11.

Corrigan und Anna betraten die Leichenhalle im Guy’s Hospital und gingen auf direktem Weg zu der Kapelle, die sich daran anschloss. Hier herrschte friedvolle Stille wie in einer Kirche; man vergaß beinahe, dass man immer noch in einem Krankenhaus war. Die Wände waren in gedecktem Violett gehalten, und zu beiden Seiten des Eingangs hingen lange rote Vorhänge. Der stille Raum besaß keine Fenster. Hoch oben an einer der Wände hing ein Kruzifix. Die Mitte der Kapelle wurde von einem sargförmigen, ausgepolsterten Behältnis beherrscht, das auf einem niedrigen Tisch stand. Roter Stoff wallte zu allen Seiten dieses Tisches bis auf den Boden. In dem Behältnis ruhte der Leichnam von Karen Green.

Corrigan durchquerte die Kapelle und trat an die längliche Kiste heran. Man hatte die Tote erstaunlich gut präpariert, wie alle Mordopfer. Verantwortlich dafür waren Dr. Cannings Assistenten und einige erfahrene Bestatter aus der Gegend. Der Körper der Toten lag unter einem dunkelroten Tuch aus Satin, sodass nur der Kopf zu sehen war. Cannings Team hatte wahre Wunder gewirkt: Die Verletzungen im Gesicht wirkten nicht mehr so schrecklich wie draußen auf der Lichtung. Selbst das Haar war hergerichtet. Man hatte es ihr aus der Stirn gekämmt, um nichts vom ehemals hübschen Gesicht zu verdecken.

Corrigan musste an sich halten, um nicht die Hand nach Karen auszustrecken, denn er verspürte den Wunsch, die kalte Haut unter seinen Fingern zu ertasten; vielleicht hätte er auf diese Weise Kontakt zu der Bestie gefunden, die das Leben dieser Frau ausgelöscht hatte. Anna, die unmittelbar hinter Corrigan stand, riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so ist«, sagte sie leise.

»Womit haben Sie denn gerechnet?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht … damit.«

»Dachten Sie, wir führen die Angehörigen in den Obduktionssaal, ziehen die Schublade des Gefrierschranks auf, schlagen das grüne OP-Laken zurück und fragen ›Ist sie das?‹«

»Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.«

»Sie gucken zu viele Krimis.«

»Kann sein.«

»Wie viele Leichen haben Sie schon gesehen?«, forschte Corrigan nach, ahnte aber schon die Antwort.

»Keine.«

Corrigan nickte wissend.

Anna spürte seine Missbilligung, als hätte sie nicht das Recht, hier in einem Raum mit Karen Green zu sein, oder als gehörte sie nicht zum Team der Mordermittlungen. Während Corrigan die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens damit verbracht hatte, sich mit dem Undenkbaren zu befassen, hatte Anna als Studentin in Hörsälen gesessen, später Vorlesungen gehalten und Bücher geschrieben. Im Elfenbeinturm der akademischen Welt.

Entschlossen trat sie einen Schritt vor und blickte auf Karen Green, über deren ehemals wache grüne Augen sich leblose Lider schlossen. »Sie sieht friedvoll aus, obwohl sie so viel durchgemacht hat.«

Corrigan nahm den Blick von der Leiche und schaute Anna an, die sich noch nicht von Karen hatte lösen können. Er musterte sie, während sie ihren Gedanken nachhing. »Draußen im Wald sah sie nicht friedvoll aus«, kommentierte er ihre Feststellung. »Sie sehen nie friedvoll aus. Sie sehen … gebrochen aus, wie ihre Seelen, die man ihnen gegen ihren Willen entrissen hat. Der Tod bringt keinen Frieden.«

Anna spürte den prüfenden Blick aus seinen kalten blauen Augen. Corrigan wartete auf eine Reaktion von ihr; er wollte sie analysieren, beobachten, genauso, wie Anna selbst andere Menschen gedanklich sezierte. Er nahm erst den Blick von ihr, als sein Handy summte.

»Hallo?«

»Chef, ich bin’s, Sally. Verkehrspolizisten haben Deborah Thomsons Auto gefunden, beim Tooting Common in der Nähe des Freibads.« Die Gegend sagte ihm nichts, aber die Bilder vor seinem geistigen Auge blitzten auf: ein unbefestigter Weg führte zu einem abgeschiedenen Parkplatz. Blattlose Bäume wiegten sich leicht in der Brise, als wollten sie mit den Zweigen das Autodach berühren …

»Mist«, entfuhr es ihm. »Haben wir noch jemanden, der sich die Ecke dort anschauen könnte?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Sally. »Sie haben sozusagen die letzten Fußtruppen ins Feld geschickt, Chef. Uns gehen die Leute aus. Dieser Verrückte geht uns allmählich an die Substanz.«

»Nein, tut er nicht. Ich schaue mich selbst in Tooting Common um. Sie bleiben bei Roddis in Deborah Thomsons Haus. Sehen Sie zu, dass Sie möglichst viel aus Roddis rauskriegen. Rufen Sie mich an, sobald Sie mehr wissen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete er das Gespräch.

»Probleme?«, fragte Anna.

»Wir haben Deborah Thomsons Auto gefunden. Es steht verlassen auf einem Parkplatz in Tooting Common. Ich muss mich dort umschauen. Sie können mitkommen, wenn Sie wollen.«

Anna nickte bereitwillig. »Wollten Sie nicht erst noch auf die Angehörigen warten?«

»Keine Zeit«, sagte er und hoffte, Anna würde ihm nicht anmerken, wie erleichtert er war, dass er Deborah Thomsons Eltern nicht in die Augen zu schauen brauchte. »Ich muss so schnell wie möglich den Ort anschauen, wo ihr Auto steht.« Ein letzter Blick galt Karen Green. »Ich kann nur noch eins für sie tun: ihren Mörder finden. Ihre Familie muss warten.«

*

Donnelly fluchte, als er wieder einen Stapel Berichte auf seinem Schreibtisch zu sich zog – Formulare der Zeugenbefragungen im Viertel. Auf jedem Blatt war die Personenbeschreibung des jeweiligen Zeugen festgehalten. Darunter die Standardfragen: Wo waren Sie zum Zeitpunkt der Entführung? Haben Sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen?

Es waren hunderte Aussagen, und alle mussten überprüft und abgeglichen werden – wie auch die Berichte der Polizisten, die in den infrage kommenden Gegenden verstärkt Verkehrskontrollen durchgeführt und Autofahrer befragt hatten. Auf einem weiteren Stapel türmten sich die Berichte der Kollegen, die in einem bestimmten Umkreis im Südosten Londons nach Orten Ausschau gehalten hatten, an denen die Frauen möglicherweise festgehalten wurden. Unter diesen Formularen befand sich auch der Abschlussbericht der Police Constables Ingram und Adams, die sich Stunden zuvor auf dem Hof von Thomas Keller umgeschaut hatten.

All diese Informationen wurden in das Large Major Enquiry System eingegeben, kurz HOLMES. Dieser Dinosaurier unter den Datenbanken stammte noch aus den Achtzigern und war ursprünglich eingerichtet worden, um schnelleren Zugriff auf Daten zu erhalten. Sämtliche Dokumente, die bei einer Mordermittlung anfielen, ließen sich auf diese Weise besser abgleichen. Dadurch sollten Fehler in früheren Ermittlungen vermieden werden. Peter Sutcliffe beispielsweise, berühmt-berüchtigt unter dem Namen »Yorkshire Ripper«, hätte nicht so viele Frauen umbringen können, hätte man nach spätestens zwei oder drei Morden einen Datenabgleich vornehmen können. Das aktuellere System, HOLMES 2, erwies sich insgesamt als zuverlässig, aber nach wie vor verließ man sich bei den Ermittlungen darauf, dass der Killer irgendwann einen Fehler machte.

Donnelly seufzte. Sein Schnurrbart zuckte, als er wieder einen Bericht der Hausbefragungen überflog, um ihn kurz darauf auf den Stapel zu legen, den er »uninteressant« getauft hatte. Der Stapel wuchs beängstigend schnell, wohingegen der Packen mit dem Label »von Interesse« erschreckend überschaubar blieb. Aber Donnelly wusste genau, was er tat, auch wenn er seine Taktik noch niemandem anvertraut hatte. Den Stapel mit den möglicherweise relevanten Details hielt er extra klein, denn wenn Corrigan sich die Berichte vornahm, ging er nicht gleich in einer Flut von Zetteln unter. Je weniger Corrigan abzuarbeiten hatte, desto besser konnte er nachdenken und seinen unnachahmlichen Instinkt ausspielen. Nur so würde es ihm gelingen, die Fährte aufzunehmen, die ihn letzten Endes zu dem Mann führen würde, den sie alle so verzweifelt suchten.

Donnelly spähte über die Schulter, als er das Gefühl hatte, dass jemand hinter ihm stand. Die Abläufe im Büro waren ihm nach all den Jahren so vertraut, dass er wusste, wer den Bürotrakt betreten hatte. »Verdammt, was wollen Sie, Paulo?«

»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, fragte Zukov.

»Die Intuition eines Detectives. Sollten Sie auch mal Gebrauch von machen. Also, im Gegensatz zu Ihnen komme ich um in Arbeit. Was liegt an?«

»Eigentlich wollte ich den Chef sprechen.«

»Wieso?« Donnelly verlor allmählich die Geduld.

»Es geht um dieses Abziehbild, das ich nachprüfen sollte. Das mit dem Phönix, das wir auf Karen Greens Arm gefunden haben.«

»Was ist damit? Sie können es ruhig mir erzählen. Ich sorge schon dafür, dass die Infos schnellstens an den Chef weitergeleitet werden. Oder haben Sie den entscheidenden Hinweis bekommen, um den Fall im Alleingang zu lösen? Wollen Sie der Erste sein, der es dem Chef erzählt? Und das Lob ernten?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Na, dann reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Spucken Sie’s aus.«

»Diese Bildchen stammen aus einer Box mit Rice Krispies.«

»Was?«, entfuhr es Donnelly, und ein spöttisches Grinsen legte sich auf sein gerötetes Gesicht. »Das ist alles? Das soll der entscheidende Hinweis sein? Wir wissen jetzt also, was das Opfer gern zum Frühstück aß. Reiswaffeln. Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie an diese Information gekommen sind? Zwei Tage? Drei?«

»Keine Ahnung. Drei, vier Tage hat’s schon gedauert.«

»Gott im Himmel!« Donnelly schüttelte missbilligend den Kopf. »Was soll ich mit Ihnen anfangen, Paulo? Was soll ich bloß mit Ihnen anfangen?«

»Schon okay, wenn Sie sauer sind, aber es könnte trotzdem wichtig sein. Der Chef war jedenfalls dieser Ansicht. Außerdem, wir wissen jetzt nicht nur, was sie zum Frühstück aß, sondern was sie in früheren Zeiten zum Frühstück aß … vor sechzehn Jahren.«

»Wieso? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Das Abziehbild mit dem Phönix war ein Gimmick von Rice Krispies vor sechzehn Jahren. Der Hersteller produzierte nur eine Serie davon. Und das bedeutet, dass Karen Green sich entweder sechzehn Jahre lang nicht gewaschen hat oder dieses Abziehbild seither aus irgendeinem Grund aufbewahrt hat. Wer weiß, vielleicht wollte sie es vor ihrer Reise nach Australien benutzen.«

»Ist das da der Bericht dazu?«, forschte Donnelly nach und zeigte auf das Clipboard, das Zukov in der Hand hielt.

»Ja.«

»Ich übernehme das«, drängte Donnelly und nahm dem unglücklich dreinblickenden Zukov die Unterlagen ab. »Führt uns wahrscheinlich nicht weiter, aber ich leite es trotzdem an den Chef. Mal sehen, was er davon hält. Und was Sie betrifft, es wird Zeit, dass Sie mal richtige Polizeiarbeit abliefern.«

Zukov schlurfte enttäuscht davon. Unterdessen blätterte Donnelly bereits in dem Bericht. Zukov hatte recht. Das Bild mit dem Phönix war tatsächlich ein sechzehn Jahre alter Werbegag.

»Abgefahren«, murmelte Donnelly und warf den Bericht auf den Stapel »von Interesse«.

*

Als Corrigan und Anna sich dem Absperrband in Tooting Common näherten, hatte Corrigan ein extrem beunruhigendes Déjà-vu-Erlebnis. Früher hatten sich in dieser Gegend die billigsten Nutten herumgetrieben, doch während der letzten zehn Jahre hatte sich das Viertel herausgemacht, da die unaufhaltsam steigenden Mieten und Hauspreise in Putney, Barnes und Sheen die gebildete Mittelschicht dazu zwangen, in neue Wohnviertel auszuweichen. Dabei wurden die weniger Betuchten immer weiter in den Süden Londons vertrieben.

Das blau-weiße Absperrband, das sich um den gesamten Parkplatz zog, zitterte im Wind. Corrigan stellte den Wagen ab, stieg aus und ging zu dem Verkehrspolizisten, der zusammen mit einem Kollegen bemüht war, die Jogger oder Hundebesitzer davon abzuhalten, zu ihren Autos zu gehen. Anna versuchte Schritt zu halten, als Corrigan dem Beamten seinen Dienstausweis zeigte. »Detective Inspector Corrigan. Das ist Dr. Ravenni-Ceron. Sie gehört zu mir.« Er duckte sich unter dem Band hindurch und hielt es ein Stück hoch, sodass Anna ihm folgen konnte. »Haben Sie das Auto angefasst?«, wandte er sich an den jungen Polizisten und schaute hinüber zu Deborah Thomsons rotem Honda Civic, der einsam und verlassen im hinteren Bereich des Parkplatzes stand.

»Nein, Sir«, antwortete der Mann ein wenig zu schnell. »Nur um nachzusehen, ob der Wagen auf ist.«

»Ich gehe davon aus, dass er abgeschlossen ist«, sagte Corrigan und ging weiter.

»Nein, Sir. Er ist offen. Der Zündschlüssel steckt.«

Corrigan blieb einen Moment stehen, verwirrt und überrascht zugleich. »Der Schlüssel steckt?«

»Ja, Sir.«

»Er hat seine Methode geändert«, wandte er sich an Anna, obwohl er selbst kaum glauben konnte, was er da sagte. »Das hätte ich nicht gedacht.«

»Ein unbedeutendes Detail«, entgegnete sie. »Es muss nichts bedeuten.«

Corrigan eilte über den Platz und sprach mit sich selbst. »Doch, muss es. Bei diesem Kerl hat alles eine Bedeutung. Wenn er seine Methode geändert hat, dann nicht ohne Grund.« Beim Auto blieb er stehen und atmete tief die kühle Luft, ehe er sich einen ersten groben Überblick verschaffte. Er ahnte, dass die folgende Untersuchung ihn wieder in eine andere Sphäre entführen würde.

»Vielleicht hat jemand ihn überrascht«, überlegte Anna. »Er geriet in Panik und hat den Schlüssel stecken lassen.«

»Nein«, wandte Corrigan ein, während er sich Latexhandschuhe überstreifte. »Wenn ihn jemand gesehen hätte, wüssten wir es längst. Die Kollegen von der Streife wären schon früher hier aufgetaucht und hätten den Wagen entdeckt. Nein, er hat den Schlüssel stecken lassen, weil er allmählich die Kontrolle verliert, die Geduld. Er weiß, wohin all das führt – vielleicht nur unterbewusst, aber er weiß es.«

»Sie gehen immer noch davon aus, dass er Amok laufen wird?«

»Ja.« Corrigan kniff grimmig die Lippen zusammen. Vorsichtig öffnete er die Beifahrertür und zog sie ein Stück auf. Sofort verspannte er sich, während er sich innerlich auf die Gerüche einstellte, die ihm jeden Augenblick entgegenwehen würden. Zuerst erreichte ihn der aufdringliche Duft eines Lufterfrischers, der am Innenspiegel hing: Typ Pinie. Fast gleichzeitig nahm er den Duft von Parfum und Make-up wahr. Er versuchte sich an Black Orchid zu erinnern und war sich ziemlich sicher, dass es sich bei diesem Duft um ein anderes Parfum handelte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Bislang war er davon ausgegangen, dass der Killer seine Opfer zwang, bestimmte Parfums zu benutzen.

Wieder schnupperte er und konzentrierte sich auf den Duft der Elemis Bodylotion. Aber diesen Duft gab es hier nicht. Schließlich zog Corrigan die Autotür weiter auf und steckte den Kopf ins Wageninnere. Bei dem Geruch, der sich ihm jetzt aufdrängte, wich er unwillkürlich zurück: Es war der animalische, moschusartig-verschwitzte Geruch, den er schon bei anderen Mördern wahrgenommen hatte. Eine Mischung aus Furcht und Verzweiflung, Schuld und Erregung – ein Geruch, bei dem alle erfahrenen Cops wussten, dass sie den Täter gestellt hatten. Manchmal befürchtete Corrigan, dass ihm diese Duftmischung aus den eigenen Poren strömte. Aber er wusste jetzt: Der Wahnsinnige war vor weniger als einem Tag hier in diesem Wagen gewesen. Seine Ausdünstungen hingen in der Luft, als säße er noch hinterm Steuer.

Corrigan starrte auf den Fahrersitz. Allmählich bildeten sich in seiner Vorstellung die Konturen eines Mannes heraus, der sich eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Je länger und tiefer Corrigan in seine Vorstellungswelt eintauchte, desto klarer wurden die Umrisse des Mannes. Plötzlich drehte die Gestalt langsam den Kopf in Corrigans Richtung, aber das Oval des Gesichts blieb im Dunkeln. Im nächsten Augenblick verflüchtigte sich die geisterhafte Erscheinung.

Seufzend zog Corrigan sich aus dem Wageninnern zurück und ging zur Kofferraumklappe. Langsam betätigte er den Griff der Heckklappe, löste die Arretierung und hörte, wie die Pneumatik leise zischte, als die Klappe aufschwang. So nahe wie möglich hielt Corrigan die Nase an den Teppich des Kofferraums und schnüffelte. Anna fiel auf, wie blass er aussah.

»Was ist?«, fragte sie.

»Chloroform. Er hat sie zweifellos betäubt.« Corrigan richtete sich auf, schaute sich auf dem Parkplatz um. Er ließ den Blick über die Bäume schweifen, deren Geäst im Wind wogte. Stumme Zeugen des Albtraums, der über Deborah Thomson hereingebrochen war. Betrachtete der Killer die Bäume als eine Art Verbündete? Schirmten sie ihn von den Leuten ab, die ihn verfolgten? Verbargen sie ihn vor ihm, Corrigan?

»Immer ist ein Waldstück in der Nähe«, flüsterte er.

»Wie bitte?«, fragte Anna.

»Immer Wald. Immer Bäume. Er kennt die Stadt, aber im Wald fühlt er sich am wohlsten. Wo immer er haust, es gibt Bäume in unmittelbarer Nähe.«

»Kein besonders vielversprechender Anhaltspunkt.«

»Ich weiß«, räumte Corrigan ein und ging zurück zu seinem Auto. Anna verdrehte die Augen und folgte ihm. Sie kam sich wie ein herrenloser Hund vor, der dem erstbesten Fußgänger folgt; beinahe rechnete sie damit, dass Corrigan sie jeden Moment verscheuchte. »Warten Sie hier auf die Forensiker«, wandte er sich im Vorübergehen schroff an einen der Polizisten. Der Mann nickte nur.

Kurz vor dem Auto holte Anna Corrigan ein und hielt ihn am Arm fest. »Ich muss mit Ihnen reden.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht wieder über mich sprechen möchte.« Er blickte auf die Hand, die sich um seinen Arm gelegt hatte. Anna ließ ihn los.

»Es geht nicht um Sie. Ich muss mit Ihnen über Sally sprechen.«

Er blickte sie erstaunt an. »Was soll mit ihr sein?«

»Sie braucht Hilfe. Fachmännische Beratung. Das würde ich gern übernehmen. Ich glaube, sie wäre auch bereit dazu. Aber es würde ihr guttun, wenn jemand, dem sie vertraut, sie dazu drängt.«

»Und da fiel Ihnen mein Name ein?«

Anna zuckte die Schultern.

»Das kann ich nicht«, sagte Corrigan. »Sally ist Polizistin. Es würde ihr nicht gefallen, wenn ich ihr zu so etwas rate. Und wenn sie das Gefühl hat, dass auch nur einer aus dem Team weiß, dass sie psychologische Hilfe in Anspruch nimmt, wäre sie erledigt.«

»Aber warum denn?« Anna klang genervt.

»Wie ich schon sagte, sie ist Polizistin.«

»Ich bin sicher, Sally steht über dem stereotypen Machobild des coolen Bullen.«

»Weil sie eine Frau ist? Glauben Sie mir, sie ist in erster Linie Cop, dann erst Frau. Und das heißt, sie weiß, was Sache ist.«

»Aber warum, um Himmels willen, tun Sie so, als ob …«

»Wir Cops geben nicht zu, auf seelischen Beistand angewiesen zu sein, selbst wenn wir es uns heimlich eingestehen. Körperliche Wunden sind akzeptabel, aber psychische Probleme? Kein Kollege würde mehr mit Sally zusammenarbeiten.«

»Das ist doch dumm, Sean.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich es gutheiße. Ich habe Ihnen nur gesagt, wie es im Dienst läuft. Wenn Sie es schaffen, Sally zu überreden, dass sie zu Ihnen kommt, bestens. Aber ich flehe Sie an, binden Sie es keinem anderen auf die Nase.«

»Was für ein verrückter Haufen ihr seid! Man könnte fast meinen, alle Bullen auf dem Revier sind durchgeknallt.«

»Ja, sind wir. Was ist mit Ihnen? Vor Kurzem haben Sie dem Typen geholfen, der Sally beinahe umgebracht hätte, und jetzt wollen Sie plötzlich ihr helfen. Wissen Sie überhaupt, was Sally an dem Abend passiert ist, als Gibran in ihr Haus eingebrochen war?«

»Natürlich. Ich habe die Berichte gelesen, ehe ich die Gespräche mit Sebastian führte.«

»Ach, die Berichte? Und was stand in den Berichten?«

»Dass der Täter sie in ihrer Wohnung überfallen und mit zwei Messerstichen in die Brust lebensgefährlich verletzt hat.«

»Das haben Sie schön zusammengefasst. Aber in dem Bericht steht nicht, wie er über ihr stand, während sie langsam auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer verblutete. Da steht nicht, wie sie den Täter in ihrem Todeskampf beobachtet hat und mit ansehen musste, wie er in ihrer Küchenschublade nach einem Messer suchte, mit dem er sie endgültig erledigen wollte. Kein Wort darüber, dass Sally sich vier Operationen unterziehen musste. Kein Wort darüber, dass sie über Monate hinweg an Sonden und Schläuchen hing. Ganz zu schweigen von den Albträumen, die sie seither heimsuchen.«

»Das hat sie Ihnen alles erzählt?«

»Verdammt, das braucht sie mir nicht groß zu erzählen, ich habe es gesehen.« Sie schwiegen eine Weile. »Hören Sie, Anna, ich mag Sie, aber in unseren Augen werden Sie immer eine Außenstehende sein. Sie werden nie ein Cop sein. Sie begleiten uns, Sie kriegen mehr mit als manch anderer, aber einer von uns werden Sie nie sein. Denn Sie sehen nie wirklich das, was wir sehen.«

»Ich weiß«, gab sie zu. »Und um ehrlich zu sein, ich will auch kein Cop sein. Tagelang arbeitet man ohne ausreichend Schlaf, isst unregelmäßig, muss immer geistig auf der Höhe sein, obwohl man in Wirklichkeit körperlich und psychisch am Ende ist. Ich bewundere Sie in Ihrem Job. Ich hätte es nie gedacht, aber ich bewundere Sie wirklich. Und ich gebe zu, ich hätte auch nie erwartet, dass es so anstrengend ist.«

»Man gewöhnt sich daran. Ich mache einfach weiter, falls nötig, auch ohne Schlaf, bis ich diesen Bastard geschnappt habe. Man weiß ja nie, vielleicht habe ich Glück, und er macht seinem Leben selbst ein Ende, auf die eine oder andere Weise.«

»Aber vorher wird er die Frauen töten, die er in seiner Gewalt hat. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, dass er erst noch Amok laufen wird und ein paar alte Rechnungen begleicht … ob es nun real ist, oder ob es sich nur in seinem Kopf abspielt.«

»Ja, in diese Richtung läuft die Sache«, meinte Corrigan. »Er lässt das Auto stehen, ohne es abzuschließen. Der Schlüssel steckt. Er verliert immer mehr die Kontrolle. Schon bald werden ihm die Frauen nicht mehr genügen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, wandte Anna ein. »Sie messen dem Zündschlüssel zu viel Bedeutung bei. Wenn Sie den Mann schnell fassen wollen, müssen Sie sich an Verbrecher hier aus der Gegend halten. An Männer, die bereits als Jugendliche straffällig wurden. Gehen Sie die Einbrüche durch, bei denen die Täter in die Häuser, in die sie eingedrungen sind, gepinkelt und geschissen haben. Das sind die ersten Warnzeichen. Dann werden diese Täter älter, und es kommt zu ersten sexuellen Übergriffen, die nach und nach schwerwiegender werden, bis es bei Vergewaltigung endet.«

»Nein«, hielt Corrigan dagegen. »Über diesen Punkt ist er hinaus. Außerdem ist er noch nicht straffällig geworden, schon vergessen?«

»Dann hat die Polizei etwas übersehen, oder der Täter hat einfach nur unglaubliches Glück gehabt. Wie dem auch sei, er weist alle Merkmale eines Sexualstraftäters auf, der mit Einbrüchen beginnt und schließlich zu Vergewaltigung und Mord übergeht. Seine Verbrechen sind klassische Beispiele dafür, dass er seinen Zorn und seine Macht demonstrieren will. Wahrscheinlich hatte er ein traumatisches Erlebnis und wurde irgendwann im Leben auf brutale Weise zurückgewiesen und allein gelassen. Die Frauen, die er entführt, bedeuten ihm im Grunde nicht viel. Sie haben bloß Ähnlichkeit mit einer Person, die ihn früher zurückgewiesen hat, wahrscheinlich seine Mutter oder Großmutter. Doch obwohl er sich abgewiesen fühlt, liebt er diese Person immer noch und will bei ihr sein. Also entführt er die Frauen, die ihn vom Äußeren her an diese Person erinnern.«

»Nein.« Corrigan erhob die Stimme. »Es mag stimmen, dass er seine Mutter und Großmutter hasst und alle anderen, die ihn verraten haben. Somit hasst er alle und jeden. Alle außer einer Frau – denn eine Frau war freundlich zu ihm und akzeptierte ihn, zumindest zu Anfang. Aber die Beziehung war nicht von Dauer. Wieder fühlt er sich verstoßen, aber er liebt sie noch. Trotz der Zurückweisung liebt er diese Frau.«

Je länger Corrigan sprach, desto weiter driftete er in seine eigenen Vorstellungen ab und verschmolz mit der Schattenwelt, mit einer Sphäre, in der es nur zwei Personen gab: Sean Corrigan und den Mann, den er suchte. Eine Welt voller Fragen, auf die es so gut wie keine Antworten gab. Dennoch musste Corrigan sich in dieser Sphäre aufhalten und durch Nebelschleier wandeln. Sein Geist streckte unsichtbare Fühler aus, damit Corrigan auf dem Pfad nicht ins Straucheln geriet oder in tückische Fallen lief.

»Er hasst jeden, der ihn schon einmal zurückgewiesen hat«, fuhr er fort. »Er verachtet sie alle. Und er träumt davon, sich eines Tages zu rächen. Doch bei dieser Frau ist es anders. Obwohl sie ihn abgewiesen hat, verzehrt er sich in Liebe nach ihr. Er begehrt sie, sehnt sich nach ihr, will die Zeit lebendig halten, in der sie zusammen waren. Warum hasst er sie nicht auch?« Als er spürte, dass Anna etwas dazu sagen wollte, bedeutete er ihr mit einer Hand, ihn nicht zu unterbrechen. »Das ergibt keinen Sinn. Sie tut ihm genau das an, was alle anderen ihm angetan haben. Trotzdem liebt er sie noch … er liebt sie wirklich. Was ist so anders an ihr?« Ihm war, als betrachte er einen Brief, der langsam vor seinen Augen verbrannte – die Antwort loderte in orangeroten Flammen auf und wurde zu Asche, ehe er den Brief zu Ende lesen konnte.

Anna beobachtete Corrigan längst nicht mehr distanziert. Stattdessen analysierte sie ihn, beobachtete die Bewegungen seiner Augen, registrierte, wie oft er die Lider schloss, achtete auf seine Gestik, die Bewegungen seiner Finger. Gelegentlich legte er den Kopf leicht schräg, als lausche er auf Stimmen, die nur er hören konnte. Dann drehte er sich langsam um die eigene Achse, als würde er über unsichtbare Antennen Kontakt mit anderen Sphären aufnehmen.

Diese Art, mithilfe der Imagination Gedanken zu projizieren, war Anna schon früher bei Mördern aufgefallen, mit denen sie gesprochen hatte. Aber noch nie war ihr diese Fähigkeit bei einem gesunden Menschen aufgefallen. Bei Gewalttätern hielt die Vorstellungskraft nur so lange, bis diese Männer das Verlangen verspürten, die Sehnsüchte ihrer Fantasie konkret auszuleben.

Plötzlich sah sie, dass Corrigan erstarrte und in eine unbestimmte Ferne blickte.

»Scheiße«, fluchte er. »Jetzt ist es weg.«

»Was ist weg?« Anna hoffte, es würde ihm noch einmal gelingen, in seinen tranceähnlichen Zustand zu tauchen.

»Ach, nichts. Ist auch egal.«

»Sean, ganz ehrlich, ich glaube, dass Sie mit Ihrer Theorie von einer mystischen Frau, der er nachjagt, auf der falschen Fährte sind. Das führt …«

»Nein«, unterbrach er sie. »Sie ist der Schlüssel, um ihn zu finden. Finden wir sie, finden wir ihn.«

»Das würde auf einen expressiven Killer hinweisen, der sich mithilfe seiner Taten von Frust und Wut befreit. Ein solcher Täter nutzt seine Opfer als Ersatz für jemanden, den er kennt. Aber ich kann in unserem Fall keine Parallelen erkennen. Seine Verbrechen sind eiskalt geplant, er ist gefühlskalt und berechnend. Ihn treibt ein Verlangen an, das wir noch nicht durchschauen.«

»Alles Begriffe aus Ihren Fachbüchern«, sagte Corrigan und spürte, dass er allmählich die Geduld verlor. Ein schmerzhaftes Stechen machte sich in seiner Brust bemerkbar. »Expressiver Killer – wieder einer dieser Fachausdrücke«, spöttelte er. »Damit kommen Sie hier nicht weit. Hier sind Sie in der wirklichen Welt, Anna.«

»Ja, aber die Studien, auf die ich mich beziehe, lassen sich auf die wirkliche Welt anwenden.«

»Warum sind Sie hier?«, fuhr Corrigan sie so heftig an, dass sie verstummte. »Wieso sind Sie wirklich hier? Sie können mir nicht helfen, nicht hier draußen. Wollen Sie sich selbst mehr Glaubwürdigkeit verschaffen? Wollen Sie Ihre Kollegen aus der Psychiatrie bei einem der nächsten Meetings damit beeindrucken, dass Sie schon mal bei einem echten Mordfall dabei waren? Träumen Sie davon, im Kollegenkreis damit zu prahlen, ausgerechnet Sie hätten der Polizei bei der Lösung des Falles geholfen? Nein, halt, warten Sie, ich weiß, warum Sie hier sind. Sie schreiben an Ihrem nächsten Buch, nicht wahr? Sie wollen Ihre Leser mit Horrorgeschichten und perversen Irren in Ihren Bann ziehen – Bestien, die den Leuten nachts im Traum erscheinen. So etwas dürfte sich gut verkaufen.«

Anna wollte sich nicht weiter in die Enge treiben lassen. »Warum erzählen Sie mir nicht endlich, wovor Sie Angst haben, Sean, anstatt sich weiter hinter Ihrem Zorn zu verschanzen?«

»Ich will Ihnen sagen, wovor ich Angst habe. Davor, dass mir die Ideen ausgehen. Mir läuft die Zeit davon, und das bedeutet, dass für Louise Russell und Deborah Thomson jede Hilfe zu spät kommt. Ich habe Angst, weil die Antwort zu diesem Rätsel tief verborgen liegt in einem Berg aus Informationen und Ermittlungsberichten. Ich habe Angst, weil der Name dieses Mannes irgendwo in den beschissenen Personalakten der Post in South Norwood schlummert, aber ich kann mir die Unterlagen nicht ansehen, da ich keine Herausgabeanordnung habe. Und selbst wenn ich eine hätte, käm ich erst am Montag an die Akten heran, und auch nur, wenn die Herren aus den oberen Etagen die Einwilligung der Gewerkschaften eingeholt haben. Ja, ich habe Angst, verdammte Scheiße!«

»Dann lassen Sie sich helfen. Machen Sie sich zunutze, was ich an Wissen mitbringe.«

»Vergessen Sie’s.«

»Wo liegt das Problem?«

»Das Problem? Ich will Ihnen sagen, wo das verdammte Problem liegt«, fiel er erneut über sie her. »Vor zwanzig Jahren war ich ein junger Cop, der im Revier von Pumstead als einfacher Polizist angefangen hatte. Dann wurde ich dem Ermittlungsteam zugeteilt, das sich mit Verbrechen in den Londoner Parks beschäftigte. Irgendein Dreckskerl vergewaltigte junge Frauen in den Parks im Südosten der Stadt – Parks, die tagsüber sehr beliebt waren, ähnlich wie Putney Heath. Sagt Ihnen der Fall etwas? Der Parkvergewaltiger?«

Anna zuckte kommentarlos die Schultern.

»Damals lernte ich Detective Chief Superintendent Charlie Bannan kennen. Er war der brillanteste Ermittler, der mir je über den Weg gelaufen ist. Ich hatte die Ehre, sein Assistent sein zu dürfen. Ab und zu nahm er einen jungen Cop wie mich zur Seite und konfrontierte ihn mit bestimmten Dingen – Sie wissen schon. Um herauszufinden, aus welchem Holz jemand geschnitzt ist, was für Instinkte er hat. Eines Tages zeigt er mir ein Foto von Rebecca Fordham und sagt, er sei der Ansicht, dass der Parkvergewaltiger und der Mörder von Rebecca ein und derselbe Mann sind. Dann will er von mir wissen, was ich davon halte. Also schaue ich mir die Fotos vom Tatort und die Beschreibung des Opfers an. Exzessive Gewaltanwendung. Die Tatwaffen scheinen übereinzustimmen. Ich vergleiche die Verletzungen, die den Frauen zugefügt wurden, sehe mir das Ausmaß der sexuellen Gewalt an. Aber es gibt einen Unterschied: Rebecca wurde in ihrer Wohnung ermordet, wohingegen der Parkvergewaltiger immer im Freien zuschlug – so schien es zumindest.« Er holte tief Luft, ehe er fortfuhr:

»Später kehrte ich mit der Akte einschließlich der Fotos vom Tatort in Rebeccas Wohnung zurück, die ganz in der Nähe von Putney Heath lag. Freie Parkflächen und Waldstücke, genau wie in den Parkanlagen, in denen der Vergewaltiger zuschlug. Ich lese die Akte aufmerksam und sehe, dass Rebecca früher am Tag ihrer Ermordung einen Spaziergang im Wald gemacht hat. Aber das war noch nicht alles. Sie war mit ihrem Sohn draußen gewesen, ihrem sieben Jahre alten Jungen. Was ihr Killer nicht wusste, war, dass sie den Jungen bei einer Nachbarin abgab, ehe sie in ihre Wohnung ging. Sie hatte offenbar eine Menge Arbeit nachzuholen, deshalb hatte die Nachbarin sich bereit erklärt, sich ein paar Stunden um den Jungen zu kümmern.«

»Warum war es wichtig, ob der Sohn bei ihr war oder nicht?«, fragte Anna.

»Weil alle anderen glaubten, die Kinder spielten keine Rolle. Es hieß immer, dieser Richards – der Killer – falle über Frauen her, auch wenn sie Kinder dabeihatten.«

»Und Sie sahen das anders?«

»Ja. Ich war immer der Ansicht, dass der Mann bevorzugt die Frauen überfiel, die Kinder hatten. Ich glaubte nicht, dass er es einfach ausblendete, wenn eines seiner Opfer zufällig in Begleitung eines Kindes war.«

»Aber Sie sagten doch gerade, dass Rebecca Fordhams Sohn gar nicht bei ihr war, als sie überfallen wurde.«

»Ja, aber das wusste der Killer nicht. Er hatte es nicht geschafft, über sie herzufallen, als sie mit dem Jungen im Wald spazieren ging. Diesmal aber folgte er ihr bis nach Hause. Er brauchte sich nur hier und da hinter Bäumen und Büschen zu verstecken und darauf zu warten, dass sie einen Fehler machte. Dass sie ihren Jungen bei der Nachbarin abgegeben hatte, war ihm offenbar entgangen.«

»Und worin bestand Rebeccas Fehler?«

»Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss. Es war Sommer. Woher sollte sie wissen, dass ein Monster wie Richards draußen lauerte und sie beobachtete? Sie ließ ein Küchenfenster offen. Er nahm all seinen Mut zusammen und kletterte auf diesem Weg in die Wohnung. Er tötete und verstümmelte sie, ehe er ihre Leiche durch sexuelle Handlungen schändete. Danach machte er sich so sauber er konnte und verschwand. Aber ich entdeckte etwas auf den Fotos vom Tatort, das mich ins Grübeln brachte. Und dieses Detail war auch Charlie Bannan nicht entgangen.«

»Was war es?«, fragte Anna gespannt.

»Eine Puppe.«

»Eine Puppe?«

»Größer als gewöhnlich, unmittelbar am Tatort. Die Puppe saß auf einem Stuhl, genau gegenüber von der Couch, auf der Rebecca abgeschlachtet wurde.«

»Und Sie dachten, er habe die Puppe als Ersatz für den Jungen benutzt, der nicht in der Wohnung war?«, folgerte Anna. »Sie glaubten, er habe die Puppe irgendwo aus der Wohnung geholt und sie so platziert, weil sie stellvertretend für das Kind mit ansehen sollte, wie er die Mutter vergewaltigte und ermordete?«

»Ja«, erwiderte Corrigan mit kalter Stimme. »Aber die Muster der Blutspritzer legten nahe, dass die Puppe nicht dort saß, als der Killer dem Opfer die Kehle durchschnitt. Sie saß aber auf dem Stuhl, als der Frau die anderen Wunden beigebracht wurden.«

»Heißt das, er hat der Frau den tödlichen Schlag versetzt und in der Wohnung nach dem Kind gesucht, während sie langsam verblutete? Weil er wollte, dass der Junge den Rest der Gewaltorgie mit ansieht? Aber er findet das Kind nirgends, daher ersetzt er es durch die Puppe, ehe er seine …«

»… Performance zu Ende bringt, ja«, vervollständigte Corrigan den Satz. »So sah ich damals den Fall. Es musste ein und derselbe Mann sein. Das Problem war nur, dass die Ermittler aus dem Rebecca-Fordham-Team schon längst einen Mann namens Ian McCaig des Mordes bezichtigt hatten. McCaig nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben, ehe die Verhandlung begann. Von Anfang an war klar, dass McCaig psychisch instabil war, aber er war kein Mörder. Er sah keinen Ausweg mehr. Und als nach seiner Festnahme der Medienhype losbrach, trieb ihn die Woge aus Hass und Verachtung zum Äußersten. Er hielt dem Druck nicht mehr stand. Aber jeder sah in seinem Selbstmord das späte Schuldeingeständnis eines brutalen Killers.«

»Aber Sie nicht?«

»Nein. Ebenso wenig Charlie Bannan. Wir waren der Meinung, dass der Parkvergewaltiger immer noch frei herumlief, also auch Rebeccas Mörder. Es konnte nicht McCaig gewesen sein, er passte nicht in diesen Fall. Warum man ihm dann überhaupt die Schuld gegeben hat? Ich will es Ihnen sagen. Weil so eine verdammte Kriminologin der Ansicht war, dass es McCaig sein müsse. Aber er konnte es nicht gewesen sein. McCaig war nur wegen Entblößung vorbestraft, ein Exhibitionist, der sich selbst erniedrigt hat. Rebeccas Killer hingegen ging es darum, das Opfer zu erniedrigen. Zwei Züge, die kaum ein und denselben Täter charakterisieren. Es handelt sich um gegensätzliche Enden des Spektrums – Nacht und Tag, Licht und Dunkelheit. Aber die Ermittler im Fall Rebecca zogen nicht einmal in Erwägung, dass sie falsch liegen könnten. Bannan hatte gehofft, sie würden ihm Gehör schenken, aber sie interessierten sich nicht für seine Ideen. Also ging er mit mir zu der Kriminologin und bat sie, darüber nachzudenken, ob es eine Verbindung zwischen Rebeccas Mord und den Vergewaltigungen in den Parks gab.«

»Und?«

»Sie räumte ein, dass es Übereinstimmungen geben könnte.«

»Sie gab zu, möglicherweise einen Fehler gemacht zu haben?«

»Sie behauptete, sie habe den Ermittlern im Fall Rebecca nie auf die Nase gebunden, dass McCaig der Täter war. Er habe nur in ihr Profil gepasst. Aber da war der Schaden bereits angerichtet. Die Ermittler hatten sich von einem Außenstehenden beeinflussen lassen, mit katastrophalen Folgen. Wie dem auch sei, einige Wochen später wurden Lindsey Harter und ihre vier Jahre alte Tochter tot in ihrer Wohnung aufgefunden – Mord und Vergewaltigung. In unseren Augen ließ der brutale Überfall keinen Zweifel daran, dass wir es mit demselben Mann zu tun hatten, der schon Rebecca ermordet hatte. Der Mann, der für die Parkvergewaltigungen verantwortlich war.«

»O Gott«, flüsterte Anna.

»Als wir uns die Muster der Blutspritzer anschauten«, fuhr Corrigan fort, »und zwar an der Stelle, an der die Mutter ermordet worden war, fiel uns auf, dass etwas vom Tatort entfernt worden war, nachdem die Frau ermordet worden war – etwas oder jemand, der im Stuhl gegenüber der Bluttat gesessen hatte. Daraufhin ließen wir die Kleidung des toten Mädchens untersuchen, weil wir Blut von der Mutter auf ihrem Körper vermuteten. Und wir fanden jede Menge Blutspuren. Die Muster der Blutspritzer bestätigten unseren Verdacht – der Killer hatte das kleine Kind gezwungen, auf dem Stuhl zu sitzen. Die Kleine hatte mit ansehen müssen, wie die eigene Mutter ermordet wurde. Danach brachte der Mann das Mädchen in ihr Zimmer und tötete es dort.«

»Wie bei der Puppe«, sagte Anna und zog sich ihren Mantel enger um die Schultern, da sie fröstelte.

»Genau, wie bei der Puppe. Erst sehr viel später nahmen wir Christopher Richards fest und beschuldigten ihn des Mordes an Lindsey und der kleinen Izzy. Er legte ein Geständnis ab. Aber als wir ihn zum Mord an Rebecca fragten, bestritt er, etwas damit zu tun zu haben. Die Kriminologin beharrte weiterhin darauf, nicht dafür verantwortlich zu sein, dass man McCaig festgenommen hatte. Vielleicht hatte man sie missverstanden – vielleicht befürchtete sie auch nur, ihre Reputation könnte Schaden nehmen, wer weiß. Wir werden es wohl nie erfahren.« Wieder hielt er inne, ehe er weitererzählte:

»Erst 2007 haben die DNA-Analysen bestätigt, dass Richards auch Rebecca Fordham ermordet hatte. Er wurde nur wegen Totschlags verurteilt, weil er als nicht zurechnungsfähig eingestuft wurde. Charlie Bannan und ich hatten die ganze Zeit richtig gelegen. Eine junge Mutter und ihre vierjährige Tochter waren vergewaltigt und ermordet worden. Dutzende Frauen wurden nach Rebeccas Ermordung von Richards vergewaltigt, nur weil die Ermittler sich nicht mehr auf das eigene Bauchgefühl verlassen hatten. Stattdessen hatten sie wissenschaftlichen Theorien und psychologischen Gutachten vertraut, die sich in ihre Welt geschlichen hatten. In die reale Welt. Meine Welt. Diese Dinge haben in meiner Welt aber nichts zu suchen.«

»Unsere Wissenschaft hat sich weiterentwickelt«, hielt Anna dagegen, doch ihr war unbehaglich zumute, da sie die Fälle kannte, die Corrigan beschrieben hatte. »Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Wir wissen heute viel mehr.«

»Dann heben Sie sich das, was Sie zu wissen glauben, für das nächste Mal auf, wenn Sie wieder im Gericht sind. Dann können Sie ja einem anderen Bastard wie diesem Gibran dabei helfen, der Verurteilung wegen Mordes zu entgehen.«

Anna blieb der Mund offen stehen. »Das habe ich nicht verdient«, sagte sie.

Corrigan schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Allmählich sickerten der Zorn und die Verbitterung zurück in die dunklen Regionen seiner vernarbten Seele. »Tut mir leid, ich hätte wahrscheinlich nicht …«

»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Anna knapp.

»Gut.« Sie stiegen in den zivilen Pkw und fuhren zurück zur Peckham Police Station.

Während der langen Fahrt herrschte eisiges Schweigen.

*

Thomas Keller lag auf der alten, fleckigen Matratze und hatte sich eine schmutzige Decke fast bis unters Kinn gezogen. Es war früh am Abend und noch so hell, dass man im Haus kein Licht anzumachen brauchte. Unter der Decke trug er seine Jogginghose und ein ungewaschenes T-Shirt. Er konnte sie sehen. So klar und deutlich, als läge sie bei ihm im Bett – die einzige Person, die er je wirklich geliebt hatte. Der einzige Mensch, der ihn je geliebt hatte.

Es war lange her. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen. Sie waren in ihrem Garten, allein, an einem warmen Tag im August. Das milde Licht des frühen Abends tauchte die Büsche und Pflanzen in goldenes Licht, und der Duft der frisch gemähten Rasenflächen der Nachbargärten betörte ihre Sinne. Niemand konnte sie in diesem Winkel sehen, niemand spionierte ihnen nach, um dieses Treffen zu verhindern. Er streichelte ihr über das lange braune Haar und warf hin und wieder einen Blick auf das Abziehbild, das auf seinem Unterarm klebte: ein Phönix. Unterdessen summte sie vor sich hin und flocht einen Kranz aus Gänseblümchen. Das Sonnenlicht schimmerte auf dem Phönix, den sie auf dem Arm trug – sie hatten sich gegenseitig die Abziehbilder auf die Arme geklebt, als Zeichen für ihre nie endende Liebe.

Sie wandte sich ihm mit einem Lächeln zu. »Woran denkst du, Tommy?«, fragte sie mit ihrer sanften Engelsstimme, für ihn der einzige Lichtblick in der kalten, brutalen Wirklichkeit.

»Ich habe an dich gedacht.«

»Wieso? Liebst du mich?« Sie kicherte.

»Ja.« Er hatte keine Bedenken, ihr seine Liebe zu gestehen. Denn er konnte ihr alles sagen.

»So sehr, dass du für immer bei mir bleiben würdest?«

»Ja.«

»Sei nicht albern, wir sind doch erst seit einer Woche befreundet.«

»Aber ich kenne dich doch schon viel länger«, hob er hervor.

»Nein, das stimmt nicht«, beharrte sie. »Das zählt nicht.«

»Ich beobachte dich schon lange. Ich hab dich mit den anderen gesehen. Aber ich wusste von Anfang an, dass du nicht so bist wie sie. Ich wusste, dass du anders bist.«

»Die anderen sind ganz okay«, sagte sie, doch es klang unaufrichtig.

»Für dich vielleicht, aber nicht für mich.«

»Sie verstehen dich eben nicht richtig, Tommy. Sie denken, du hältst dich für was Besseres oder so was in der Art.«

»Haben sie dir das gesagt?«

»Nicht genau, aber ich weiß, was die sich so erzählen.« Thomas Keller antwortete nicht. »Du solltest sie gar nicht beachten, wenn sie wieder gemein zu dir sind.«

»Tu ich auch nicht. Aber eines Tages werde ich’s denen zeigen. Dann wird es denen leidtun, auf mir herumzuhacken.«

»Was soll das heißen?«, fragte Sam, schaute von ihrem Kranz aus Gänseblümchen auf und blickte ihm in die braunen, dunkelgründigen Augen.

»Ach, nichts.« Er beugte sich vor, die Lippen gespitzt, doch Sam wich ihm aus.

»Was machst du da?«, fragte sie und lächelte noch. Aber sie wirkte befangener als zuvor.

»Ich wollte dich küssen.«

Sie sah, wie er den Kopf wegdrehte und zu Boden starrte, und eine Spur von Mitleid und freundschaftlicher Verbundenheit verdrängte ihre Zurückhaltung. Sie wusste, was die anderen Kinder in der Schule Thomas antaten. Wann immer die Lehrer gerade nicht hinschauten, quälten die Mitschüler ihn, beleidigten ihn, schlugen ihn. Aber sie, Sam, hatte nie mitgemacht. Als sie sich mit ihm anfreundete, riskierte sie sogar, nicht mehr zur angesagten Clique zu gehören. Allein der Umstand, dass sie sich mit Tommy abgab, reichte aus, um ihn besser vor den Übergriffen der Mitschüler zu schützen. Doch sein Benehmen ihr gegenüber bereitete Sam ein bisschen Sorge. Vor einer Woche hatte sie zum ersten Mal überhaupt mit Tommy gesprochen. An dem Tag hatte sie verhindert, dass ein paar Jungs seine Schulbücher in Stücke rissen. Aber Tommys Verhalten war ihr merkwürdig vorgekommen: Von jenem Tag an hing er wie eine Klette an ihr und wich ihr kaum von der Seite. Sie fand sein Verhalten … unnatürlich.

Dann aber sagte sie sich, dass sie sich nicht zu wundern brauchte: Bestimmt war sie die erste und einzige Freundin, die Tommy je gehabt hatte. Ihre Eltern und Verwandten hatten sich immer schon über ihren ausgeprägten Beschützerinstinkt amüsiert. Stets hatte sie ein Herz für die Schwachen und Wehrlosen gehabt, das typische Helfersyndrom. Schon als Kind hatte sie Raupen vor Horden von Waldameisen beschützt oder Motten aus Spinnennetzen befreit. Und jetzt hatte sie Tommy – wieder ein hilfloses Insekt, das vor aggressiven Tieren beschützt werden musste.

Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er schaute auf, und Freude und Angst zeichneten sich in seinen Zügen ab. Ein Wechselspiel aus Verwir rung und Freude lag in seinem Blick, und eine flüchtige Röte huschte über sein Gesicht. Doch in die Verlegenheit mischte sich Verlangen. Noch nie hatte er Gefühle wie diese empfunden – ein Kribbeln in der Magengrube, ein Ziehen in der Lendengegend. Er wusste, was er als Nächstes tun musste. Einige der älteren Jungs im Waisenhaus hatten ihn gezwungen, heimlich DVDs mit anzusehen. Er wusste, was Männer machen mussten, wenn sie mit Frauen zusammen waren – insbesondere, wenn sie die Frauen liebten. Das hatte er den Gesprächen der Jungs entnommen. Jetzt beugte er sich vor und küsste seine Angebetete auf die Wange. Zu seinem Erstaunen zog sie den Kopf nicht zurück, daher küsste er sie wieder und wieder, bis er mit den Lippen beinahe ihren schönen roten Mund erreicht hatte. Der Geschmack und die Wärme ihrer Haut entfachten ein heißes Feuer in seinen Adern. Sein Herz schlug heftig, sein Atem ging schneller.

Sam kicherte unsicher und legte ihm eine Hand auf die Brust, als er ihre Lippen mit seinen Küssen erobern wollte. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, doch er hatte ihr bereits beide Hände unter die Achseln geschoben und zog sie an sich. Wieder versuchte sie ihn wegzudrücken, energischer als zuvor. In dem nachfolgenden kleinen Gerangel verloren beide das Gleichgewicht und landeten im Gras. Doch immerzu suchte er mit seinen feuchten Lippen ihren Mund.

»Nein, Tommy«, stieß sie hervor. »Hör auf, lass das. Hör auf, bitte, Tommy, du tust mir weh.« Sie spürte, wie er ihr eine Hand unter die Bluse schob und nach Brüsten tastete, die noch nicht entwickelt waren. Seine schartigen Fingernägel kratzten über ihre zarte Haut. Plötzlich lag er auf ihr und zerrte mit einer Hand an dem Knopf und dem Reißverschluss ihrer Hose. Sie krallte ihre Hand um sein Handgelenk, und Tränen strömten aus ihren grünen Augen, während sie sich von ihm zu befreien versuchte. Doch der irrsinnige Drang, sie zu besitzen, hatte neue Kräfte in ihm freigesetzt. Mit seinen schmalen Fingern tastete er unter ihrem Slip über ihre Scham. »Lass das, Tommy! Bitte, das darfst du nicht!« Aber er hörte nicht auf, drang mit einem Finger in sie ein. Schmerz durchzuckte ihren Körper, und in ihrem grenzenlosen Schreck wusste sie sich nur auf eine Weise zu helfen: Sie schrie.

Ihr schriller Schrei bohrte sich wie eine Kugel in ihn. Er erstarrte, die Augen weit aufgerissen, zitternd vor Verlangen und zugleich erfüllt von dem schmerzhaften Wissen, dass sein sehnlichster Wunsch nicht mehr in Erfüllung gehen würde. In diesem Moment, als die Zeit stillzustehen schien, blendete er die äußere Welt aus. Es gab nur noch sie und ihn, ein ungleiches Paar, gefangen in einer grotesken Umarmung. Er spürte, wie sie erneut nach Luft rang, sah, wie sie den Mund öffnete, ehe sie sich unter ihm verspannte und zu einem zweiten, ohrenbetäubenden Schrei ansetzte. Der Horror dieser Situation war schlimmer als jeder Albtraum. Tommy wusste, dass er schnell handeln musste, bevor sie den Schrei ausstoßen konnte. Instinktiv presste er ihr eine Hand auf den Mund und versiegelte die Öffnung, die ihn ein für alle Mal zu vernichten drohte.

Sie blinzelte wild, als sie begriff, dass sie keine Chance mehr gegen ihn hatte. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die geröteten Wangen. »Das hättest du nicht tun dürfen. Ich … ich wollte … dir doch nur beweisen, dass ich dich liebe. Du willst doch, dass ich dir meine Liebe beweise, oder nicht?« Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, wollte ihm zeigen, dass er sie loslassen sollte. Sie wollte diesen Vorfall vergessen und mit niemandem darüber sprechen, aber es war zu spät – zu spät für sie beide.

Unvermutet ragten die Umrisse einer Gestalt hinter ihm auf. Da die tief stehende Sonne sie blendete, konnte Sam nicht erkennen, wer da gekommen war, aber plötzlich spürte sie das Gewicht von Tommy nicht mehr auf ihrem Körper. Von jetzt auf gleich wurde er von einer unsichtbaren Kraft fortgerissen und schien durch die Luft zu segeln. Mit Verzögerung drang die zornige Stimme eines Erwachsenen durch die Schleier ihrer Benommenheit. Es war die Stimme ihres Vaters.

»Nimm deine dreckigen Pfoten von meiner Tochter, du widerlicher Mistkerl! Was fällt dir ein, du kleiner Hurensohn?« Sam sah, wie ihr Vater die Hand hob und zum Schlag ausholte. Obwohl sie Sekunden zuvor unter Tommys Zudringlichkeiten gelitten hatte, konnte, wollte sie nicht zulassen, dass ihr Vater auf diese Weise einschritt.

»Nein, nicht schlagen!«, rief sie außer Atem.

Ihr Vater starrte sie ungläubig an. Er traute seinen Ohren nicht. Doch das Flehen in den Augen seiner Tochter verriet ihm, dass er sich nicht verhört hatte. Sam flehte ihn tatsächlich an, den Jungen zu verschonen, der eben noch versucht hatte, ihr Gewalt anzutun.

»Bitte«, wiederholte sie. Ihr Vater ließ die Hand sinken und starrte Tommy angewidert an wie ein Stück Dreck. Dann packte er ihn und schleifte ihn quer durch den Garten, zum Tor hinaus und weiter bis zu seinem Auto. Die ganze Zeit lief Sam hinter ihm her. »Bitte, tu ihm nicht weh, Papa«, rief sie, auch wenn sich Abscheu und Ekel in ihr regten. »Er wollte mir nichts tun.«

Ihr Vater wirbelte auf dem Absatz herum und zeigte drohend mit dem Finger auf sie. »Du wartest hier, bis ich zurück bin!« Dann packte er Tommy am Nacken und drehte ihn so, dass er das Mädchen am Gartentor sehen konnte. »Schau sie dir gut an, Junge, denn du wirst sie zum letzten Mal sehen. Kapiert?«

Tommy sagte nichts, als er in den Kofferraum des Autos gedrückt wurde. Als die Klappe sich mit einem Knall über ihm schloss, kauerte er in völliger Dunkelheit in dem engen Raum, während die Angst ihn beinahe um den Verstand brachte. Doch die Fahrt zum Waisenhaus war nicht lang. Schon kurz darauf flutete Licht in den Kofferraum, ein gleißendes Licht, das ihn blendete. Er wurde von kräftigen Armen herausgezerrt und über den Weg zum Eingang geschleift. Sams Vater sorgte dafür, dass alle Angestellten und Kinder erfuhren, was er, Tommy, getan hatte. Er sagte, er werde von einer Anzeige absehen, sofern der Junge sich von seiner Tochter fernhielte. Die Heimleitung habe dafür zu sorgen, dass so etwas nie mehr vorkomme.

Aber Thomas Keller konnte sich nicht von dem Mädchen fernhalten, selbst wenn er es gewollt hätte. Denn er liebte sie und wusste, dass auch sie ihn liebte. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, beobachtete er sie, folgte ihr nach der Schule heimlich nach Hause und verbarg sich in den Schatten der Bäume und Sträucher. Doch er war jung und ungeschickt, und ihre Eltern entdeckten ihn. Diesmal wurde die Polizei gerufen. Die Beamten tauchten im Heim auf und warnten ihn: Ihm werde vorgeworfen, Samantha Shaw nachgestellt zu haben, aber er habe noch einmal Glück gehabt, denn ihre Eltern hätten ihm eine letzte Warnung erteilt und von einer Anzeige vorerst abgesehen. Wenn er sich von jetzt an von Samantha fernhalte, würden sie die Sache auf sich beruhen lassen. Natürlich müsse er auf eine andere Schule, aber das ließe sich ja problemlos regeln.

Plötzlich saß Keller kerzengerade in seinem Bett, geplagt von den schmerzlichen Erinnerungen. Wie schnell er sich damals darauf eingelassen hatte, sich von Sam fernzuhalten! Aber es war ihm wieder nicht gelungen – wie denn auch? Sie war seine Göttin. Wie hätte er ihr abschwören können?

Also lernte er nach und nach, viel vorsichtiger vorzugehen. Schatten und Dunkelheit wurden zu seinen Verbündeten. Bald wusste er, wie man mit der unmittelbaren Umgebung verschmolz wie ein Chamäleon. Er beobachtete Sam – über Jahre hinweg.

Keller rollte sich aus dem Bett und ging zu der Kommode, in der er die Bündel Briefe aufbewahrte. Er kramte in der Schublade, bis er fand, wonach er gesucht hatte: ein Fläschchen mit Black Orchid Parfum und eine Glasdose mit Elemis Bodylotion. Ehrfürchtig holte er das Parfum aus der Schublade, so vorsichtig, als könnte das Glas schon bei der kleinsten Berührung zerspringen. Dann sprühte er sich einen Hauch davon auf den Handrücken und sog den feinen Nebel ein, der sich in der Luft gebildet hatte. Voller Entzücken schloss er die Augen. Dann nahm er den Deckel von der Elemis Creme. Er konnte es kaum abwarten, den Duft der Lotion in sich aufzunehmen. Aber er brauchte mehr als den Duft. Langsam streckte er die Hand nach der Dose aus, tauchte den Zeigefinger in die Creme. Die kühle, geschmeidige Substanz entfachte geheimes Verlangen in ihm. Seine Lider flatterten, während er den Augenblick vollkommener Verzückung auskostete. Langsam zog er den Finger aus der weißen Creme, strich das, was zu viel war, am Rand ab und verrieb den Rest vorsichtig auf dem Handrücken. Voller Erwartung sehnte er den Augenblick herbei, wenn sich der Duft der Lotion mit der schweren, würzigen Süße des Black Orchid vermischte – diese Kombination entführte ihn in längst vergangene Tage, zurück zu jenem Tag vor mehreren Wochen, als er in ihr Haus eingedrungen war, während sie selbst und der Mann, mit dem sie zusammenlebte, arbeiten waren. Der Mann, der vorgab, ihr Liebhaber zu sein. Aber Keller wusste, dass er nur einer von denen war: Er sollte über Sam wachen, um zu verhindern, dass er, Tommy, wieder mit ihr zusammen sein könnte.

Das Küchenfenster hatte sich mühelos öffnen lassen. Im Haus gab es nicht mal eine Alarmanlage; er hatte sein Taschenmesser nur unter den Rahmen zu schieben brauchen, und schon war die Verriegelung aufgeschnappt. Als er das Fenster leise aufschob, bestürmte ihn der Duft ihres Lebens von allen Seiten. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, als er ins Haus kletterte. Sein kleiner, drahtiger Körper war wie geschaffen für schmale Öffnungen. Er versuchte, den Ansturm der Düfte zu ignorieren, so gut er konnte, als er vom Fensterbrett auf den Küchenboden sprang und einen Moment lang wie eine Katze lauernd verharrte. Er lauschte in die Stille, spähte in das Halbdunkel von Küche und Flur. Jedes noch so leise Geräusch, selbst die kleinsten Veränderungen in der Atmosphäre glaubte er wahrnehmen zu können. Sowie er davon überzeugt war, allein zu sein, erkundete er das kleine Haus, immer darauf bedacht, dass er von draußen nicht an einem der Fenster gesehen werden konnte. In aller Seelenruhe durchsuchte er sämtliche Schubladen und Schränke, nahm alles in die Hand, was ihr gehörte, stellte aber jeden Gegenstand exakt so wieder hin, wie er ihn vorgefunden hatte. Er nahm von ihrem Leben in sich auf, so viel er nur konnte, ohne die Kontrolle zu verlieren. Doch ohne es zu merken, überfrachtete er seine ausgehungerten Sinne mit der Essenz ihres Wesens.

Schließlich erreichte er ihr Schlafzimmer und schlüpfte durch die halb offen stehende Tür. Das Bett war nicht gemacht. Deutlich sah er, wo sie gelegen hatte: Ihr Kissen war eingedrückt und an den Seiten gestaucht. Aber was ein magischer Moment hätte werden sollen, wurde zunichtegemacht vom Geruch eines Mannes! Die tieferen Mulden im Bett ließen keinen Zweifel daran, wer noch in diesem Zimmer schlief, in ihrem Bett.

Er versuchte, alle anderen schädlichen Einflüsse von sich fernzuhalten, kauerte sich neben ihr Bett und zeichnete mit der Hand nach, wo sie gelegen hatte … stellte sich vor, ihren Körper zu berühren, ihr übers Haar zu streicheln. Er glaubte sogar, Spuren ihrer Körperwärme wahrzunehmen. Verzückt ließ er beide Hände auf dem Laken ruhen, bis die Wärme verflogen war. Dann schaute er sich in dem Zimmer um, registrierte jedes Detail, ging von einem Möbelstück zum nächsten und blieb vor der Frisierkommode stehen. Sein Blick fiel auf Make-up und all die Dinge, die nur Frauen haben. Dinge, die fremd und exotisch für ihn waren. Dinge, die nie einen Platz in seinem Leben gehabt hatten.

Er ließ seinen Blick über das Durcheinander gleiten, bis zwei Gegenstände seine Aufmerksamkeit erregten, die rasch ins Auge fielen: ein schwarzes Fläschchen mit goldener Aufschrift und ein schwerer Glastiegel mit einem Chromverschluss, in dem sich eine weiße Substanz befand. Er nahm die schwarze Phiole und las den erhabenen Schriftzug: Black Orchid Eau de Parfum. Nervös und gespannt roch er am Verschluss und war überrascht, was für ein herrlicher Duft ihm in die Nase stieg. Dann huschten seine Blicke umher, als fühlte er sich ertappt, ehe er das Parfum in die Hosentasche steckte. Das Fläschchen fühlte sich schwer an, doch er wusste, was für einen Wert es für ihn hatte.

Als Nächstes nahm er sich die Dose aus Glas vor und las die Aufschrift, die ihm bislang nichts sagte: Elemis Bodylotion. Er schraubte den Deckel ab und ließ sich von dem feinen, angenehmen Duft verzaubern. Weil er nicht widerstehen konnte, tauchte er einen Finger in die weiße Masse. Es war das erste Mal, dass er die kühle Substanz genoss, und es sollten viele weitere Gelegenheiten folgen. Er massierte sich die Creme in die Wangen, schloss dabei die Augen und ließ in seiner Vorstellung Sams Bild entstehen … wie sie sich mit dieser Lotion eincremte, nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper. Natürlich hatte sie früher nicht so gerochen, aber er wusste jetzt, wie sie duftete. Das Mädchen war zu einer jungen Frau herangereift.

Ein Geräusch außerhalb des Hauses erschreckte ihn. Schlagartig wurde ihm bewusst, wo er war und was er tat. Er verschloss die Cremedose, ließ sie ebenfalls in seiner Hosentasche verschwinden und stahl sich aus dem Schlafzimmer. Er verließ das Haus auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, und schob das Küchenfenster leise wieder zu …

Jetzt, Jahre später, beseelte ihn diese Erinnerung. Aber jetzt war er allein in seinem Schlafzimmer und hielt die Bodylotion in der Hand. Ihm fiel auf, dass das Glas halb voll war – es würde noch einige Zeit reichen, vorausgesetzt, er ging nicht verschwenderisch damit um und gab die Lotion nur denen, die wirklich wie sie waren. In Zukunft müsste er genauer hinschauen. Aber egal, er hatte noch genug für andere Frauen, für viele weitere Sams.

Er verschloss die Cremedose und legte sie behutsam in die Schublade zurück.

*

Gegen Mitternacht saß Corrigan immer noch in seinem Büro. Er hatte die Deckenlampen ausgeschaltet, um nicht wieder von einer Migräneattacke heimgesucht zu werden. Eine Schreibtischlampe spendete mattes Licht, doch im großen Bürotrakt brannten noch die Neonlampen und badeten den Raum in kaltes weißes Licht. Es waren noch ein paar Leute aus dem Team im Dienst, darunter Donnelly und Sally. Die meisten tippten ihre Berichte zu Ende; andere versuchten, am Telefon ihre Lebenspartner zu beschwichtigen, da es wieder mal spät würde. Mit müden Augen registrierte Corrigan, wer noch arbeitete und wer bereits Feierabend gemacht hatte. Er sah, dass Sally und Anna an Sallys Schreibtisch saßen und leise miteinander sprachen. Zweifellos erzählte Anna ihr, wie rücksichtslos er, Corrigan, sich auf dem Parkplatz bei Deborah Thomsons Auto benommen hatte. Oder sie versuchte immer noch, Sally zu überreden, sich endlich helfen zu lassen. Sollte das der Fall sein, wünschte er ihr viel Glück.

Corrigan hing weiter seinen Gedanken nach, bis er sah, wie Donnelly sich reckte, aufstand und zu seinem Büro kam. Aber Donnelly hatte es kein bisschen eilig, also gab es wohl keine verheißungsvollen Neuigkeiten.

Donnelly betrat Corrigans Büro und nahm unaufgefordert Platz. »Chef.«

»Dave«, erwiderte Corrigan mechanisch.

»Irgendwas Neues?«

»Ich dachte, Sie hätten was.«

»Hat irgendetwas in den Ermittlungsberichten Ihr Interesse geweckt? Die Verkehrskontrollen? Die Befragungen der Anwohner?«

»Noch nicht«, antwortete Corrigan, »aber wie Sie sehen, habe ich noch einiges vor mir.« Er deutete auf den Stapel auf seinem Schreibtisch.

»Ja«, meinte Donnelly mitfühlend. »Ich habe versucht, die Spreu vom Weizen zu trennen, aber Sie wissen ja, wie das bei Ermittlungen in so einem Fall ist. Jeder Trottel im Dienst reicht seinen Bericht ein, so unbedeutend er sein mag. Und warum? Weil die Jungs trotzdem hoffen, einen Volltreffer gelandet zu haben. Denn dann hängen sie in der Kantine herum und binden jedem auf die Nase, dass sie den entscheidenden Beitrag geleistet haben, um den Fall zu lösen und den Täter zu überführen.«

»Ja, ich weiß«, stimmte Corrigan zu. »Fakt ist aber auch, dass die Antwort tatsächlich irgendwo dort in den Unterlagen wartet. Die Frage ist nur, ob ich sie finde.«

»Sie schaffen das«, munterte Donnelly ihn auf.

»Dafür brauche ich erst die Herausgabeanordnung für die Personalakten der Postangestellten. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass es im ganzen Land keinen Richter gibt, der mir in Anbetracht der Umstände eine Vollmacht ausstellt. Was haben wir denn schon vorzuweisen? Einen Zeugen, der sich ärgert, dass man ihm Werbeprospekte durch den Türschlitz stopft.«

»Wenn wir tief genug schürfen, finden wir auch was. Vielleicht so viel, dass wir die Herausgabeanordnung am Montag auf dem Tisch haben.«

»Kann sein«, erwiderte Corrigan müde. »Egal, viel können Sie heute Abend sowieso nicht mehr erreichen. Sie sollten nach Hause fahren oder sich einen Drink genehmigen.«

Donnelly schaute auf die Uhr. »Ist schon zu spät für den Pub.«

»Was denn, Dave Donnelly weiß nicht, wo er nach der Sperrstunde noch einen Drink bekommt?«

»Doch, schon«, erwiderte Donnelly ein wenig verlegen.

»Und tun Sie mir einen Gefallen«, fügte Corrigan hinzu. »Nehmen Sie Sally und Anna mit. Aber schalten Sie die Handys nicht aus. Ich melde mich, sobald sich etwas tut.«

»Keine schlechte Idee«, sagte Donnelly fröhlich und war im nächsten Augenblick wieder im Großraumbüro. Dort trat er an Sallys Schreibtisch, redete kurz mit den beiden Frauen, die alles andere als begeistert aussahen, und drängte sie zu den Schwingtüren.

Eigenartigerweise hatte Corrigan das Gefühl, freier durchatmen zu können, als das Trio den Bürotrakt verlassen hatte. Ganz so, als hätte man ihm eine Zentnerlast von den Schultern genommen, von der er gar nichts wusste. Er rieb sich die Augen und wartete, bis die Schlieren in seinem Blickfeld verschwanden, ehe er auf die Papierstapel starrte, die sich auf seinem Schreibtisch angehäuft hatten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er die Antwort bereits kannte. Aber warum hatte die Suche in den Datenbanken dann nichts ergeben? Hatte er sich so sehr irren können? »Nein«, wisperte er vor sich hin. »Ich habe recht. Ich weiß, dass meine Vermutung stimmt.«

Er zog den Stapel Unterlagen zu sich und vertiefte sich wieder in die Berichte. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Ein Blatt nach dem anderen mit nutzlosen Informationen. Doch als Corrigan tiefer in dieses Meer eintauchte, vergaß er, welche Rolle er spielte und wo er gerade war, indem er sich von der Flut der Möglichkeiten davontragen ließ. Immer wieder stieß er auf Stellen, die ein kurzes Stechen in seiner Brust hervorriefen. Aber es blieb alles zu vage und unsicher. Wieder berichtete ein Polizist von Personen, die sich seltsam und wenig kooperativ benommen hatten. Immer wieder las Corrigan von Männern, die ausweichend auf die Frage geantwortet hatten, wo sie zum Zeitpunkt der Verbrechen gewesen seien. Die Polizisten in der Umgegend hatten viel zu viele ehemalige Fabriken und abgelegene Orte kartographiert, sodass man rasch den Überblick verlor.

Corrigan suchte nach etwas, das sich stimmig aufeinander bezog – ein nervöser Postbote, der bei einer Verkehrskontrolle angehalten worden war oder auf einem abgelegenen Gehöft wohnte. Würde er so etwas in der Flut der Informationen entdecken, wäre es der vielleicht entscheidende Schritt. Aber gab es überhaupt so einen Bericht?

Als er einige Zeit später aufschaute und einen Blick in das Großraumbüro warf, war niemand mehr zu sehen. Alles war dunkel und verlassen. Er schaute auf die Uhr, dann auf sein Handy. Den ganzen Tag hatte er sich nicht bei Kate gemeldet. Inzwischen war es zwei Uhr morgens. Zu spät, um noch nach Hause zu fahren. Wenn er jetzt nicht anrief, würde Kate ihm bei nächster Gelegenheit einen frostigen Empfang bereiten. Aber wenn er sich so spät noch meldete und die Kinder weckte, würde er in der Beliebtheitsskala noch tiefer sinken. Er überlegte, eine SMS zu schicken, entschied sich aber dagegen. Es nutzte alles nichts mehr.

Sein Blick schweifte vom Handy zurück zu dem schrumpfenden Stapel auf dem Schreibtisch. Noch widerstand Corrigan dem Verlangen, auf schnellstem Weg nach Hause zu fahren und eine Mütze Schlaf zu nehmen. Er nahm einen weiteren Bericht und schwor sich, nach diesem Blatt seine Sachen zu packen. Nur noch ein Bericht, und er würde nach Hause fahren und in einen kurzen, unruhigen Schlaf fallen, der ihm wieder Albträume bescheren würde … Louise Russells halbnackter Körper im Wald, ihre toten Augen, in denen die Frage lag: Warum? Warum hatte er sie nicht rechtzeitig gefunden?

Er blickte auf das Formular in seiner Hand, war aber so müde, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Das Brennen im Magen und das Pochen im Kopf verrieten ihm, dass er seit dem Mittagessen mit Anna nichts mehr gegessen und getrunken hatte. Er blinzelte, bis die Worte auf dem Blatt Gestalt annahmen. Es handelte sich um einen Bericht von zwei Police Constables namens Ingram und Adams, die sich in der näheren Umgebung nach Orten umgeschaut hatten, an denen möglicherweise die entführten Frauen festgehalten wurden. Sie hatten in einer ehemaligen Geflügelfarm draußen in Keston vorbeigeschaut, in der Nähe zur Grafschaft Kent. Dem Bericht zufolge war das Gehöft in schlechtem Zustand und wies einsturzgefährdete Gebäude auf. Doch auf dem Hof standen eine alte Hütte und mehrere Nebengebäude. Der Mann, der dort wohnte, hatte sich als Thomas Keller ausgewiesen: achtundzwanzig Jahre, etwa eins siebzig groß, schlank, weiß. Er hatte seinen Führerschein vorgelegt und sich insgesamt unauffällig verhalten. Verzweifelt überflog Corrigan den Bericht, auf der Suche nach dem Beruf des Mannes, aber dazu gab es keine Angaben. »Ach, verdammt«, fluchte er in die Stille des Büros. »Scheiße.« Mit dem Zeigefinger strich er mehrmals über den Namen Thomas Keller, ehe er das Blatt Papier nahm und auf den Ablagestapel warf.

»Verdammt, ich verliere den Anschluss«, warf er sich selbst vor und befürchtete, dass die Müdigkeit bereits zu Halluzinationen führte. »Fahr nach Hause. Reiß dich endlich los und fahr nach Hause.« Er stemmte sich aus dem Stuhl, auf dem er Stunden zugebracht hatte, zog den Mantel an, stopfte alles, was er für wichtig hielt, in die Taschen und strebte den Schwingtüren zu. Als er den Bürotrakt hinter sich ließ, hatte er den Namen Thomas Keller bereits aus dem Gedächtnis gelöscht – wieder nur ein weiterer Name auf einem der zahllosen Formulare. Einer von Hunderten.

*

Er warf sich im Bett von einer Seite auf die andere, bis er die grässlichen Bildfetzen, die ihm durch den Kopf spukten, nicht mehr ertragen konnte. Die Dämonen fielen immer nachts über ihn her, tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern und verhinderten, dass er seinem verfluchten Leben jemals entrinnen könnte. Nicht einmal im Schlaf gönnten sie ihm Ruhe. An diesem Abend war es schlimmer als sonst gewesen. Intensiver, lebhafter, als würde er den Höhepunkt seines Daseins erreichen. Offensichtlich stand das Ende kurz bevor. Das Ende dieses Lebens und der Anfang des nächsten.

Er stieß die fleckige Decke von sich, stieg aus dem Bett und stand in der Dunkelheit seines Zimmers, das vom Mond in kaltes bläuliches Licht getaucht wurde. Ohne nachzudenken, als wäre er sich selbst nicht über seine Absichten im Klaren, zog er die verblichene Unterhose aus, ließ sie einfach liegen und griff nach der Jogginghose, die halb über dem Bettpfosten hing. Langsam zog er den rauen Stoff über seine dürren, haarlosen, von Krampfadern überzogenen Beine, ehe er die Kapuzenjacke vom Fußboden aufhob und sich mit Kopf und Armen zuerst hineinwühlte. Im matten Mondschein schaute er sich nach seinen Sportschuhen um und quälte seine ungepflegten Füße hinein. Dann holte er die Kellerschlüssel aus der Kommode, in der er so viele spezielle Dinge aufbewahrte, und stapfte durch das zugemüllte, klamme Haus ins Bad. Aus dem Schränkchen über dem Waschbecken nahm er eine Ampulle Alfentanil und eine Spritze, die er mit fünfzig Millilitern des Betäubungsmittels füllte. Er sicherte die Kanüle mit der Verschlusskappe und begab sich auf direktem Weg zur Haustür. Dort blieb er kurz stehen und nahm den Viehtreiber aus dem hohen, schmalen Schrank, in dem er auch die Flinte aufbewahrte. Einen Moment überlegte er, ob er auch den Elektroschocker mitnehmen sollte, verzichtete an diesem Abend aber darauf. Warum, wusste er selbst nicht. Der Viehtreiber und das Alfentanil mussten reichen.

Er trat hinaus in die bitterkalte Nacht. Der wolkenlose Himmel hatte das Thermometer rapide fallen lassen. Die Kälte stach beim Atmen und traf Keller unvorbereitet, sodass er einen Moment brauchte, um sich darauf einzustellen. Während er sich seinen Weg quer über den Hof bahnte, bildeten sich weiße Atemwölkchen vor seinem Mund, in denen sich sekundenlang das Mondlicht fing. Er öffnete das Vorhängeschloss und zog die Metalltür zum Gewölbe auf. Stocksteif stand er da und lauschte auf das Knarren und Quietschen in den Angeln, doch es war die Düsternis der langen Treppe, der seine Aufmerksamkeit galt. Er lauschte auf Anzeichen von Gefahr und wagte erst dann, den ersten Schritt zu machen, als die schabenden Geräusche der Tür verklangen. Langsam bewegte er sich Schritt für Schritt hinunter in das unterirdische Gewölbe, das in blasses, schmutzig-gelbes Licht getaucht war. Als er das Gewölbe betrat, merkte er, dass es dort unten merklich wärmer war als oben im Freien. Er blieb stehen, schwieg, verharrte im Zwielicht des unteren Treppenabsatzes und horchte auf Laute der beiden Frauen, bis seine Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Er war gefasster als sonst, hatte sich besser in der Gewalt als an anderen Tagen, hatte das Gefühl, mit untrüglichen Instinkten ausgestattet zu sein. Was auch geschah, es entsprang seinem Unterbewusstsein und war ein deutlich vorgezeichneter, unaufhaltsamer Prozess. Es war das Schicksal. Sein Schicksal und das der Frauen.

Kurz darauf löste er sich aus der Starre und ging geradewegs auf den Käfig zu, in dem Louise Russell kauerte. Sie hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, starrte ihn aus großen, angsterfüllten Augen an, verfolgte jede seiner Bewegungen und wartete darauf, dass er sie ansprach. Doch er blieb einfach neben ihrem Käfig stehen und beäugte sie stumm durch die Gitterstäbe hindurch, bis er sich schließlich abwandte und steif zu der Kordel ging, die von der Decke hing. Sekunden später beleuchtete die Lampe den Bereich mit dem Wandschirm und dem Waschbecken.

Jetzt sah Louise den Viehtreiber in seiner Hand. Schlagartig erinnerte sie sich, wie er Karen Green mit diesem Ding gequält hatte. Schmerzhaft stellten sich die Bilder jenes grässlichen Abends in ihrer Erinnerung ein. Er hatte Karen aus dem Käfig geholt, mit dem Viehtreiber gefügig gemacht und vor sich her zur Treppe gestoßen. Halb half er ihr beim Gehen, halb zerrte er sie, während sie ihn anflehte, sie laufen zu lassen. In ihrer Todesangst versprach sie ihm, alles für ihn zu tun, solange er sie nur am Leben ließ. Das Dahinvegetieren im Käfig war immer noch besser als der Tod.

Panik erfasste Louise, als sie sich bewusst machte, warum er mitten in der Nacht zu ihnen gekommen war. Wie ein verschrecktes Tier, das sein Ende spürt, huschte sie in ihrem Käfig von einer Seite zur anderen, suchte nach einem Schlupfloch, das es nicht gab, nach einer Schwachstelle im Gitter, die nicht existierte. Es verschlug ihr den Atem, als sie sah, dass er zu ihr zurückkam, zu der kleinen Luke ging und sie öffnete. Er legte den Viehtreiber oben auf den Käfig, während er die Spritze aus der Hosentasche zog und die Kappe abnahm.

»Gib mir deinen Arm«, verlangte er mit strenger Stimme, die kalt von den Mauern widerhallte.

Louise schlang die Arme um den Körper. In ihrer Angst bildete sie sich ein, ihrem unausweichlichen Schicksal entkommen zu können.

»Gib mir den Arm. Du weißt, was sonst mit dir geschieht!«, warnte er sie und legte die freie Hand demonstrativ auf den Viehtreiber. Karens Schicksal flackerte wieder in Louises Erinnerung auf.

»Nein«, jammerte sie. »Ich kann nicht. Bitte, ich kann das nicht.« Ihre Tränen zerliefen in schmutzigen Bahnen auf ihren Wangen. Seit Tagen hatte sie sich nicht mehr waschen dürfen; Staub und Dreck hatten ihre sonst so reine Haut verunstaltet. Er musterte sie eine Zeit lang; dann schloss er die Luke und stülpte die Kappe wieder über die Kanüle. Nachdem er die Spritze in der Hosentasche hatte verschwinden lassen, griff er nach dem Viehtreiber und ging zur Tür des Käfigs. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Louise seine Bewegungen. Sie sah, wie er sich das Gerät unter den Arm klemmte, während er in der anderen Hosentasche nach dem Schlüssel für das Schloss kramte. Ihr Herzschlag hämmerte in ihrem Kopf, als er den Schlüssel drehte und das Vorhängeschloss aufschnappen ließ. Gehetzt huschten ihre Blicke von einer Seite zur anderen. Sie spürte, wie ihr vor Todesangst ihr heißer Urin am Bein herunterlief, als er langsam die Tür öffnete.

Im nächsten Moment kletterte er zu ihr in den Käfig und richtete den Viehtreiber auf Louise. Sie war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Entsetzt dachte sie daran, wie hilflos Karen gewesen war, als er ihr das Ding auf den nackten Körper gedrückt hatte. Die schrecklichen, unkontrollierten Zuckungen. Die Schmerzensschreie. So weit durfte sie es nicht kommen lassen!

Plötzlich gaukelte ihr geschwächter Verstand ihr eine falsche Hoffnung vor. Vielleicht hatte er Karen freigelassen. Ja, sicher, er hatte sie in den Wald oder die Stadt gebracht und gehen lassen. Die Droge hatte er ihr nur verabreicht, damit sie sich an nichts mehr erinnerte und niemandem erzählen konnte, wo man sie festgehalten hatte. Deborah irrte sich. Man hatte nicht Karens Leiche gefunden. Es musste jemand anders tot im Wald gelegen haben. »Bitte«, sagte sie und streckte ihm in ihrer Hilflosigkeit beide Hände entgegen, die Handflächen nach oben, die Armbeugen bereit für die Kanüle. »Es tut mir leid. Ich tue, was du sagst. Ich tue alles, was du sagst.«

Er war ihr ganz nah gekommen. Sein Mund stand leicht offen. Sie sah seine schiefen, fleckigen Zähne … seine Augen, schmal und grausam.

»Dafür ist es zu spät«, zischte er böse. »Ich weiß, was du bist, du kleine Dreckshure.«

Sie wollte etwas erwidern, aber unter den Stromstößen, die der Viehtreiber in ihren Leib jagte, verkrampfte sie und stürzte zu Boden. Jeder Muskel ihres Körpers begann zu zucken. Der Schmerz brannte in ihrem Kopf. Die Konvulsionen hielten nur Sekunden an, anders als beim Elektroschocker. Kaum spürte sie, dass ihr Körper sich ein wenig entspannte, strafte ihr Peiniger sie erneut mit dem Stab, bis er sich in einen wahren Rausch hineinsteigerte und Louise mit unzähligen Stößen traktierte: an der Wirbelsäule, am Bauch, an den Beinen, am Hals … so lange, bis sie reglos am Boden des Käfigs lag.

Er ragte über ihr auf, abwartend, denn er rechnete damit, dass sie immer noch imstande war, sich ihm zu widersetzen. Die tiefen Kratzer in seinem Gesicht gemahnten ihn, vorsichtig zu sein, selbst wenn die Beute besiegt am Boden lag. Mehrmals versetzte er ihr Tritte gegen die Rippen und entlockte ihr ein Stöhnen. Doch sie regte sich kaum. Zufrieden kauerte er sich neben sie, legte den Viehtreiber zur Seite und holte die Spritze aus der Tasche. Dann nahm er Louises Arm und suchte nach einer Ader, fand aber keine, da die Frau bereits stark dehydriert war. Er klemmte sich die Spritze zwischen die Zähne und klopfte gegen Louises Armbeuge, um die Vene zum Vorschein zu bringen. Endlich waren Anzeichen eines bläulichen Blutgefäßes zu erahnen. Schnell umfasste er ihren Arm oberhalb des Ellbogens mit einer Hand und wartete darauf, dass sich das Blut in ihren Adern staute. Völlig ungerührt beobachtete er, wie sich die Vene unter der Haut abzeichnete. Dann nahm er die Spritze aus dem Mund, setzte die Kanüle im richtigen Winkel an und stach die Spitze in Louises dünne, blasse Haut. Für einen kurzen Moment drang ihr Blut in das untere Drittel der Spritze und vermischte sich mit dem Alfentanil, ehe Keller den Inhalt der Spritze rücksichtslos in Louises Blutkreislauf drückte. Kurz darauf zog er die Kanüle wieder aus ihrer Armbeuge und wartete auf die untrüglichen Anzeichen körperlicher Entspannung. Auf den leisen Seufzer, den Louise ausstoßen würde und der bedeutete, dass das Betäubungsmittel wirkte. Erst dann konnte er sicher sein, dass sie sich ihm nicht mehr widersetzen würde.

Schließlich hörte er, wie ihr ein Seufzen über die spröden Lippen kam. Er beobachtete, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte, und sah das Flattern ihrer Lider. Die Arme hatte sie von sich gestreckt. Sein Blick ruhte auf ihren Brüsten, die sich ihm rhythmisch entgegenhoben. Louise bewegte die Lippen, öffnete halb den Mund, als wollte sie leise mit ihm sprechen … Worte, die nur er verstand. Worte des Verlangens. Sie begehrte ihn, brauchte ihn. Sein Glied schwoll an und wurde härter, als ihm lieb war. »Ja, ich weiß, was du brauchst, du kleine Hure. Ich weiß, wie sehr du mich begehrst.« Hastig drückte er ihr die Schenkel auseinander, kniete sich zwischen ihre gespreizten Beine und zog die Jogginghose bis über die Knie herunter, sodass sein Penis hervorschnellte und grotesk auf und ab wippte. »Sieh nur, was du getan hast«, schimpfte er. »Du hast mich so abscheulich gemacht wie du. So schwach wie du. Du bedeutest mir nichts mehr!«, spie er mit verzerrtem Gesicht hervor.

Deborah hatte bislang alles mit angesehen, starr vor Entsetzen. Sie wusste, was ihrer Mitgefangenen blühte, und konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Sie kniff die Augen zusammen, presste sich beide Hände auf die Ohren, doch sosehr sie sich zu schützen versuchte, sie konnte das Keuchen und Schnaufen der Bestie nicht ausblenden. Selbst die matten Schreie und gequälten Laute ihrer Mitgefangenen musste sie ertragen. Ihre psychischen Schutzmechanismen aktivierten sich von allein. Deborah summte vor sich hin, auch auf die Gefahr hin, seinen Zorn auf sich zu ziehen.

Nach einiger Zeit glaubte sie, dass die schrecklichen Laute, die von Louises Qualen kündeten, verebbten. Vorsichtig blinzelte sie und sah, dass ihr Peiniger tatsächlich von Louise abgelassen hatte und sich die Hose hochzog. Er wusste, dass Deborah ihn beobachtete, mied aber ihren Blick. Er rang nach Luft wie nach einem langen Sprint.

»Siehst du, wozu du mich treibst«, warf er der reglosen Louise vor. »Aber du hast mich zum letzten Mal ausgetrickst, Miststück. Noch einmal erniedrigst du mich nicht. Du bist nur eine kleine dreckige Nutte, aber ich nicht.« Seine Stimme klang tonlos und vollkommen emotionslos. »Es wird Zeit, dass du gehst. Ich will dich hier nicht mehr sehen.«

Er zerrte Louise aus dem Käfig. Deborah wollte ihn anschreien, er solle gefälligst seine dreckigen Finger von ihr lassen, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Die furchtbare Gewissheit, was nun mit Louise geschehen würde, ließ sie verstummen. Schweigend beobachtete sie, wie er die betäubte Frau quer durch den Keller zerrte: Halb zog er sie, halb folgte sie stolpernd seinen Anweisungen. Als er an dem Wandschirm vorbeikam, machte er die Lampe aus und tauchte das unterirdische Gewölbe wieder in die Düsternis der Vorhölle.

Noch immer bekam Deborah kein Wort hervor, auch nicht, als er Louise zum unteren Treppenabsatz zerrte. Die stammelnden Laute des Opfers und die unregelmäßigen, schlurfenden, orientierungslosen Schritte auf den blanken Stufen waren schrecklicher als alles, was Deborah bis dahin je gehört hatte.

Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als der dumpfe Knall der Metalltür durch das Gewölbe dröhnte. Das Vorhängeschloss klirrte. Dann herrschte Stille, in die sich das leise Plätschern des Wassers an den Mauern stahl. Zum ersten Mal war Deborah ganz allein. Aber wie lange noch?

Louises schreckliche Prophezeiung war Wirklichkeit geworden. Jetzt war sie an der Reihe – es war an der Zeit, dass sie Louise Russell wurde. Und Karen Green.

Hilflos sank Deborah auf den Käfigboden und schlang beide Arme um den Körper, wippte stumpfsinnig vor und zurück und weinte stumm im Zwielicht des Gewölbes.

Allein.