruck hat, ich bin für ihn oder das Team eine Bürde, wird er versuchen, mich loszuwerden. So würde jeder Chef handeln.«
»Ich glaube, Sie unterschätzen Corrigan.«
»Er ist ein Cop«, betonte Sally. »Er könnte gar nicht anders handeln. Ein Cop kann nicht aus seiner Haut.«
»Dann kommen Sie auf privater Basis zu mir. Ich verspreche Ihnen, dass ich alles streng vertraulich behandeln werde. Das Team würde nichts davon erfahren. Wir alle brauchen gelegentlich jemanden, bei dem man sich aussprechen kann, Sally, insbesondere nach einem Vorfall, der das eigene Leben dramatisch verändert hat.«
»Mag sein«, erwiderte Sally. »Aber …«
Eine laute, wütende Stimme an der Haustür unterbrach die beiden Frauen in ihrem Gespräch.
»Was haben Sie beide hier an meinem Tatort zu suchen?«, rief Detective Sergeant Roddis. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Keiner rührt sich von der Stelle, verstanden? Ich muss mir erst Ihre Schuhe ansehen. Wenn Sie Glück haben, erlaube ich Ihnen, Ihre Kleidung anzubehalten.«
*
In Begleitung Donnellys betrat Corrigan das große, weitläufige Gebäude, in dem sich das Briefzentrum South Norwood befand. Corrigan beendete das Telefonat mit Sally und ließ das Handy in der Tasche seines Regenmantels verschwinden.
»Und?«, meinte Donnelly.
»Das war Sally, vom Tatort. Alles deutet darauf hin, dass unser Mann Miss Thomson gekidnappt hat.«
»Die Sache entgleitet uns allmählich«, sagte Donnelly gereizt. »Ein drittes Opfer – die Medien drehen bald durch.«
»Ein Grund mehr, die Sache zu Ende zu bringen, und zwar schnell.« Corrigan blickte sich bereits in dem hallenartigen Gebäude um. Die hohen Decken und die an den Wänden verlaufenden Rohrleitungen erinnerten eher an den Bauch eines riesigen Schiffes als an einen Ort, an dem die Post sortiert wurde. Angestellte in der Uniform der Royal Mail mischten sich unter zivil gekleidete Mitarbeiter, was den Eindruck von Unübersichtlichkeit verstärkte.
Corrigan stellte fest, dass diesem ungeordneten Durcheinander jegliche Struktur fehlte. Offenbar mangelte es hier an Führungspersonal. Obwohl einige Angestellte die Neuankömmlinge argwöhnisch musterten, fühlte niemand sich bemüßigt, Corrigan oder Donnelly anzusprechen. Schließlich verlor Corrigan die Geduld und packte sich den nächstbesten Mann, der an ihnen vorbeiging. »Ich möchte den Abteilungsleiter sprechen«, verlangte er.
»Die Treppe nach oben«, antwortete der Mann. »Erster Stock.« Corrigan folgte dem Blick des Mannes und sah weiter hinten eine Wendeltreppe aus Metall. »Dann den Schildern folgen«, fügte der Mann hinzu, verstumme dann aber, da er die unfreundlichen Blicke der Kollegen spürte.
»Danke«, sagte Corrigan, ließ den Mann aber erst nach ein paar Sekunden los. Der Angestellte huschte davon und warf einen verunsicherten Blick über die Schulter.
Die Detectives durchquerten die Halle und sahen allen, die ihnen entgegenkamen, fest in die Augen, in der Hoffnung, jemand würde sich verraten oder die Flucht ergreifen. Aber das war Wunschdenken. Dennoch: Corrigan stellte sich vor, dass er dem Verdächtigen nur in die Augen zu blicken brauchte, um herauszufinden, ob es der Täter war, den sie seit Tagen suchten.
Die Schuhsohlen klackten laut auf den Metallstufen. »Diese Treppen sind die Hölle für meine armen Knie«, jammerte Donnelly. Corrigan ging darauf nicht ein, denn er stellte sich bereits auf den Abteilungsleiter ein, den sie jeden Augenblick sprechen würden, und ging die Fragen durch, die er an den Mann hatte: Zuckerbrot und Peitsche, um an die gewünschten Informationen zu kommen.
Am oberen Treppenabsatz blieb er stehen, schaute sich um und verzog das Gesicht, als ihm der Geruch der abgestandenen Luft aus den langen Korridoren in die Nase stieg. Einen Moment vertiefte er sich in die Geräuschkulisse, die ein Gebäude wie dieses erst lebendig werden ließ.
Donnelly war weitergegangen und merkte erst mit Verzögerung, dass sein Chef stehen geblieben war. »Probleme?«
Corrigan bedeutete ihm mit einer Geste, ihn nicht in seinen Gedanken zu stören. »Er arbeitet hier«, sagte er nach einer kurzen Pause und nickte, als wollte er sich selbst bestätigen. »Unser Mann ist tatsächlich Postbote und arbeitet hier in diesem Gebäude, in diesem Briefzentrum.«
»Kann sein.«
»Nein, es ist so«, beharrte Corrigan, die Augen halb geschlossen, als lausche er in die Weiten der Gänge.
»Woher wissen Sie das? Wir wissen ja nicht mal, ob dieses Briefzentrum wirklich die Bezirke abdeckt, in denen die Opfer wohnten.«
»Alles hier … es fühlt sich richtig an. Ich spüre, dass er hier ist. Sie nicht auch?«
»Sagen wir so: Sollte sich herausstellen, dass der Kerl wirklich hier arbeitet, falle ich nicht gleich vom Hocker«, meinte Donnelly. »Aber jetzt sollten wir versuchen, den Abteilungsleiter zu finden, Chef. Dann hätten wir womöglich handfestere Beweise und bräuchten uns nicht auf das Bauchgefühl zu verlassen.«
Corrigan kehrte aus seinem tranceähnlichen Zustand zurück. »Ja, klar. Sie haben recht. Kommen Sie.«
Der Angestellte, den sie unten gefragt hatten, hatte nicht übertrieben. Es hingen tatsächlich überall Schilder. Auf einem stand »Abteilungsleiter«. Die Detectives gingen in die Richtung, in die der Pfeil wies. Sie kamen durch schmale, schlecht ausgeleuchtete Gänge, vorbei an billigen Holztüren, auf denen weiße Namensschildchen aus Plastik prangten. Es war Samstag; die meisten der kleineren Zimmer waren bereits leer. Doch die Detectives drangen tiefer in das Stockwerk des Postgebäudes vor, auf der Suche nach Lebenszeichen.
»Also wirklich, Chef«, spöttelte Donnelly, »verglichen mit diesem tristen Schuppen sehen durchschnittliche Polizeireviere fröhlich aus.«
»Und auf Sicherheit legen die hier auch keinen großen Wert«, stellte Corrigan nüchtern fest.
Sie gingen so lange weiter, bis sie einen Raum erreichten, in dem jemand an einem Schreibtisch saß. Von dem Mann waren nur die Schulterpartie und der Rücken zu sehen. Auf dem Schild neben der Tür stand »Nur für Abteilungsleiter«. Corrigan klopfte an den Türrahmen und wartete, dass der Mann sich zu ihnen umdrehen würde. Doch er kehrte ihnen weiterhin den Rücken zu.
»Wenn Sie Überstunden machen möchten, bitte schön, wir haben genug davon. Wenn Sie eine andere Route nehmen wollen, müssen Sie erst das Formular hier ausfüllen«, erklärte der Mann, ohne aufzuschauen.
»Ich werd’s mir merken«, sagte Donnelly.
Jetzt drehte der Mann sich zur Tür um. »Wer sind Sie und was wollen Sie?«, fragte er mit dem Akzent der Westindischen Inseln.
Corrigan musterte den dunkelhäutigen Mann einen Moment lang. Er hatte schütteres graues Haar und einen dazu passenden Vollbart, trug eine Brille mit billigem Kassengestell, eine braune Strickjacke und eine locker fallende graue Hose, unter der Schuhe hervorlugten, die wie Slipper aussahen. Vom Äußeren her hätte man den älteren Herrn eher vor dem alten Elektroofen seines heimischen Wohnzimmers vermutet als in einem Bürotrakt. Die Pensionierung war in Sichtweite, und offenbar stellte der Mann sich langsam auf diesen Lebensabschnitt ein.
Corrigan zeigte seinen Dienstausweis. »Detective Inspector Sean Corrigan, und das ist mein Kollege Detective Sergeant Donnelly. Wir hätten ein paar Fragen.«
»Falls Sie hier sind, um einen der Angestellten festzunehmen, wenden Sie sich bitte an die Personalabteilung der Postdirektion. Ich möchte mit so etwas nichts zu tun haben. Wenn ich da mitmische, kriegt die Gewerkschaft Wind von der Sache, und dann knüpfen die mich an den nächsten Baum, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Wir sind nicht an Angestellten interessiert, die Kreditkarten oder Bargeld aus Briefumschlägen von Oma XY gestohlen haben. Kein Grund, die Personalabteilung der Postdirektion zu bemühen«, ließ Donnelly ihn wissen.
»Wieso kommen Sie dann zu mir?«
»In letzter Zeit ferngesehen? Oder mal einen Blick in die Zeitungen geworfen, Mister …?«, fuhr Donnelly fort.
»Leonard Trewsbury. Ich bin hier der Abteilungsleiter. Und wenn Sie wissen wollen, ob ich weiß, was in der Welt so vor sich geht, lautet die Antwort ja.«
Corrigan registrierte, dass der Mann kluge, wache Augen hatte. In seinem ganzen Verhalten lag eine nicht zu leugnende Integrität. »Dann wissen Sie vielleicht auch, dass in letzter Zeit mehrere Frauen entführt wurden. Eine von ihnen wurde ermordet aufgefunden.«
»Ja, ich hab davon gehört«, erwiderte Trewsbury. »Furchtbare Sache, aber es passieren nun mal schreckliche Dinge. Aber das wissen Sie besser als ich, meine Herren.«
Corrigan war der Mann nicht unsympathisch. Die anfangs etwas brüske Art und der leicht drohende Unterton wichen der Bereitschaft zur Kooperation.
»Ich brauche Ihre Hilfe. Es könnte ein Leben retten, vielleicht zwei.«
»Zwei?«, fragte Trewsbury. »Darf ich daraus schließen, dass der Mann, den Sie suchen, noch eine weitere Frau entführt hat?«
»Ja, leider«, bestätigte Corrigan.
»Mit welcher Auskunft kann ich dienen?«
»Wir brauchen Zugang zu sämtlichen Arbeitsverträgen, Informationen über die Angestellten und eine Liste mit unangekündigten Fehlstunden.«
»Das kann ich Ihnen ohne Herausgabeanordnung nicht aushändigen, meine Herren. Außerdem müsste ich erst mit der Direktion sprechen. Diese Informationen darf ich nicht einfach so herausgeben.«
»Ich habe keine Zeit, den Dienstweg einzuhalten, Mr. Trewsbury«, sagte Corrigan. »Eine der Frauen, die der Unbekannte festhält, hat möglicherweise weniger als achtundvierzig Stunden zu leben, es sei denn, wir finden sie. Sie heißt Louise Russell, und sie hat es nicht verdient zu sterben, nur weil die Bürokratie im Weg ist.« Die drei Männer sahen einander an, ehe Corrigan fortfuhr. »Alles, was Sie uns erzählen, bleibt unter uns. Es wird nicht mal nach außen dringen, dass wir überhaupt mit Ihnen gesprochen haben. Sagen Sie uns, was wir wissen müssen, und dann finden wir schon einen Weg, es so aussehen zu lassen, als wären die Informationen aus einer anderen Richtung gekommen, das verspreche ich. Aber ich kann dieses Haus nicht ohne Informationen verlassen, die unter Umständen ein Menschenleben retten, nur weil ich kein Formularblatt habe, das ein Amtsrichter unterschrieben hat. Das geht nicht, verstehen Sie?«
Trewsbury überlegte einen Augenblick. »Ja, vermutlich haben Sie recht. Also, was wollen Sie von mir wissen?«
Corrigan zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Mantels. »Hier stehen die Adressen der jungen Frauen, die entführt wurden. Ich muss wissen, welche Postboten in diesen Bezirken die Briefe austragen.«
»Warten Sie einen Moment«, sagte Trewsbury. »Ich muss mich erst einloggen, um Ihnen mehr sagen zu können.« Er tippte die Postcodes in den Rechner und wartete. »Diese Adressen liegen auf unterschiedlichen Routen unserer Mitarbeiter. Augenblick … die Männer heißen Mathew Bright, Mike Plant und Arif Saddique.«
»Gab es in letzter Zeit Probleme mit einem dieser Männer?«, wollte Corrigan wissen.
»Nein, alles verlässliche Mitarbeiter. Unauffällig, bleiben für sich.«
»Hat der eine vielleicht mal die Route des Kollegen übernommen, weil jemand krank war oder Urlaub hatte?«
»Diese Infos finden Sie nicht in diesem System, fürchte ich. Das wird in Listen festgehalten. Aber es dauert, bis wir alles abgeglichen haben. Ich mache das für Sie, wenn Sie die Infos brauchen, aber das geht nicht von jetzt auf gleich.«
»Die Zeit habe ich nicht.« Corrigan rieb sich die Schläfen. »Wie sah es gestern aus? Wer hatte die Route unten in Streatham?«
»Mathew Bright«, antwortete Trewsbury ohne zu zögern. »Ist seine tägliche Runde.«
»Aber der Zeitpunkt, den ich brauche, ist am Nachmittag«, erklärte Corrigan. »Irgendwann nach zwei Uhr. Wahrscheinlich zu spät für die Post, oder?«
»Nicht unbedingt«, meinte der Abteilungsleiter. »Wir haben so viel Rückstand, wir bezahlen dauernd Überstunden, damit unsere Jungs mit dem Austragen nachkommen. Gestern war es nicht anders. Mathew hat bis um sechs Uhr abends durchgearbeitet.«
»Beschreiben Sie ihn«, bat Corrigan. »Erzählen Sie mir etwas über Mathew Bright.«
»Das ist nicht der Mann, den Sie suchen, Inspector«, sagte Trewsbury. »Den kenne ich seit vielen Jahren. Er ist ein ehrlicher Familienmensch, der ab und an mit den Kollegen ein Pint trinkt. Ich denke, er gehört nicht zu den hellsten Köpfen, aber er ist verlässlich und vorhersehbar.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist Weißer, Mitte vierzig, stämmig …«
»Okay, er kann es nicht sein«, unterbrach Corrigan ihn. »Und die anderen beiden? Wie sehen die aus?«
»Plant ist ebenfalls weiß, Saddique stammt aus Asien, beide sind über fünfzig …«
Corrigan unterbrach ihn erneut. »Über fünfzig?«
»Schätzungsweise, ja.«
»Die können es auch nicht sein.«
»Soll ich noch etwas für Sie ausprobieren, Inspector«, bot Trewsbury an.
»Gibt es hier einen Mitarbeiter, der Ihnen Sorge bereitet – weil er sich vielleicht sonderbar benimmt, zu Gewaltausbrüchen neigt oder sich abkapselt? Jemand, der keinen an sich heranlässt?«
»Wir haben hier Hunderte von Mitarbeitern. Einige sind seit Jahren hier, andere erst seit Kurzem. Vollzeitjobs, Teilzeitkräfte – Sie kennen das. Einige von denen sind gewiss keine Engel, aber keiner der Jungs macht mir wirklich Scherereien. Jedenfalls nichts, womit ich nicht fertig würde. Einige Jungs hocken zusammen und meinen, ihnen gehört der Laden, wissen Sie? Ab und an machen sie anderen Kollegen die Hölle heiß, aber das sind die üblichen Streitereien. Hunde, die bellen, beißen nicht. Bei keinem von denen habe ich den Eindruck, dass sie wirklich tun könnten, was sie den anderen androhen. Wenn da was vorgefallen wäre, wüsste ich davon.«
»Nicht immer ganz leicht mit der Belegschaft, wie?«, sagte Corrigan. »Haben Sie Fotos von den Männern, die hier arbeiten?«
»Ja.«
»Könnte ich einen Blick darauf werfen?«
»Glauben Sie mir, Inspector, ich will Ihnen gern helfen, aber das darf ich nicht. Wenn ich jetzt Personalakten hervorhole, erfährt irgendwann doch jemand, dass ich es war, der die Daten unerlaubterweise herausgerückt hat. Es tut mir leid, aber mir sind die Hände gebunden.«
»Okay, verstehe. Aber wenn es etwas anderes wäre, würden Sie mir dann helfen? Etwas, das man nicht so leicht nachvollziehen kann. Etwas, das nicht im Computersystem ist?«
»Fragen Sie.«
»Ich suche jemanden, der im Laufe des letzten Jahres diese drei Routen gegangen ist, nacheinander oder zeitlich versetzt. Vielleicht waren es seine Routen, vielleicht hat er einen Kollegen vertreten. Das wäre doch in den Listen vermerkt, von denen Sie sprachen?«
»Sicher.«
»Könnten Sie das für mich checken? Würden Sie die Listen durchgehen?«
»Das dauert aber seine Zeit.«
»Ich weiß, aber würden Sie das für mich tun?«
Trewsbury überlegte einen Moment und atmete aus. »In Ordnung. Aber falls jemand mit dem Finger auf mich zeigt, streite ich alles ab.«
»Einverstanden.«
»Also, wenn ich Ihnen sonst nicht weiterhelfen kann, meine Herren. Hier wartet noch einiges an Arbeit auf mich.«
»Sie glauben gar nicht, was für einen Gefallen Sie mir tun«, bedankte Corrigan sich und reichte ihm seine Karte. »Rufen Sie mich an, sobald Sie etwas herausgefunden haben, ganz gleich, wie spät es ist. Ich bin rund um die Uhr erreichbar.«
»Mache ich«, versprach Trewsbury.
»Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.« Corrigan ging zur Tür. »Ach, eine Sache noch.«
»Ja?«
»Ist es während der letzten Monate zu ungewöhnlichen Diebstählen gekommen? Sind Drogen oder medizinische Instrumente abhandengekommen?«
»Warum fragen Sie?«
»Das kann ich nicht sagen. Wenn ich es dürfte, würde ich es tun. Ich muss es trotzdem wissen.«
Trewsbury nickte ernst. Die Vorstellung, einen Mitarbeiter zu haben, der eine junge Frau getötet hatte, beschäftigte ihn sehr. »Ja, vor ein paar Monaten gab es einen Vorfall dieser Art, Inspector.«
»Erzählen Sie«, ermunterte Corrigan ihn.
»Eine Warensendung wurde vermisst. Alfentanil. Wir forschten intern nach, aber wer auch immer das Betäubungsmittel an sich genommen hat, er wurde nie gefasst.«
»Laufen tatsächlich Sendungen mit Betäubungsmitteln durch diese Sortierstelle?«, fragte Donnelly ungläubig.
»Aber sicher«, erklärte Trewsbury. »Insbesondere kleinere Mengen, die fürs Ausland bestimmt sind. Meist für Hilfsorganisationen in Indien oder so. Die Post bietet immer noch die preiswerteste Möglichkeit für kleinere Sendungen, auch wenn man oft etwas anderes hört.«
»Aber diese Warensendungen haben Sie in einer gesonderten Abteilung, oder?«, fragte Corrigan.
»Ja, wir lagern sie in einem speziellen Raum. Aber jemand hat sich dort Zutritt verschafft und das Alfentanil gestohlen. Niemand hat etwas gesehen.« Er seufzte.
»Was ist mit Kameraüberwachung?«
»Fehlanzeige. Die Gewerkschaften erlauben es nicht – sie berufen sich auf einen Beschluss der Europäischen Kommission für Menschenrechte.«
»Ein schlechtes Beispiel für internationale Gesetzgebung.« Donnelly schüttelte den Kopf. »Also gut. Sobald Sie etwas wissen, rufen Sie mich an, Mr. Trewsbury.«
»Keine Sorge«, versprach der Abteilungsleiter. »Warten Sie.« Er kritzelte etwas auf einen Notizblock, riss das Blatt ab und reichte es Corrigan. »Meine Handynummer, falls ich nicht im Dienst bin, wenn Sie etwas wissen wollen. Ich sollte das wahrscheinlich besser nicht tun, aber was soll’s, zum Teufel.«
Corrigan nahm den Zettel und ließ ihn in seiner Manteltasche verschwinden. »Das ist nett, vielen Dank.«
Trewsbury schaute den beiden Detectives nach, die das Büro verließen und im Zwielicht des Flurs verschwanden. Dabei kaute er auf seinem Bleistift und dachte einen Moment über Corrigan nach. Typen wie Donnelly hatte er während seiner Dienstjahre bei der Post schon dutzendweise kennengelernt, aber Corrigan war anders. Diesem Mann wohnten eine seltene Hartnäckigkeit und Entschlusskraft inne. Trewsbury nahm sich vor, alles zu tun, um Corrigan bei den Ermittlungen zu helfen.
Während die Detectives den gleichen Weg nahmen, den sie gekommen waren, dachte Corrigan an den Unbekannten, den sie jagten. Überall in dem riesigen Gebäudekomplex glaubte er ihn zu sehen. Er malte sich aus, wie der Mann vor den großen Sortierregalen stand und die Post für die Route zusammenstellte. Er sah, wie der Mann die Wendeltreppe nach oben stieg, auf dem Weg in die Kantine oder sogar in Trewsburys Büro; die Absätze seiner Schuhe klackten auf den Metallstufen, seine Hand schloss sich um das Geländer. Corrigan hoffte, die Witterung aufnehmen zu können oder die Fährten zu lesen, die seine Beute hinterließ. In seiner Vorstellungswelt ging er unmittelbar hinter dem gesichtslosen Mann, legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn langsam zu sich um. Und eines stand für ihn fest: Er brauchte dem Mann nur einmal tief in die Augen zu sehen – dann wusste er, ob er den Killer gestellt hatte.
Er wurde von Donnellys dröhnender Stimme in seinen Gedanken unterbrochen. Der Akzent, eine Mischung aus Glasgow und London, klang noch rauer, da Donnelly seit gut fünfundzwanzig Jahren an die dreißig Zigaretten am Tag rauchte. Wann immer er in einem Gebäude war, fühlte er sich von den »Rauchen Verboten«-Schildern gegängelt und konnte es kaum abwarten, sich im Freien eine Zigarette anzustecken und die Lungen mit dem nikotinhaltigen Rauch zu füllen. »Was unternehmen wir als Nächstes?«
»Er arbeitet hier«, sagte Corrigan. »Es passt alles zusammen. Ich hätte früher darauf kommen müssen.«
»Sie sollten sich einen Augenblick Zeit nehmen, Chef, und nicht vorpreschen. Verstehen Sie mich nicht falsch, theoretisch ergibt es Sinn, was Sie sagen. Aber wir haben keine Beweise. Wir haben nur einen Zeugen, der sagt, dass er Werbeprospekte bekam, obwohl er bei der Postdirektion ausdrücklich gesagt hat, dass er keine Werbesendungen mehr wünscht. Mehr haben wir nicht in der Hand, und …«
»Wir brauchen DNA-Proben von allen Leute, die hier arbeiten«, fiel Corrigan ihm ins Wort. »Wir vergleichen sie mit den Proben von Karen Green, und dann ist er geliefert. Game over, verdammt noch mal.«
»Aber das braucht Zeit und muss organisiert werden«, rief Donnelly ihm in Erinnerung. »Heute ist Samstag, morgen Sonntag, da läuft nichts. Das Briefzentrum hat geschlossen, und niemand vom Yard wird uns genehmigen, Speichelproben von der gesamten Belegschaft hier zu nehmen. Sie wissen doch, wie das läuft. Endlose Diskussionen mit den Herren aus den oberen Etagen, richterliche Beschlüsse und so weiter. Mit etwas Glück hätten wir frühestens Dienstag eine Vollmacht. Die Proben könnten wir aber nicht vor Mittwoch oder Donnerstag nehmen.«
»Ich weiß, das dauert zu lange. Deshalb müssen wir sofort handeln.« Corrigan klang verzweifelt.
»Chef, das geht nicht«, sagte Donnelly eindringlich. »Das kriegen wir nie hin.«
»Und was schlagen Sie vor, Dave?«
»Ich weiß es nicht, aber wir sollten uns nicht darauf versteifen, Speichelproben von Hunderten von Leuten zu nehmen, um Louise Russell zu finden. So viel Zeit haben wir nicht. Sie ist am Arsch, und wir auch.«
Corrigan zuckte zusammen angesichts der krassen Beschreibung ihrer aussichtslosen Lage. »Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen.«
»Hören Sie, Chef, ich habe mehr als einmal erlebt, dass Sie imstande sind, Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Aber darauf können wir uns nicht immer verlassen. Ich meine … wir laufen hier herum, gehen Spuren nach und befragen Zeugen, aber das ist eigentlich gar nicht unser Job. Die Detective Constables und Polizisten sollten das machen. Wir müssten im Büro die Berichte checken, die uns die anderen auf den Schreibtisch legen. Der Teufel steckt im Detail, und genauso müssen wir an die Sache herangehen, wenn wir diesen Schweinehund kriegen wollen.«
»Ich weiß, ich weiß«, lenkte Corrigan widerwillig ein und wurde ein wenig ruhiger. »Aber ich musste hierherkommen, musste mich hier umschauen. Sonst haben all die Berichte und Zeugenaussagen keine Bedeutung für mich, verstehen Sie? Genauso gut könnte ich auf ein leeres Blatt Papier starren. Ich muss ihn fühlen. Wir tun das, was Sie vorschlagen, aber nicht sofort. Ich bin noch nicht so weit.«
»Okay, aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit«, warnte Donnelly ihn. »Es wäre besser für uns alle.«
*
Thomas Keller stand nackt vor dem verschmierten Spiegel des Badezimmerschranks, der ein wenig schief an der Wand hing. Ein modriger Geruch erfüllte das Zimmer, in dem sich dunkle Schimmelspuren über die Wände zogen. Die ehemals weiße Versiegelung in der Dusche war weggefault. Kaltes Wasser sprühte aus dem Duschkopf in die leere Kabine, während Keller die Wunden betrachtete, die Deborah Thomson ihm im Gesicht zugefügt hatte. Vorsichtig berührte er die tiefen Kratzspuren unter den Augen und zupfte an den blutigen Krusten auf seinen Wangen. Bei dem stechenden Schmerz stöhnte er auf. Das entstellte, hässliche Gesicht des Mannes, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, ließ ihn zusammenzucken. War sie gar nicht diejenige, die er suchte? Vielleicht war sie nicht die echte Sam, nur wieder eine dieser betrügerischen Huren, die herkamen, um ihn zu vernichten. Die Verletzungen in seinem Gesicht verrieten ihm, dass er ernsthaft darüber nachdenken müsste.
Er nahm den Wattebausch, den er mit einem Antiseptikum getränkt hatte, holte tief Luft und tupfte die erste Wunde damit ab. Der Schmerz kam mit Verzögerung, brannte dann aber so heftig, dass Keller in den Spiegel schrie. Immer wieder tauchte er den Bausch in die Flüssigkeit und jammerte jedes Mal wie ein Kind, wenn er eine Verletzung verarztete. Und die ganze Zeit rauschte die Dusche im Hintergrund, wie Regen an einem tristen Herbsttag.
Als er meinte, die Wunden ausreichend versorgt zu haben, war er erleichtert, das Risiko einer Infektion gebannt zu haben. Aber er wusste auch, dass es eine Weile dauern würde, bis die Wunden verheilt waren. Vielleicht blieben sogar Narben zurück. Er dankte dem Gott, der ihn schon lange verlassen hatte, dass erst Samstag war. Vor Montag brauchte er nicht auf der Arbeit zu erscheinen. Bis dahin würden die Wunden, hoffte er zumindest, schon ein bisschen abgeheilt sein. Außerdem hatte er sich eine passende Ausrede überlegt.
Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich unter die kalte Dusche zu stellen, um das Brennen des Antiseptikums ertragen zu können. Als er unter dem kalten Strahl stand, verschlug es ihm einen Moment lang den Atem. Die Wassertropfen trafen ihn wie tausend scharfe Nadeln. Er öffnete den Mund, rang nach Luft, doch er war so verkrampft, dass sein Zwerchfell rebellierte. Allmählich gewöhnte er sich an die Kälte und spürte zu seiner Erleichterung, wie das kalte Wasser seine Sinne belebte und seinen Geist erfrischte. Er fühlte sich schon viel besser.
Er ließ den Kopf kreisen, schloss die Augen und schickte seinen Geist auf Reisen in der Hoffnung, Gefilde glücklicher Erinnerungen zu erreichen … damals, als er mit Sam zusammen war … oder jene Augenblicke, als er mit den Frauen in den Käfigen intim gewesen war. Aber die schönen Erinnerungen wurden erdrückt von der Last der Albträume. Plötzlich war er wieder der Junge von dreizehn oder vierzehn, er wusste es nicht mehr so genau. Zu klein für sein Alter und sexuell unreif, kauerte er in einer Ecke der Gemeinschaftsduschen, direkt neben der Umkleidekabine an der Gesamtschule, und hoffte, dass die anderen Jungen ihn nicht entdeckten. Aber viel zu oft stöberten sie ihn auf. Jemand riss ihm die Beine weg, sodass er auf die Fliesen knallte und in den Duschstrahl blinzelte, der sich gnadenlos über ihm ergoss und ihm die Sicht raubte. Nur verschwommen nahm er seine Peiniger wahr.
Das Quietschen des Wasserhahns verriet ihm, dass einer der Jungen von warm auf kalt gestellt hatte, ehe das Wasser kochend heiß aus der Dusche kam. Unterdessen traktierten ihn die anderen Schüler so mit Fußtritten und Schlägen, dass sein schmächtiger Körper durchgeschüttelt wurde. Als die Schläge endlich aufhörten, war die Tortur noch nicht zu Ende, denn nun geißelten sie ihn mit ihren nassen Handtüchern. Das peitschenartige Knallen mischte sich mit dem hysterischen, kreischenden Gelächter. Die roten Striemen, die sich bald über seine Haut zogen, feuerten seine Peiniger weiter an. Die dünne Haut schien aufzureißen, und die Qualen nahmen erst ein Ende, als die dröhnende Stimme eines Mannes von den Wänden der Gemeinschaftsdusche widerhallte.
»Genug, Jungs, macht die Dusche aus! Abtrocknen und die benutzten Handtücher in die Körbe werfen, und dann anziehen! Sollte ich hören, dass einer von euch zu spät zum Unterricht erscheint, wandert er in Einzelarrest.« Das Lachen der Jungen wich Murren und Protest, doch sie fügten sich.
Thomas Keller wartete, bis die Jungen die Dusche verlassen hatten, rappelte sich hoch und schleppte sich zum Ausgang. Doch kaum hatte er den Durchgang zur Umkleidekabine erreicht, als der Lehrer nach ihm griff und ihm den Weg vertrat.
»Du nicht, Keller«, sagte er. »Du bist noch nicht trocken.«
Ängstlich schaute Thomas zu dem großen Mann auf, der vor ihm stand. Einer der gefürchteten Sportlehrer, in grünem Trainingsanzug. Die Pfeife trug er an einem Band um den Hals. Der Mann starrte ihn an. Keller entdeckte denselben Ausdruck in den Augen des Lehrers, den er früher bei Leuten gesehen hatte, die ihn zu Dingen zwangen, die er nicht wollte. »Beeilt euch, ihr Pack«, rief der Lehrer über die Schulter und trieb die anderen Jungen zu noch mehr Eile an. »In zwei Minuten seid ihr alle hier raus, zack, zack!«
Thomas stand zitternd vor dem Mann, schlang einen Arm um die schmächtige Brust und hielt sich die andere Hand schützend vor die kleinen, unterentwickelten Genitalien. »Bitte, Sir, mir ist kalt. Darf ich mich anziehen?«
»Sicher, Thomas«, sagte der Lehrer, versperrte ihm jedoch weiterhin den Weg. »Aber zuerst musst du etwas für mich tun.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, log Keller, obwohl er den lüsternen Blick des Mannes nur zu gut kannte.
Als der Lehrer die Hand nach ihm ausstreckte, wich der Junge unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Keine Angst, Tommy«, beruhigte der Lehrer ihn. »Ich tu dir nicht weh. Ich bin hier, um dich zu beschützen, um dir die anderen Jungen vom Hals zu halten … das willst du doch, oder? Dass jemand da ist, der sich um dich kümmert und dich beschützt?«
»Bitte, Sir!«, flehte der Junge. »Ich komme zu spät zum Unterricht!«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Ich sorge dafür, dass du keine Schwierigkeiten kriegst.« Wieder streckte er die Hand nach dem Jungen aus. Diesmal wich Thomas nicht zurück, auch wenn sein Instinkt ihm zuschrie, er solle die Flucht ergreifen. Die Aussicht, einen Beschützer zu haben – einen Erwachsenen, dem er vertrauen konnte –, vertrieb seine Zweifel.
Sacht strich der Lehrer dem Jungen übers Haar, ehe er ihm über die Wange streichelte. »Aber erst musst du etwas für mich tun. Du weißt schon was, nicht wahr?«
Thomas schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. »Nein, Sir. Was denn?«
Mit einer Hand zeichnete der Lehrer die Konturen von Thomas’ schmaler Schulter nach, streichelte über den Arm des Jungen, ehe er seine Hand nahm und zum Gummizug der Trainingshose zog.
»Hol ihn raus«, befahl er.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, versuchte der Junge sich herauszureden.
»Doch, weißt du«, beharrte der Lehrer und grinste, ohne die Hand des Jungen loszulassen. »Wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du mir erst einen Gefallen tun.« Er ließ die Hand des Jungen los und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Na los.«
Tränen der Selbstverachtung brannten in den Augen des Jungen, als er in die Hose des Lehrers griff und die Schamhaare spürte, die an seinem Handrücken kratzten. Seine Finger schlossen sich um das Glied des Mannes, das augenblicklich hart wurde. »Hol ihn raus«, wiederholte der Lehrer mit belegter Stimme. Der Junge gehorchte. »Und jetzt schön auf und ab bewegen«, wies der Lehrer ihn ein und stöhnte vor Lust, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen. Thomas bewegte die Hand auf und ab, so schnell er konnte, denn er wusste aus Erfahrung, dass es dann schneller ging. Dann waren auch die Erniedrigung und die Abscheu schneller vorbei. »Nicht so fix«, stieß der Lehrer stöhnend hervor. »Langsamer.« Thomas gehorchte. »Gut … viel besser. Du weißt, was jetzt kommt?«
»Nein«, kam es dem Jungen weinerlich über die Lippen. »Ich weiß nicht, was Sie wollen.«
»Lüg nicht. Tu es, du kleiner Scheißer, sonst sag ich im Waisenhaus, ich hätte dich erwischt, wie du deine Mitschüler beklaut hast. Und dann bist du dran, du kleiner Hurensohn.«
Thomas wusste, worauf der Lehrer anspielte: Wenn Erwachsene an den Besuchstagen kamen und sich nach einem Kind umschauten, das sie adoptieren wollten, um ihm ein schönes Zuhause zu bieten, würden sie sich zuallerletzt für ihn entscheiden, wenn die Heimleitung ihnen erzählte, dass er ein Dieb sei.
Dem Jungen wurde übel. Seine Brust krampfte sich zusammen. Er hatte kaum noch Luft zum Atmen, aber er wusste, dass ihm keine Wahl blieb, wollte er je wieder geliebt und akzeptiert werden. Also sank er vor dem Lehrer auf die Knie und tat, was der von ihm verlangte. Das ekstatische Stöhnen überlagerte die leisen Schluchzer des Jungen. »Jaaa«, stöhnte der Lehrer, »jaaa, gut so, du kleiner Mistkerl … du kleines mieses Stück … ein verdammter Stricher bist du …«
Mit einem Mal merkte Keller, dass er vor Schreck nicht mehr geatmet hatte, denn die Erinnerungen verfolgten und quälten ihn. Laut zog er die Luft ein, als hätte er eben erst die Wasseroberfläche eines tosenden Flusses durchstoßen, der ihn in die Tiefe hatte ziehen wollen. Weit riss er die Augen auf. Das Wasser aus der Dusche rauschte über seinen Kopf. Keller vergrub das Gesicht in den Händen und weinte so bitterlich, wie er zuletzt als Dreizehnjähriger geweint hatte, in jenem Duschraum, vor dem Mann, der ihm versprochen hatte, ihn zu beschützen. Aber der Mann hatte ihn nicht beschützt, sondern missbraucht. Immer wieder, bis er Keller leid geworden war und sich nach anderen wehrlosen Opfern umgeschaut hatte, nach Heimkindern, deren Eltern zu arm waren, um noch ein hungriges Maul zu stopfen.
Später schickte der Lehrer Thomas zu anderen Männern, die alle ein und denselben Namen für ihn hatten: der kleine Stricher.
Zitternd rutschte Keller an der Wand der Duschkabine nach unten und kauerte in der Wanne. Seine Lippen bebten, nass von Wasser und von Tränen. »Mami … Mami, warum hast du mich allein gelassen? Du hast gesagt, du kommst wieder, du verdammte Hure. Warum hast du mich verlassen?«
Er machte sich ganz klein und rechnete jeden Moment damit, dass die anderen Jungen nach ihm traten und ihn schlugen – und wieder hörte er den peitschenden Knall der feuchten Handtücher.
*
Corrigan und Donnelly erreichten Deborah Thomsons Haus und fanden eine Lücke zwischen den Wagen der Forensiker. Die Mitarbeiter aus Roddis’ Team fuhren kleine weiße Vans, in denen alles verstaut war, was man für die Spurensicherung und die Säuberung eines Tatorts benötigte. Die beiden Detectives hielten auf das abgeriegelte Haus zu, duckten sich unter dem blau-weißen polizeilichen Absperrband hindurch und hielten den uniformierten Beamten, denen Roddis eingeschärft hatte, den Tatort zu bewachen, ihre Dienstausweise hin. Auf dem kurzen Stück zum Haus fiel Corrigans Blick auf Sally, die sich am Ende der Garagenauffahrt mit Anna unterhielt. Derweil stand Roddis mit zwei Mitarbeitern an der Haustür, unübersehbar in den blauen forensischen Overalls. Sie bereiteten die Asservatenbeutel für mögliche Beweise vor, die im Inneren des Hauses gefunden wurden. Corrigan nickte Sally und Anna zu, ging aber geradewegs zu Roddis.
»Mr. Corrigan«, begrüßte der ihn. »Ich hoffe, Sie wollen nicht in diesem Aufzug ins Haus. Streng genommen dürfen Sie nicht einmal hinter das Absperrband.«
»Bitte vielmals um Entschuldigung«, erwiderte Corrigan. »Aber keine Sorge, ich muss diesmal nicht hinein.« Mit einem Blick erfasste er, dass sich das Haus nicht allzu sehr von denen der beiden anderen Opfer unterschied. »Haben Sie schon was für mich?«
»Wir haben uns schon ein wenig umgeschaut. Spuren von Chloroform im Flur und ein paar Fingerabdrücke innen an der Haustür. Scheinen dieselben zu sein wie die, die wir an den anderen Tatorten genommen haben.«
»Woher wollen Sie das jetzt schon wissen?«, fragte Corrigan erstaunt. »Die Abdrücke sind doch noch gar nicht im Labor.«
»Ich habe alles hier in meinem Laptop abgespeichert – das digitale Zeitalter ist ein Segen«, schwärmte Roddis. »Also, auf den ersten Blick würde ich sagen, dass die Abdrücke übereinstimmen, aber Sie wussten wahrscheinlich schon längst, dass es wieder derselbe Täter war, oder?«
Corrigan antwortete nicht darauf. »Ich möchte, dass Sie sich mit den Kollegen absprechen, die von Tür zu Tür gehen. Wenn jemand hier in der Gegend in letzter Zeit ungebeten Werbeprospekte bekommen hat, möchte ich, dass die Flyer eingetütet und ins Labor geschickt werden. Sie können sich denken, warum, nicht wahr?«
»Sie haben die Theorie, dass der Mann Prospekte durch die Briefschlitze steckt, weil er nicht auffallen will, während er die Wohngegend überprüft.«
»Exakt.« Corrigans iPhone vibrierte in der Manteltasche. Umständlich holte er es hervor und nahm den Anruf entgegen. »Sean Corrigan.«
»Wie geht es Ihnen an diesem herrlichen Tag, Inspector?«, fragte Dr. Canning.
»Ging mir schon mal besser.«
»Ich dachte, Sie würden gern wissen, dass ich Karen Greens Leiche dem Coroner übergeben habe. Sie soll gegen zwei Uhr identifiziert werden.« Corrigan schaute auf seine Uhr. Es war schon eins. »Der Leichnam ist in der Halle aufgebahrt. Sicherlich angenehmer für die Angehörigen. Wir richten sie so gut her, wie es eben geht.«
»In Ordnung«, sagte Corrigan. »Danke Ihnen, Doc.«
»Keine Ursache. Ach, übrigens, ich habe inzwischen herausgefunden, was diese mysteriösen kreisrunden Verletzungen hervorgerufen hat, die wir am Körper der Leiche gefunden haben.«
»Und?« Corrigan merkte gar nicht, dass er vor Aufregung den Atem anhielt. Stand er unmittelbar vor der Lösung des Rätsels, das ihm so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte?
»Der Mann hat einen elektrischen Viehtreiber benutzt. Wir haben einige Geräte ausprobiert, die sich als Folterinstrumente eignen, aber nur dieser spezielle Viehtreiber hinterließ genau dieselben seltsamen Male auf der Haut, wie wir sie gesehen haben.«
Corrigan holte tief Luft. »Was für ein Schweinehund. Wie kommt er an solch ein Ding?«
»Ich tippe auf eine Farm«, sagte Canning. »Wahrscheinlich hält er die Frauen auf einem Gehöft fest.«
»Farmen gibt es nicht gerade viele in South East London.«
»Vielleicht wohnt er weiter weg, als Sie vermuten.«
»Nein.« Corrigan tat die Möglichkeit entschieden ab. »Er ist kein Farmer, der vom platten Land kommt und sich die Opfer schnappt. Dieser Bastard bleibt immer in seinem vertrauten Umfeld.«
»Tja, wer bin ich, dass ich mich mit Ihnen streiten würde.«
Corrigan war mit seinen Gedanken schon wieder woanders. »Könnten Sie noch etwas für mich tun, Doktor?«
»Ich höre.«
»Untersuchen Sie Karen Greens Blut auf Toxine.«
»Sie möchten zweifellos wissen, ob man Spuren von Betäubungsmitteln bei ihr findet. Irgendeine Substanz, die einen Menschen gefügig macht, aber nicht bewusstlos, stimmt’s?«
Corrigans Blick huschte umher. Es behagte ihm nicht, dass ihm jemand gedanklich voraus war, nicht einmal Canning, ein Mann, dem er blind vertraute. Plötzlich ahnte er, was geschehen war. »Sie haben diese Untersuchungen schon durchgeführt, oder?«
»Natürlich«, antwortete Canning gelassen und ließ sich seine Befriedigung anmerken.
»Und Sie haben Spuren von Alfentanil gefunden?«
Die Zufriedenheit in Cannings Stimme verwandelte sich in Unglaube. »Woher wissen Sie das?«
»Das erzähle ich Ihnen später«, versprach Corrigan. »Könnten Sie dem Coroner ausrichten, dass ich der Identifizierung der Leiche beiwohnen werde?«
»Mache ich«, sagte Canning.
Corrigan beendete das Gespräch und ging zu Sally. »Die offizielle Identifizierung von Karen Green findet im Guy’s Hospital statt, gegen zwei. Sie können mich begleiten.«
Sally öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
»Ich kann mitkommen«, erbot sich Anna. »Wirklich, ich mache das. Kein Problem.«
»Das ist eine ernste Sache«, gab Corrigan zu bedenken. »Sally hat Erfahrung damit. Nicht wahr, Sally?« Sie hielt den Blick gesenkt und schwieg. Corrigan spürte, dass sie für diese extremen Dinge noch nicht bereit war.
»Außerdem«, fuhr Anna fort, »könnte ich vielleicht das Profil des Täters abrunden, wenn ich die Leiche sehe und mit einigen Angehörigen spreche. Ist doch sicher auch ein Betreuer für die Familie dabei, nicht wahr?«
»Davon gehe ich aus«, sagte Corrigan. »Das ist Detective Constable Jessons Job.«
»Dann wäre ja alles geklärt.«
Corrigan wusste Annas edle Absichten zu würdigen. Sally war noch nicht so weit, wollte sich aber keine Schwäche eingestehen. Dank Anna konnte sie sich nun aber aus der Affäre ziehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Fürs Erste musste das reichen. »Einverstanden, aber Sie halten sich zurück, Anna, und sprechen sich erst mit mir ab, wenn Sie irgendwas vorhaben, verstanden?«
»Verstanden«, versprach sie.
Corrigan ging zurück zum Auto und schüttelte den Kopf. Als er merkte, dass Anna ihm nicht folgte, drehte er sich um.
»Kommen Sie jetzt mit, oder was?«
Anna legte Sally eine Hand auf die Schulter und verdrehte die Augen, ehe sie ebenfalls zum Auto ging.
»Frauen«, murmelte Corrigan vor sich hin. »Ich glaube, ich werde sie nie verstehen.«
*
Die beiden Frauen hockten im Lichtschein der fleckigen Glühbirne in ihren Käfigen und hörten, wie irgendwo weiter hinten Wasser an den Wänden des Gewölbes herunterlief. Das eintönige Plätschern wirkte in der Stille gespenstisch laut. Deborah Thomson hielt sich das lädierte Knie und wippte in ihrem teuflischen Verlies mit dem Oberkörper vor und zurück. Sie schluchzte leise, gemartert von körperlichen Schmerzen und namenloser Furcht. Ihr Adrenalin war versiegt. Sie hatte die letzte und einzige Chance verpasst, aus dieser Hölle zu entfliehen. Jetzt würde sie in diesem dunklen, feuchten Verlies sterben – oder an einem anderen, noch schlimmeren Ort. Irgendwann würde der Irre zurückkehren und ihr das Leben nehmen. Sie sah bereits, wie er ihr beide Hände um den Hals schnürte und ihr mit den Daumen den Kehlkopf zerquetschte.
Sie wippte immer stärker vor und zurück und atmete so schnell, dass sie kurz davor war, zu hyperventilieren. Ängstlich warf sie einen Blick auf Louise Russell, die kraftlos und zitternd in ihrem Käfig verharrte. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zu Deborah. Mit Schrecken sah Deborah, dass die einzelnen Wirbel an Louises Rücken deutlich hervortraten, da sie seit einigen Tagen weder Nahrung noch Wasser bekommen hatte. Deborah ahnte, dass ihre Mitgefangene von Stunde zu Stunde schwächer wurde – wenn der Wahnsinnige sie nicht umbrachte, würde sie bald an Unterkühlung oder Erschöpfung sterben.
Deborah erstarrte, als unvermittelt eine rissige Stimme erklang, die aus einer Gruft zu kommen schien. »Warum hast du mich im Stich gelassen? Wie konntest du mir das antun?«
Deborah suchte nach Worten, aber ihr Mund war so trocken, dass sie die Zunge kaum bewegen konnte.
»Ich … ich hatte Panik«, brachte sie schließlich mühsam hervor. »Schreckliche Angst. Ich hab das helle Licht gesehen und die frische Luft gerochen, und da habe ich einfach … ich wollte mich retten. Ich musste hier raus, konnte an nichts anderes denken. Mein Kopf war leer, da bin ich einfach losgerannt. Es tut mir leid.« Ihre Tränen sickerten in den Schleim, der ihr aus der Nase tropfte. Sie wischte sich mit den Händen über die nassen Wangen, schniefte und versuchte, ihr Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich verlasse dich nicht mehr, wenn ich noch eine Chance kriege. Versprochen.«
»Du wirst keine zweite Chance bekommen«, wisperte Louise aus rauer Kehle. Sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. »Du hast uns beide getötet.« Langsam drehte sie sich auf die andere Seite und blickte aus hohlen Augen auf Deborah. »Wir sind beide so gut wie tot.«
»Hör auf!«, fuhr Deborah sie an. »Das weißt du doch gar nicht!«
Louise stierte Deborah aus ihren grünen Augen an. »Wir hatten uns schon Namen überlegt«, hauchte sie.
»Was?«, fragte Deborah verwirrt. »Namen? Für wen?«
»Für unsere Kinder. Die Kinder, die wir uns so gewünscht haben. Wir hatten uns schon Namen überlegt. Hätten wir drei Jungs gehabt, hätten wir sie John, Simon und David genannt. Die Mädchen hätten Rosie, Sara und Elizabeth geheißen.«
»Und wenn ihr Jungs und Mädchen gehabt hättet?«, fragte Deborah und wünschte, sie hätte sich diese Frage verkniffen.
»Darüber haben wir nie gesprochen. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir entweder drei Jungen oder drei Mädchen bekommen. Komisch, nicht wahr?« Deborah schwieg. Doch Louise redete einfach weiter, und ihre Stimme wurde ein wenig kräftiger, da ihr Verstand den Körper zumindest für ein paar Augenblicke aus dieser Hölle befreite. »Mir gefallen die Jungennamen. Sie sind schlicht und gut, wie mein Mann. Er heißt auch John.«
»Ich weiß«, sagte Deborah.
»Der Name passt zu ihm. Er ist ehrlich und stark. Er ist vielleicht nicht der Hübscheste und auch nicht so klug wie andere, aber er ist ein guter, zuverlässiger Mann. Ich weiß nicht, wie es ihm geht, wenn er erfährt, was mir widerfahren ist. Ich fürchte, er wird daran zerbrechen, dass er nicht zu Hause war, als es geschehen ist. Er konnte mich nicht retten. Das wird er sich nie verzeihen.«
»So darfst du nicht denken«, sagte Deborah. Doch es ging ihr nicht darum, ihre Mitgefangene aufzumuntern, sondern sich selbst vor Louises Monolog zu schützen.
»Ich vermisse ihn so«, flüsterte Louise. »Ich vermisse auch die Kinder … ist das nicht seltsam? Ich vermisse die Kinder, die wir nie hatten. Wir haben so oft von ihnen gesprochen, dass ich mir schon ihre kleinen Gesichter vorstelle. Ich weiß, welche Haarfarbe sie haben, sehe die Sommersprossen auf ihren Wangen. Ich kann sie riechen … ich fühle sie sogar, obwohl sie gar nicht da sind … und nie existieren werden …«
»Und das ist alles meine Schuld«, fuhr Deborah scharf dazwischen. »Das willst du mir damit doch sagen, oder? Sie werden nie geboren, weil ich es verbockt habe!«
»Nein«, erwiderte Louise gelassen, und ihre trockenen Lippen brachten ein Lächeln zustande. »Ganz egal, was du getan hast, du hast mich ja nicht hierhergebracht. Das war er. Er ist an allem schuld.«
»Hör zu«, sagte Deborah. »Ich bin in New Cross aufgewachsen. Kennst du das Viertel?«
»Ein bisschen.«
»Dann weißt du auch, wie es dort zugeht. Ich war das einzige Mädchen mit drei älteren Brüdern und musste mir alles erkämpfen. Manchmal musste ich mich sogar mit meinen Brüdern schlagen, wenn es nicht genug zu essen gab. In der Schule musste ich mich gegen die Schüler wehren, die mich mobbten. Alles, was ich geschafft habe, habe ich aus eigener Kraft erreicht. In meinem Viertel gab es eine Regel: Denk nur an dich selbst, denn du bist allein. Als ich meine Chance sah, wollte ich sie nutzen. Ich weiß, ich hätte die Schlüssel finden müssen, um dich aus dem beschissenen Käfig zu holen. Ich hätte dir dieselbe Chance geben müssen, wie ich sie hatte, aber ich habe es nicht getan. Ich schäme mich dafür, aber wenn du so aufgewachsen wärst wie ich, wärst du auch weggerannt. Glaub mir, du wärst auch losgerannt.«
Sie schwiegen eine Weile. Schließlich unterbrach Louise die lastende Stille.
»Liebt dich jemand?«, wollte sie wissen. »So, wie John mich liebt?«
»Keine Ahnung. Meine Mum, meine Brüder …«
»Nein, ich meine einen Mann. Liebt dich ein Mann, ein Seelenverwandter? Oder eine Frau?«
»Vielleicht gibt es da einen Mann, ja … er heißt Sam. Ich kenne ihn aber erst seit Kurzem.«
»Sam. Ein schöner Name.«
»Ich glaube, Sam ist in Ordnung. Aber ich vermisse ihn nicht so, wie du deinen John vermisst. Ich bin allein hier unten. Du hast John und die Kinder, an die du denkst, aber ich bin allein. Ich kann dieser Hölle nicht entfliehen, nicht mal eine Sekunde.« Wieder zog sich das Schweigen in die Länge. »Ich sag mir manchmal immer noch, dass es nur ein Albtraum ist, auf dem ich gleich aufwache. Aber für einen Albtraum dauert alles schon viel zu lange. Und diese Schmerzen. Man empfindet keinen Schmerz in Träumen, also weiß ich, dass es die Wirklichkeit ist. Trotzdem kann ich es nicht glauben. Aber die Menschen, die uns lieben, werden uns nicht im Stich lassen. Und die Polizei gibt uns auch nicht so schnell auf. Sie suchen uns. Ununterbrochen.«
»Die Polizei? Wie soll die uns hier unten finden? Was sollte sie zu diesem Verrückten führen? Du hast ihn ja erlebt. Er ist total irre. Die Polizei geht nur Spuren nach, die Sinn ergeben … sie suchen ein Motiv, das sie begreifen können. Aber wer sollte sich in diesen Wahnsinnigen hineinversetzen?« Louise stieß ein zynisches, trockenes Lachen aus. Doch dann hustete sie, weil sie kaum noch Kraft zum Sprechen hatte. »Welcher Polizist könnte nachvollziehen, was in diesem Psycho vorgeht? Wenn es einen solchen Mann gibt, dann wünsche ich ihm, dass Gott es gut mit ihm meint.«