5.
Am Freitagmorgen gegen halb acht war Corrigan auf dem Weg zum Schauplatz einer weiteren Tragödie, von der die Welt vermutlich nie erfahren würde. Je näher er dem Tatort kam, umso deutlicher hatte er Louise Russells attraktives Gesicht vor Augen.
Wie mochte sie jetzt aussehen? Würden hässliche Stichwunden ihren Körper verunstalten? Würgemale am Hals? Ein zertrümmerter Schädel mit blutverklebtem Haar? Noch wusste Corrigan nicht, wie sie gestorben war, dazu musste er erst die Leiche sehen. Aber irgendwie ahnte er schon jetzt, dass sie nackt im Wald lag und ihr Mörder sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Leiche zu verscharren oder die Spuren seiner Tat zu verwischen.
Auf der einsamen Straße in Richtung Three Halfpenny Wood hielt er Ausschau nach den Kollegen und entdeckte kurz darauf zwei Streifenwagen und Donnellys zivilen Pkw am Rand des Weges. Straße und Waldrand waren mit blau-weißem Flatterband abgesperrt. Corrigan stieg aus, schüttelte die Müdigkeit ab und lehnte sich an die Wagentür, während er sich umständlich Plastiktüten über die Schuhe streifte. Danach ging er zu den beiden uniformierten Beamten, die bei den Polizeifahrzeugen standen und den Zugang zum Wald bewachten. Corrigans dünner Regenmantel wehte im Wind. Als ihn nur noch wenige Schritte von den Polizisten trennten, zog er seinen Ausweis und hielt ihn den Männern hin. »Detective Inspector Corrigan«, stellte er sich vor. »Wo ist die Leiche?«
»Ungefähr fünfzig Fuß von hier im Wald, Sir«, antwortete einer der Beamten. »Immer geradeaus, dann sehen Sie schon Ihren Detective Sergeant.«
Corrigan spähte in den Wald und ließ sich einen Moment Zeit, ehe er sich noch einmal den Männern zuwandte. »Danke«, sagte er und tauchte unter dem Absperrband hindurch. Auf dem Weg durch den Wald blieb er immer wieder stehen, den Blick auf der Suche nach Spuren auf den Boden gerichtet, ehe er wieder ein paar Schritte ging. Es war schwer zu sagen, welchen Weg der Killer eingeschlagen hatte, da von der Straße aus mehrere Trampelpfade tiefer in den Wald führten. Aber Corrigan war sicher, dass der Mörder den direkten Weg zum Tatort genommen hatte. Er hatte bestimmt nicht versucht, seine Spuren zu verwischen. Vielleicht wäre es einfacher, auf dem Rückweg nach Hinweisen Ausschau zu halten, nachdem er die Leiche in Augenschein genommen hatte.
Als er den Blick hob, sah er vor sich eine Lichtung, auf der sich Donnelly mit zwei Beamten unterhielt. Ein Zweig knackte unter Corrigans Sohle, worauf die drei Männer sofort in seine Richtung schauten, als wäre er ein unwillkommener Eindringling.
»Ah, Chef«, grüßte Donnelly.
»Ist das Louise Russell?«, fragte Corrigan ohne Vorrede.
»Wer sollte es sonst sein?«
»Haben Sie die Leiche schon untersucht?«
»So nah war ich noch nicht dran«, erwiderte Donnelly. »Ich wollte nicht unnötigerweise auf dem Boden herumtrampeln. Aber es ist eine junge weiße Frau mit kurzem braunem Haar. Falls Sie keine anderen Infos haben, würde ich sagen, es ist Louise Russell.«
»Die Beschreibung passt jedenfalls.« Corrigans Laune verdüsterte sich. Eine Zeit lang hatte er noch gehofft, bei der Toten könnte es sich um eine andere handeln. »Wo ist die Leiche?«
Donnelly streckte den Arm aus. »Auf der anderen Seite von der kleinen Erhebung da vorn, auf einer Lichtung. Möchten Sie wissen, was ich bislang in Erfahrung bringen konnte, Sir?«
Corrigan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will mir erst selbst einen Eindruck verschaffen.«
»Okay«, sagte Donnelly. Er war nicht beleidigt; er wusste, wie Corrigan am liebsten arbeitete.
»Wer hat die Tote gefunden?«
»Ein Mann, der hier öfter früh am Morgen seinen Hund ausführt. Der Hund hat sie aufgestöbert.«
»Fällt irgendein Verdacht auf den Hundehalter?«
»Nein. Er hatte nur das Pech, die Tote zu finden. Aber wir haben ihn trotzdem auf die nächste Wache gebracht, weil wir Proben von seiner Kleidung nehmen müssen«, antwortete Donnelly.
»Gut«, sagte Corrigan. »Sorgen Sie dafür, dass wir auch Proben von dem Hund haben.«
»Wie bitte?«
»Ich möchte Proben von den Hundehaaren.«
»Aber wozu? Wenn wir Haare an der Leiche finden, wird uns die DNA verraten, ob sie zu einem Menschen oder einem Hund gehören. Und sollten es Hundehaare sein, wissen wir doch, woher sie stammen, nämlich vom Hund des Spaziergängers.«
»Und woher wollen wir wissen, ob ihr Mörder nicht vielleicht auch einen Hund hatte?«, entgegnete Corrigan. »Könnte doch sein, dass er sie irgendwo festgehalten hat, wo es einen oder mehrere Hunde gab.«
Donnelly seufzte. »Schon klar.«
»Prima, dann nehmen wir die Proben von dem Hund und veranlassen, dass jemand einen Abdruck von den Pfoten des Tieres macht, um sie mit den Spuren bei der Leiche abzugleichen.«
»Wenn Sie meinen, dass es nötig ist.«
»Ja, das ist nötig«, sagte Corrigan. »Kümmern Sie sich darum.«
»Wird gemacht.«
»Ich muss die Leiche sehen.«
»Wird den Forensikern nicht gefallen.«
»Sie werden es überleben. Außerdem soll Dr. Canning die Leiche hier vor Ort untersuchen, bevor Roddis mit seinem Team alles in Beschlag nimmt. Ist die Spurensicherung schon unterwegs?«
»Klar«, erwiderte Donnelly, »die müssten jeden Moment hier eintreffen.«
»Sorgen Sie dafür, dass sie sich erst dann an die Arbeit machen, wenn Canning weg ist, okay?«
»Geht klar.«
Corrigan betrachtete die kleine moosbewachsene Erhebung, die aus einem umgestürzten Baum und wucherndem Dickicht bestand. Er wusste, was auf der anderen Seite lag, und er wusste auch, dass es Zeit war, diese andere Sphäre zu betreten, die jenseits der Welt existierte, in der sich die meisten Menschen aufhielten: eine Welt aus Schmerz und Leid, sinnloser Gewalt und dem Tod Unschuldiger.
»Ich muss mich einen Moment allein dort umsehen«, ließ er Donnelly wissen und ging in Richtung des umgestürzten Baumes. Wieder suchte er den Boden nach Spuren ab. Corrigan ließ sich Zeit, um sich innerlich zu wappnen. Er musste sich auf den Anblick der Leiche einstellen und auf die Gefühle, die ihn bestürmen würden, wie er nur zu gut wusste. Er brauchte Zeit, um sich auf die Person vorzubereiten, in die er sich gleich verwandeln würde.
Als er die kleine Erhebung erreichte, schlug er einen weiten Bogen. In welcher Stellung würde er die Leiche vorfinden? Würde er zuerst ihren Kopf oder ihre Füße sehen?
Während Corrigan das Dickicht umrundete, beschleunigte sich sein Puls – nicht aus Angst, sondern aus einer Vorahnung heraus. Würde er Spuren vom Killer finden, die dieser unbedacht zurückgelassen hatte? Wie würde der Mordschauplatz auf ihn wirken? Je mehr Eindrücke er mit dem Täter teilte, der in der Nacht hier gewesen war, desto näher wäre er ihm auf den Fersen.
Als Corrigan die schrecklich zugerichtete Leiche sah, drehte er zunächst den Kopf weg, weil er Zeit brauchte, um sich auf den Anblick einzustellen. Er schaute hinauf zum blauen Himmel, und in seiner lebhaften Fantasie verwandelte sich der helllichte Tag in die Nacht der Mordtat. Der Sonnenschein wich kaltem Regen. Corrigan stellte sich vor, wie das Waldstück in der Dunkelheit ausgesehen hatte: Kalt pfiff der Wind durch das Geäst der Baumkronen, und der bleiche, leblose Körper wurde immer wieder vom Mondlicht erfasst, das hier und da durch die Wolken brach.
Als er dann wieder einen Blick auf die Leiche warf, sah er, dass seine Vermutung richtig gewesen war – die Tote war nackt und unbedeckt und lag auf dem Rücken, die Arme dicht am Körper, die Beine gebeugt, die Schenkel leicht geöffnet, als hätte der Mörder sie absichtlich in eine Beischlafposition gebracht.
Corrigan glaubte nicht, dass der Mörder sie bewusst so hatte liegen lassen, doch er war sicher, dass sie vergewaltigt worden war, wahrscheinlich mehrfach. Er malte sich aus, wie Wolken vor den Mond huschten und den Wald verdunkelten, während der Mörder über der Frau kniete und ihr beide Hände um den Hals legte. Ihre Füße scharrten hilflos über den Waldboden.
Corrigan trat näher heran und war nun fast so dicht an der Leiche, dass er die geduckte Gestalt berühren konnte, die er in seiner Einbildung vor Augen sah und die sich über ihr Opfer beugte, gesichtslos und verschwommen. Er wagte sich noch näher heran und bewegte sich dabei so langsam wie eine Schlange, ehe sie zum Biss ansetzt. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Er spürte, wo der Killer gekauert haben musste und wie die Frau sich im Todeskampf unter ihm wand. Er stellte sich vor, das Gesicht des Mannes zu berühren und dem Killer in die Augen zu schauen, als könnte er dadurch begreifen, warum dieser Mann, den er jagte, zum Monster geworden war. Warum er zwanghaft Dinge tat, die niemand begreifen konnte. Vielleicht nur er, Corrigan. Verstehen konnte er vielleicht, vergeben nie.
Einen Augenblick später verschwand die Vision so schnell, wie sie gekommen war. Aus Nacht wurde Tag; Regen und Wind wichen dem Sonnenschein im Frühling und der Stille des Morgens.
Einen Moment lang war Corrigan verwirrt und desorientiert. Die außergewöhnlich intensiven Bilder der Nacht wirkten stärker nach als der Anblick der Toten, die nur wenige Schritte von ihm entfernt lag. Einsam und verloren blickte Corrigan auf den reglosen Körper eines weiteren Mordopfers, das ohne Mitleid wie Müll im Wald abgeladen worden war.
Für gewöhnlich gelang es Corrigan, seine außergewöhnliche Vorstellungskraft zu bündeln und für seine Zwecke einzusetzen, so präzise, wie ein Chirurg sein Skalpell ansetzt. An diesem Tag aber hatten sich die Bilder vor seinem geistigen Auge fast gänzlich seiner Kontrolle entzogen und ein Eigenleben begonnen. Ihn fröstelte, als er sich bewusst machte, wie deutlich und intensiv er die letzten Augenblicke im Leben dieser jungen Frau nachempfunden hatte. Er wusste, was das bedeutete, denn längst schon hatte er eine intensive Verbindung zu dem Mann hergestellt, der dieses Verbrechen begangen hatte.
Eine Stimme, die von weither zu kommen schien, holte Corrigan ins Hier und Jetzt zurück.
»Alles in Ordnung, Chef?«, rief Donnelly. »Ich dachte, Sie hätten gerade etwas gesagt.«
»Alles bestens«, log Corrigan.
Er blendete seinen Detective Sergeant aus und blickte wieder auf den zerbrechlichen Körper im bräunlichen Laub. Fragen drängten in sein Bewusstsein und verlangten nach Antworten, die womöglich zum Greifen nahe waren. Corrigan wusste, dass er diese Fragen und Antworten analysieren und systematisch ordnen müsste, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Stattdessen schloss er die Augen, atmete tief und gleichmäßig und wehrte den Strom der Informationen ab, damit sein Verstand zur Ruhe kam. Als er die innere Ruhe spürte, die er brauchte, um seine Arbeit zu tun, schlug er die Augen wieder auf und sah, wie das helle Licht des Morgens durch die Äste der Bäume filterte. Corrigan kam es so vor, als hätte sich das Licht in aberhundert Sonnenstrahlen aufgefächert, die bereits kräftig genug waren, dass der Regen der vergangenen Nacht sich in Nebelschwaden auflöste. Die verdunstende Feuchtigkeit verlieh den Lichtstrahlen eine geisterhafte Schönheit. Mit einem Mal schien das Fleckchen Wald wie verzaubert, wie eine Szene aus einem mystischen Märchen – wäre da nicht die Leiche gewesen, vor der er stand.
Die Fragen und Antworten bestürmten ihn erneut, aber diesmal war er bereit dafür und imstande, sie zu bändigen. Corrigan trat so nahe an die Tote heran, wie die Umstände es erlaubten, und sah nun alles, was er sehen musste. Langsam kniete er nieder, nahm den Leichnam von Kopf bis Fuß in Augenschein. Er wusste, dass die Verletzungen ihre eigene Geschichte erzählten: die aufgesprungene, verkrustete Lippe und die dunkelblauen Flecken am Körper, die von älteren Prellungen zeugten und sich deutlich von den frischen Wunden seitlich am Schädel und am Hinterkopf abhoben. Geronnenes Blut verdeckte das rechte Ohr der Toten. Am rechten Knie und Ellbogen waren Prellungen jüngeren Datums zu erkennen. Auch die rechte Hand wies Verletzungen auf; die Haut an den Knöcheln war aufgeschürft, die Finger geschwollen, vielleicht sogar gebrochen. Auch das schienen frische Verletzungen zu sein, genau wie die zahlreichen Risse an Füßen und Waden. Der gesamte Körper der Toten war mit Prellungen unterschiedlicher Färbung und Ausprägung übersät, als hätte sie immer wieder Schläge mit einem stumpfen Gegenstand erleiden müssen.
Corrigan beugte sich weiter vor, als er ungewöhnliche Male in der Armbeuge entdeckte: blaue Flecken und Spuren von Nadeleinstichen. Entweder hatte ihr Peiniger sie gezwungen, sich selbst etwas zu spritzen, oder er hatte ihr eine Dosis irgendeiner Substanz verabreicht.
Nachdem Corrigan sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, streifte er sich einen Latexhandschuh über und strich der Toten behutsam das Haar aus dem Gesicht. Was er sah, ließ ihn innehalten, während er versuchte, den Anblick zu deuten. Im nächsten Moment suchte er in seinen Jackentaschen hastig nach dem Foto von Louise Russell, das er eingesteckt zu haben glaubte. Als er es endlich fand, verglich er das Gesicht der Toten mit dem der jungen Frau auf dem Foto. Dann versuchte er, sich die Vermisstenanzeige zu vergegenwärtigen und kramte in seinem Gedächtnis nach den Einträgen unter »äußere Merkmale«. Ihm fiel ein, dass Louise sich als Jugendliche einer Blinddarmoperation unterzogen hatte, die eine Narbe an der rechten Bauchseite hinterlassen hatte.
Langsam fuhr Corrigan mit der Hand über den Körper der Leiche, ohne ihn zu berühren, bis er die Stelle am Unterleib erreichte, wo die Narbe hätte sichtbar sein müssen.
Die Haut dort war unversehrt.
»Großer Gott«, entfuhr es ihm leise, als er versuchte, die Tragweite dieser Entdeckung zu ermessen.
Wieder betrachtete er die Tote und suchte nach anderen Hinweisen, die ihm verrieten, dass diese Frau nicht Louise Russel war, doch er konnte keine weiteren Narben oder Merkmale finden. Vorsichtig umfasste er das rechte Handgelenk der Frau und drehte ihren Arm: Das wenig kunstvolle, farbenfrohe Tattoo eines Phönix kam zum Vorschein. Irgendetwas an dieser Tätowierung kam Corrigan kindlich vor, unwirklich. Im Bericht über Louise Russell war keine Rede von Tätowierungen gewesen.
Diese Tote war nicht die entführte Frau, nach der sie suchten.
Corrigan trat von der Leiche zurück, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Louise Russell war nicht die Erste, stimmt’s?« Er sprach zu dem Geist des Killers, dessen boshafte Präsenz den Boden besudelt hatte, auf dem Corrigan jetzt stand. Der Eindruck, dass der Mörder neben ihm stand, war so intensiv, so überwältigend, dass Corrigan das Gefühl hatte, die Hand nach dem Wahnsinnigen ausstrecken zu können. »Die hier war deine Erste. Du hast sie entführt und dann Louise Russell geholt. Aber warum? Was geht in deinem Kopf vor? Was treibt dich zu so etwas?«
Er hielt inne, stand schweigend da, ließ seinen Gedanken freien Lauf. Jede Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, zog er in Betracht, ehe er weitersprach. »Sie ähneln sich. Die beiden Frauen sind für dich ein- und dieselbe Person. Sie sind Ende zwanzig, schlank, haben kurzes braunes Haar, dieselbe Nase, dieselben Gesichtszüge … das war kein Zufall, habe ich recht?« Wieder schwieg er, dachte nach und wartete auf die Antworten, die sich nach und nach einstellten. »Die Frauen erinnern dich an jemanden … nein«, verbesserte er sich, »es steckt mehr dahinter. Als du diese Frau gesehen hast, wurde sie zu jemandem, den du geliebt hast. Der dich abgewiesen, dich verraten hat. So ist es doch, nicht wahr? Jemand hat dich verraten und enttäuscht. Deshalb hast du die Frauen entführt, um wieder mit dieser Person zusammen zu sein.«
Er jetzt merkte Corrigan, dass er sich mit beiden Händen durchs Haar strich, während er sich auf seine Gedanken konzentrierte. »Aber warum dieser Mord?« Er zeigte auf die Tote, wartete auf weitere Erkenntnisse. »Hat auch sie dich zurückgewiesen? Und bist du nicht damit fertig geworden und hast sie deshalb bestraft?« Wieder dachte er nach und schüttelte den Kopf. »Aber das erklärt das hier nicht.« Sein Blick schweifte über die Leiche. »Das war eine Hinrichtung. Du hast sie so schnell und schmerzlos getötet, wie es dir möglich erschien. Hier war kein Zorn im Spiel. Die Leiche liegt nicht so, als wolltest du die Tote im Nachhinein demütigen. Also sag mir, du kranker Scheißkerl, wie kommt es, dass du die Frau erst liebst, um sie dann wie einen Kadaver hier im Wald abzuladen?«
Als er merkte, dass er immer noch auf die Tote zeigte, zog er die Hand zurück und steckte sie in die Tasche, um sich nicht zu weiteren Gesten hinreißen zu lassen. Dann stand er regungslos vor der Leiche, verarbeitete die Eindrücke mit messerscharfem Verstand und kam zu Schlussfolgerungen, die er dem Rest des Teams nie begreiflich machen könnte – ganz zu schweigen von Außenstehenden. Es gab nur einen Menschen, der nachvollziehen konnte, was er, Corrigan, im Augenblick dachte – und das war jener Mann, der diese hübsche junge Frau gequält und erdrosselt hatte, die jetzt im Laub lag und auf deren Leichnam Käfer und Insekten krabbelten.
Unvermittelt machte Corrigan auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu Donnelly. »Es ist eine andere«, sagte er, noch ehe er bei seinem Detective Sergeant war.
Donnelly blickte ihn verdutzt an und wollte etwas erwidern, doch Corrigan fuhr unbeirrt fort: »Das ist nicht Louise Russell.«
»Also, wenn Sie mich fragen, sieht die Tote verdammt so aus wie die Frau, die wir suchen, Chef.«
»Aber sie ist es nicht. Sie sieht ihr ähnlich, aber sie ist es nicht. Louise Russell hatte eine Blinddarmoperation. Diese Tote hat keine Blinddarmnarbe und obendrein eine Tätowierung am Handgelenk. Louise Russell ist nicht tätowiert.«
Donnelly brauchte einen Moment, bis er Corrigans Worte verarbeitet hatte. »Ach du Scheiße«, sagte er dann.
»Ja, Scheiße, in der Tat«, pflichtete Corrigan ihm bei.
»Aber wenn die Tote nicht Louise Russell ist, wer ist sie dann?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Corrigan und ging die nächsten Schritte bereits in Gedanken durch. »Okay, ich möchte, dass Sie sich bei Sally melden. Sagen Sie ihr, sie soll die letzten Vermisstenanzeigen für South East London durchgehen. Sie soll sich aber nur auf die Frauen konzentrieren, die Louise Russells Beschreibung ähneln. Sie wird nicht viele finden, aber hoffen wir, dass wenigstens eine dabei ist. Sobald die Spurensicherung hier ist, sollen sie die Tätowierung fotografieren. Irgendetwas ist daran seltsam – was genau, weiß ich noch nicht. Leiten Sie die Fotos weiter an jemanden, dem Sie vertrauen. Er soll bei örtlichen Tattooshops nachfragen, sich im Internet umschauen und so weiter. Vielleicht finden wir jemanden, der sich erinnert, diese Frau tätowiert zu haben.«
»Das könnte Zukov machen«, sagte Donnelly schmunzelnd. »Er hat bestimmt nichts gegen so einen Job.«
»Gut. In der Zwischenzeit kümmern Sie sich um die Jungs von der Forensik. Machen Sie denen klar, dass sämtliche Spuren vom Tatort unter Hochdruck analysiert werden müssen. Natürlich werden sie nörgeln und sagen, die Antiterroreinheit hätte sie mit Arbeit zugeschüttet, aber bleiben Sie hartnäckig. Machen Sie den Leuten klar, dass es noch eine vermisste Person gibt, die bald ebenfalls in irgendeinem einsamen Waldstück liegen wird, wenn die Proben hier nicht auf der Stelle ausgewertet werden.«
»Geht klar, Chef«, versicherte Donnelly. »Aber eine Sache haben Sie vielleicht übersehen.«
»Tatsächlich?«
»Wir wissen doch gar nicht, ob das Verschwinden von Louise Russell mit dem Mord an dieser Frau zu tun hat.«
»Kein Make-up, keine lackierten Fingernägel oder gefärbtes Haar. Keine eindeutigen Spuren von Heroinkonsum an den Armbeugen, keine Piercings. Die Frau war keine Prostituierte, die vom Bordstein entführt und ermordet wurde.«
»Verstehe«, erwiderte Donnelly. »Aber können wir denn schon sagen, dass sie von dem Mann ermordet wurde, der Louise Russell entführt hat?«
»Die Tote ist ungefähr in Louises Alter, ähnelt ihr vom Körperbau, von der Haarfarbe, selbst von den Gesichtszügen. Wir werden auf eine Vermisstenanzeige stoßen, die uns Aufschluss darüber gibt, wer die Tote dort ist. Und glauben Sie mir, es wird sich herausstellen, dass die beiden in die Fänge desselben Mannes geraten sind.«
»Wenn Sie es sagen«, meinte Donnelly mit einem Seufzer.
»Ich muss zurück aufs Revier, um Featherstone ins Bild zu setzen. Ach ja, eine Sache noch …«
»Ja?«
»Decken Sie die Leiche zu, Donnelly. Die arme Frau hat genug gelitten, sie muss nicht auch noch im Tod gedemütigt werden. Außerdem hilft uns das, falls der Regen wieder einsetzt.«
Der Detective Sergeant nickte und schaute Corrigan nach, der über Äste und Zweige hinwegstieg und zurück zur Straße ging. Zurück zum Auto.
Genau wie der Mörder in der Nacht zuvor.
*
Thomas Keller stieg langsam die Stufen in das Gewölbe hinunter. Das Licht des frühen Tages warf einen langen Schatten, der über den Boden glitt wie ein böser Geist. Er lauschte auf Geräusche, achtete aber gleichzeitig darauf, das Tablett mit dem Frühstück gerade zu halten. Keller war ruhig, aber melancholisch gestimmt. Als er das Gewölbe betrat, stellte er das Tablett auf dem behelfsmäßigen Tisch hinter dem alten Wandschirm ab und zog an der Kordel der Lampe.
Die Andeutung eines Lächelns lag um seine Mundwinkel, als er in Louises Richtung blickte. »Ich muss bald zur Arbeit«, sagte er, »aber ich dachte, du willst dich bestimmt noch ein bisschen frisch machen und frühstücken.«
Er erhielt keine Antwort. Aber es freute ihn, als er sah, dass sie die Sachen trug, die er ihr gegeben hatte. Sein Lächeln wurde breiter, je deutlicher er die elegant gekleidete junge Frau in dem Käfig sah.
»Du siehst toll aus«, sagte er. »Hast du auch die Bodylotion und das Parfum benutzt, das ich dir gegeben habe? Ich rieche nichts.« Immer noch Schweigen. »Dir ist wohl nicht nach Reden, wie? Egal. Ich versteh das. Du bist sauer wegen …« Er unterbrach sich, ehe er einen gewissen Namen aussprach. »Du bist sauer wegen der anderen Frau, die hier war. Mach dir keine Sorgen. Die ist weg. Die macht uns keinen Ärger mehr. Wir brauchen uns nie mehr ihre Lügen anzuhören.«
Louise brach ihr Schweigen. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich sagte doch gerade, dass wir uns nie mehr Gedanken um sie machen müssen«, antwortete er und wirkte mit einem Mal ein wenig nervös. »Reden wir nicht mehr von ihr, okay?«
»Was hast du mit ihr gemacht?« Louise ließ nicht locker. Verachtung und Wut verdrängten ihre Furcht.
»Wir reden nicht mehr von ihr!«, spie Keller mit plötzlichem Zorn hervor. »Kein Wort mehr, verdammte Scheiße! Nie mehr! Verstanden?« Sein Gesicht glich einer verzerrten Fratze.
Louise wich in ihrem Käfig zurück. Die Hände wie zur Abwehr von sich gestreckt, stieß sie hervor: »Tut mir leid! Ich werde sie nie mehr erwähnen, ehrlich!«
»Gut«, sagte er und entspannte sich. Dann holte er den Schlüssel für den Käfig und den Elektroschocker aus zwei unterschiedlichen Taschen und starrte schuldbewusst auf das Gerät in seiner Hand. »Tut mir leid«, meinte er, »aber ich weiß nicht, wie sehr die anderen dich vergiftet haben. Könnte sein, dass sie noch Macht über dich haben und dir Dinge über mich einreden, die nicht wahr sind. Wir können gar nicht vorsichtig genug sein.« Er machte das Schloss auf und ließ die Tür von selbst aufschwingen. Dann trat er zurück, um die Frau aus dem Käfig zu lassen. Langsam kroch sie zu der Öffnung, dann aber hielt er sie auf. »Halt. Vergiss nicht die Creme und das Parfum. Ich will, dass du heute beides benutzt. Aber zuerst ziehst du dich ganz aus. Du sollst dich richtig waschen, ehe du die Bodylotion nimmst.«
Louise griff hinter sich und nahm die Dinge mit, die er ihr tags zuvor durch die Luke gereicht hatte. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, drückte sie beides an die Brust, als wären es Kostbarkeiten.
Als sie aus dem Käfig kletterte, bemerkte sie, dass Tageslicht von weiter oben in das Verlies fiel, und sie erkannte, dass oben die Tür offen stand. Doch sie konnte nichts machen, da er jeden ihrer Schritte beobachtete und den Elektroschocker in der Hand hielt. Vorsichtig ging sie an ihm vorbei, beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und wartete darauf, dass er einen Sekundenbruchteil unaufmerksam war, dann hätte sie eine Chance gehabt. Aber er blieb wachsam, sodass sich Louise keine Gelegenheit zur Flucht bot.
Sie verschwand hinter dem Schirm und zog sich aus, wobei sie die Sachen sorgsam über den Wandschirm hängte. Schüchtern und unsicher schaute sie ihn an, um ihm zu verstehen zu geben, wie unangenehm es ihr war, beim Ausziehen beobachtet zu werden.
»Entschuldige bitte.« Keller begriff. »Du möchtest für dich sein. Verstehe.« Er trat tiefer in das Gewölbe und gab sich damit zufrieden, die junge Frau durch das dünne Material des Wandschirms zu beobachten. Er sah, wie sie das letzte Kleidungsstück ablegte und sich mit dem feuchten Tuch am ganzen Körper zu waschen begann. Doch an diesem Tag spürte er nichts. Keine freudige Erregung, dass sie bald zusammen sein würden. Die Ereignisse der vergangenen Nacht schienen seine Sinne betäubt zu haben, sodass seine Gefühle für die Frau, deren Silhouette er erahnen konnte, schwächer waren als sonst.
Allmählich beschlichen ihn Zweifel, ob sie überhaupt die Richtige war, aber er stemmte sich gegen diese quälenden Gedanken.
Inzwischen rubbelte sie sich mit dem kratzigen Handtuch trocken. »Vergiss nicht die Lotion und das Parfum«, rief er ihr zu und sah, dass die Silhouette einen Moment lang erstarrte. Dann nahm sie Lotion und begann, sie hastig auf ihren Schultern zu verteilen.
»Langsamer«, sagte er. »Lass dir Zeit. Ich möchte, dass du dich überall eincremst. Die Lotion wirkt nur, wenn du sie überall verteilst.« Wieder erstarrte sie einen Augenblick, ehe sie die Lotion in ihre Haut massierte. Er stieß ein zufriedenes Seufzen aus. »Schon besser«, sagte er. »Mach einfach so weiter.«
Einige Zeit verfolgte er mit Blicken, wie sie sich für ihn eincremte, aber es erregte ihn nicht mehr so wie zuvor. Enttäuschung überkam ihn. Irgendetwas in ihm blieb unbefriedigt. »Jetzt das Parfum«, drängte er und sah, wie der Schatten das Fläschchen an den Hals hielt und zweimal sprühte. Die kleine Duftwolke stieg hinter dem Schirm empor und schwebte durch die Luft.
Nachdem Louise sich wieder angezogen hatte, trat sie hinter dem Schirm hervor und ging gehorsam zurück zum Käfig. Der Duft der Lotion und des Parfums umspielten Kellers Nasenflügel, als die Frau an ihm vorüberging. Die Mischung war so berauschend, dass er wieder Hoffnung schöpfte. Doch die ersehnte Erregung blieb aus. Das Gefühl wollte sich einfach nicht einstellen. Langsam drehte er den Kopf zur Seite.
Als Louise sah, dass er das Gesicht wegdrehte, als schämte er sich, beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen und eine Art Band zu knüpfen. Sie hatte sich fest vorgenommen, aus Karen Greens Fehlern zu lernen. Wenn es Karen gelungen wäre, eine Verbindung zu diesem Psycho herzustellen, hätte er sie in seinen Fantasiespielen nicht wie ein Stück Dreck behandelt. Wenn sie versucht hätte, sich aus den Schatten dieser »Sam« zu lösen – wer immer das sein mochte –, wäre es ihrem Peiniger womöglich schwergefallen, ihr Gewalt anzutun. Vielleicht hätte er sie nicht wie ein ungeliebtes Haustier entsorgt, als er sie leid geworden war.
Je näher Louise ihm kam, desto mehr Hoffnung hatte sie, ihn zu verwirren und dazu zu bringen, an seinem eigenen Tun zu zweifeln. Wenn es nicht anders ging, würde sie sich auf Sex mit ihm einlassen und so tun, als begehrte sie ihn. Doch in Wirklichkeit würde sie die ganze Zeit auf die Gelegenheit warten, ihn zu verletzen, wie sie noch nie im Leben jemanden verletzt hatte.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich.
Die sanfte, besorgte Frage schien ihn unvermutet zu treffen. »Sorry«, murmelte er, ehe er registrierte, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. »Ja, mir geht’s gut. Bin nur ein bisschen müde. Ich habe bis vor Kurzem hart geschuftet … ich meine, bei der Arbeit geht es im Augenblick drunter und drüber, aber ich bin okay. Danke.«
»Was arbeitest du?«, fragte sie ihn, als sie spürte, wie unsicher er auf ihre Annäherung reagierte. Sie war fest entschlossen, das Gespräch in Gang zu halten.
»Du weißt doch, wo ich arbeite«, sagte er. »Du hast mich gesehen.«
»Heißt das, du bist wirklich Postbote? Ein toller Job. Du musst sehr verantwortungsvoll sein, wenn du einen solchen Job bekommen hast.« Sie wusste, dass sie in ihrer Unruhe ein wenig stammelte und unnatürlich hoch sprach, aber irgendwie musste es ihr gelingen, den Panzer seines Irrsinns zu durchbrechen.
»Ist ganz okay«, antwortete er und musterte sie wieder argwöhnisch von Kopf bis Fuß, als vermutete er, dass sich allein an ihren Bewegungen ablesen ließe, was für Hinterhältigkeiten sie im Schilde führte. »Die Leute lassen mich in Ruhe arbeiten«, log er. »Ich habe praktisch freie Hand, solange ich mein Pensum schaffe.«
»Das finde ich gut.« Ohne es zu wollen, redete sie mit ihm wie mit einem Kind. »Ist gut, in Ruhe gelassen zu werden, nicht wahr?«
»Wie meinst du das?«
»Nichts. Ich wollte nur sagen, dass es sich gut anfühlen muss, das tun zu können, was man tun möchte, und wenn man selbst den Zeitpunkt festlegen kann.«
»Wieso?«, hakte er nach. »Bist du nicht gern hier? Willst du nicht hier sein?«
»Doch, doch«, versicherte sie ihm hastig und erkannte, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. »Ich möchte hier bei dir sein. Ich möchte das alles verstehen.«
»Vielleicht wirst du es nie ganz begreifen.« Er funkelte sie böse an, und seine Stimme war mit einem Mal kalt. »Vielleicht haben sie deinen Geist so sehr vergiftet, dass du es nie mehr begreifst.«
Louise hatte das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. »Nein, ich weiß, dass du es mir begreiflich machen kannst. Du kannst das Gift unschädlich machen. Das weiß ich. Denn ich bin Sam, schon vergessen?«
Er schwieg beharrlich, betrachtete sie und wartete auf eine innere Stimme, die ihm verriet, wie er sich jetzt verhalten sollte. Doch er hörte nichts, empfand nichts, spürte nichts.
»Du musst wieder da rein«, sagte er schließlich. »Es ist noch nicht sicher für dich. Die Lügen schwirren noch in deinem Kopf herum.«
»Warum nimmst du mich nicht mit?«, fragte sie beinahe flehentlich. Sie sehnte sich nach dem Tageslicht und den Möglichkeiten zur Flucht, die sie sich dort oben im Freien erhoffte. »Du brauchst mich nicht mehr hier unten festzuhalten.«
»Ich habe dir doch gerade erst gesagt, dass du hier noch nicht sicher bist«, wiederholte er mit Nachdruck. Er drohte ihr mit dem Elektroschocker, um sie aufzufordern, seine Anweisungen zu befolgen. Tränen liefen Louise über die Wangen, als sie sich wieder in den Käfig zwängte. Die Tür schwang hinter ihr zu, das Schloss rastete ein. Das klackende Geräusch verdammte sie erneut dazu, Stunden in der Finsternis auszuharren, allein und ohne Hoffnung.
Er schlurfte zur Treppe, drehte sich aber noch einmal um und kam langsam an die Seite des Käfigs. »Hätte ich fast vergessen …« Er lächelte wieder. »Ich hab noch was für dich, was uns näher zusammenbringen wird.« Er krempelte den Ärmel an seinem rechten Arm so weit hoch, bis der Unterarm zum Vorschein kam, auf dessen Innenseite ein Tattoo zu erkennen war; die leuchtenden Farben hoben sich lebhaft von seiner blassen Haut ab. Rote, blaue und grüne Farbpigmente bildeten einen Phönix, der den goldenen Flammen eines Feuers entstieg. Es war eine unbeholfene Tätowierung, ein Motiv, das ein Kind sich auf dem Jahrmarkt aussuchen würde. »Das sind wir, Sam«, sagte er. »Das ist unsere Liebe, die aus den Flammen wächst. Alle haben versucht, das zu verhindern, aber man kann nicht aufhalten, was geschehen soll.«
Er entblößte seine kleinen, hässlichen Zähne, als er lächelte, und in seinen Augen lag ein irres Leuchten, während er voller Ungeduld auf Louises Reaktion wartete. Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl Angst und Abscheu ihr die Kehle zuschnürten.
»Hier«, sagte er und griff in die Taschen seiner Jogginghose. »Ich hab noch was für dich. Damit kannst du jedem zeigen, dass wir füreinander bestimmt sind.« Vorsichtig zog er ein dünnes, speckiges Stück Papier hervor. Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er das Bild betrachtete, das er zwischen Zeigefinger und Daumen hielt und das Louise noch gar nicht sehen konnte. Schließlich zeigte er es ihr. Es war ein Abziehbild des Phönix, das seinem Tattoo bis ins Detail glich.
Unvermittelt schoss seine Hand nach vorn und riss die Luke am Käfig auf. »Steck den Arm hier durch«, sagte er, immer noch lächelnd.
»Warum?«, fragte Louise und erschrak, da sie sich an die Torturen erinnerte, die Karen hatte erleiden müssen.
»Keine Angst.« Er lachte. »Das ist kein echtes Tattoo wie meins. Du kannst später eins bekommen, wenn das Gift aus deinem Kopf ist. Das hier ist nur ein Abziehbild. Weißt du denn nicht mehr? Es ist dasselbe, das wir als Kinder hatten. Es war unser Geheimnis. Nur du und ich wussten davon. Du hast mir meins auf den Arm gemacht und ich dir deins. Es war unser geheimes Erkennungszeichen.«
»Ja«, log sie. »Das ist lange her, aber ich erinnere mich.«
»Gut.« Wieder trat ein Leuchten in seine Augen. »Also, steck den Arm durch die Luke.«
Louise widerstand dem Verlangen, die Augen zu schließen, als sie langsam den Arm durch die kleine Öffnung schob. Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk, als er sanft ihren Unterarm zu sich drehte. Er befeuchtete das Abziehbild, indem er mehrmals mit der geschwollenen Zunge über das Bildchen fuhr, bis es nass genug war. Louise empfand nichts als Abscheu für diesen Irren. Ihr wurde übel, als er ihr das nasse Abziehbild auf den Unterarm presste und mit der Hand Druck ausübte. Sein Speichel schimmerte auf ihrer Haut.
»Du musst ein Weilchen stillhalten«, sagte er, »sonst klappt es nicht.«
Er schien ihren Arm eine halbe Ewigkeit festzuhalten, ehe er die dünne Folie abzog. Auf Louises Arm prangte ein hässliches Bild. Kaum hatte er ihren Arm losgelassen, zog sie die Hand viel zu schnell zurück durch die Luke. Sein Lächeln wich einem sorgenvollen Ausdruck. »Was ist? Gefällt es dir nicht?«
»Oh, doch, natürlich«, log sie. »Es ist wunderschön.« Sie blinzelte die Tränen fort, die an ihren langen Wimpern glitzerten.
Keller hatte gelernt, nur den Dingen zu vertrauen, die er mit eigenen Augen sah. Was die Leute ihm sagten, glaubte er schon lange nicht mehr. Er starrte Louise an, ohne dass sein Lächeln zurückkehrte. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und atmete tief durch die Nase ein, ehe er zur Treppe ging. Auf dem Weg dorthin machte er die Lampe aus, sodass das unterirdische Gewölbe wieder in Dunkelheit versank. Auf den unteren Stufen drehte er sich noch einmal zu Louise um.
»Alles ist ersetzbar, Sam.« Seine Stimme klang tonlos, ohne jedes Gefühl. »Das haben die mir beigebracht … damals, in dem Haus, in das sie mich gebracht haben. Alles ist ersetzbar. Selbst du, Sam.«
*
Corrigan durchquerte das Konferenzzimmer und sprach kurz mit jedem, um sicherzugehen, dass alle wussten, was zu tun war. Er brauchte Ergebnisse, und zwar schnell. Allerdings ging es hier um eine Vermisste, und Corrigan befürchtete, dass seine Leute langsamer ermitteln würden als in einem Mordfall, wo Täter und Opfer klare Fakten schufen.
Durch die Plexiglasscheibe seines Büros beobachtete er, dass Sally mit Detective Superintendent Featherstone sprach, und gesellte sich zu den beiden.
»Sally hat mir gerade die frohe Botschaft überbracht.« Featherstones Tonfall war Sarkasmus pur. »Sie sind sich absolut sicher, Sean?«
»Ja.« Corrigan nickte. »Die Frau, die ich heute Morgen gesehen habe, ist nicht Louise Russell. Sally, was haben Sie herausbekommen?«
»Sie heißt Karen Green. Wurde erst gestern von ihrem Bruder Terry als vermisst gemeldet. Hier ist ein aktuelles Foto von ihr.« Sie reichte Corrigan einen Schnappschuss, der mit Blitzlicht in irgendeiner Bar aufgenommen worden war. Karen lächelte in die Kamera. »Sie ist sechsundzwanzig, schlank, knapp über eins sechzig groß, kurze braune Haare …«
»Das ist sie«, unterbrach Corrigan. »Die Tote, die ich heute gesehen habe, ist Karen Green, kein Zweifel. Was wissen wir sonst noch über sie?« Erwartungsvoll sah er Sally an.
»Nicht viel. Die Vermisstenanzeige strotzt nicht gerade vor Informationen. Wir wissen aber, dass sie in Bromley wohnte und arbeitete. Sie lebte allein, hatte aber viele Freunde. Außerdem zwei Schwestern und drei Brüder. Einer von ihnen ist Terry, der sie als vermisst gemeldet hat.«
»Hat man die Geschwister schon vernommen?«, wollte Corrigan wissen.
»Nein. Wie ich schon sagte, sie wurde erst gestern als vermisst gemeldet.«
»Aber wann ist sie verschwunden? Wer hat sie wo zuletzt gesehen?« Corrigan kratzte sich am Kinn.
Sally überflog noch einmal den Bericht. »Terry sagt, er habe seit Mittwoch nichts mehr von ihr gehört.«
»Aus dieser Vermisstenanzeige werden wir nichts Brauchbares erfahren«, meinte Corrigan. »Rufen Sie diesen Terry an. Er soll in Karens Wohnung auf uns warten. Ich möchte selbst mit ihm sprechen. Außerdem muss ich mich in der Wohnung umsehen, ehe die Spurensicherung kommt.«
»Ich kümmere mich darum.« Sally verließ das Großraumbüro.
»Wie sollen wir es mit der Presse halten?«, fragte Featherstone. »Früher oder später werden die eine Verbindung zwischen beiden Fällen herstellen.«
Corrigan nickte. »Man kann denen ja manches nachsagen, aber dumm sind die nicht. Ich schlage vor, wir gehen die Sache offensiv an und erzählen, was wir wissen. Aber bestimmte Einzelheiten sollten wir zurückhalten, damit keine Spaßvögel anrufen und behaupten, der Mörder zu sein. Ach, verdammt«, entfuhr es ihm. »Sobald die Medien wissen, dass wir eine Tote haben und eine Vermisste das nächste Mordopfer sein könnte, spielen die verrückt. Die werden uns den ganzen Tag belagern.«
»Daran kann ich nichts ändern.« Featherstone seufzte. »Aber ich könnte Ihnen die Presse vom Hals halten. Ihr Name würde im Hintergrund bleiben, soweit es sich machen lässt.«
»Da wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
»Aber meinen Sie nicht, dass es den Mörder in Panik versetzt, wenn die Medien sich einschalten? Wir wollen ihn nicht zu einer Tat drängen, die er ohnehin bald begehen wird, wie wir beide wissen.«
»Das wird ihn nicht groß beeinflussen«, meinte Corrigan. »Er geht nach seinem eigenen Zeitplan vor, und nichts und niemand wird etwas daran ändern.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Er hat Louise Russell nicht einfach so von der Straße weggeschnappt, und ich wette, er hat auch Karen Green nicht zufällig entführt. Das bedeutet, dass er mit den Frauen einen ganz bestimmten Plan verfolgt, auch wenn ihm dieser Plan selbst gar nicht richtig bewusst ist. Sollte in den Medien etwas verbreitet werden, wird ihn das nicht von seinem Vorhaben abbringen. Es ist viel zu wichtig für ihn, die Frauen über einen bestimmten Zeitraum am Leben zu halten. Falls wir uns an Karen Greens Schicksal orientieren können … ich würde sagen, uns bleiben vielleicht noch drei Tage, um Louise Russell zu finden, ehe ihr dasselbe blüht.«
Sally tauchte an der Tür zum Großraumbüro auf. Sie zog bereits ihren Mantel an. »Terry Green wartet vor Karens Wohnung auf uns«, sagte sie. »Wir können sofort los.«
Corrigan nickte und schob sich rasch noch ein paar Dinge, die auf seinem Schreibtisch lagen, in die Taschen.
»Einen Augenblick, Sean«, hielt der Superintendent ihn auf. »Ich muss Sie kurz sprechen.« Sein Blick glitt zu Sally. »Unter vier Augen.«
»Warten Sie am Wagen auf mich«, rief Corrigan ihr zu. Sally zuckte die Schultern und verließ das Büro. »Um was geht’s?«
»Zunächst einmal«, begann Featherstone, »sind die Herrschaften in der Chefetage froh, dass Sie die Ermittlungen leiten.«
»Aber?«
»Aber sie möchten, dass Sie in diesem Fall mit jemandem zusammenarbeiten. Insbesondere jetzt, da eine Tote gefunden wurde, die nicht die Frau ist, nach der wir fahnden.«
»Das wissen die also schon?«
Featherstone ging nicht auf die Frage ein. »Sie sollen mit jemandem zusammenarbeiten, der nicht zur Mordkommission gehört. Eine Kriminalpsychologin, um genau zu sein.«
»Bitte sagen Sie mir, dass das ein Scherz ist.«
»Nein, bedaure, das ist mein voller Ernst. Sie heißt Anna Ravenni-Ceron. Und sie ist hoch qualifiziert.«
»Anna Ravenni-wie?«, hakte Corrigan nach. »Hören Sie, Sir, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, mich um eine Wissenschaftlerin zu kümmern, damit sie sich einen Namen machen kann und ins Fernsehen kommt.«
»Tut mir leid, Sean, aber die Entscheidung ist längst gefallen. Es liegt nicht mehr in meinen Händen. Ich weiß, das ist nicht besonders erfreulich, aber Sie müssen sich damit abfinden.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Bedienen Sie sich der Champignon-Methode. Sie wissen doch, wie das im Management läuft: Die Mitarbeiter schön im Dunkeln halten, mit Pferdemist bestreuen, und wenn sich ein heller Kopf zeigt, abschneiden. Aber lassen Sie sich dabei nicht erwischen.« Er zwinkerte ihm zu. »Ich stelle Ihnen die Dame in den nächsten Tagen vor«, fügte er gut aufgelegt hinzu.
»Na gut«, willigte Corrigan schließlich ein, wusste er doch, dass er machtlos war. »Aber ich sage Ihnen, wenn die Dame mir im Weg steht oder sich in meine Ermittlungen mischt, ziehe ich ihr die Ohren lang.«
»Schon mal daran gedacht, dass eine Psychologin Ihnen helfen könnte?«
»Nein«, erwiderte Corrigan. »Daran habe ich noch nicht gedacht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich etwas daran ändert. Ich gebe der Frau jetzt schon einen guten Rat. Sie soll sich von mir fernhalten.«
*
Louise Russell lag auf der alten Matratze in ihrem Käfig. Die fleckige Glühbirne, die von der Decke hing, tauchte das Kellerverlies in ein kränkliches Gelb. Seit Karen nicht mehr da war, fühlte Louise sich schrecklich einsam und verlassen. Sie spürte, wie sie sich in Todesangst hineinsteigerte. Ihr Herz raste, ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie musste gegen die entsetzliche Furcht ankämpfen, die sie von innen verzehrte. Sie dachte an zu Hause und all die Dinge, die ihr etwas bedeuteten: ihre Bilder, ihre Kleidung, die Wärme und Geborgenheit ihrer Wohnung, vor allem aber an ihren Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen und Kinder haben wollte.
Doch schon bald drängten sich andere, bedrückende Gedanken in ihr Bewusstsein. Was war mit Karen geschehen? Was hatte dieser Psycho ihr angetan? Louise war sicher, dass er sie nicht freigelassen hatte. Er konnte nicht riskieren, dass sie zur Polizei ging. Louise hoffte, dass Karen noch lebte, aber ihre Zweifel wuchsen.
Großer Gott, dachte sie, warum hat dieser Irre mich entführt? Warum muss gerade ich nackt in diesem Käfig hocken, auf einer dreckstarrenden Matratze?
Was hatte diese Bestie an ihre Haustür gelockt? Sie hatte doch nichts falsch gemacht, hatte niemandem etwas getan, hatte keine Feinde. Warum dann ausgerechnet sie? Und Karen?
Bilder von den Vergewaltigungen und Misshandlungen Karens blitzten wieder in ihrer Erinnerung auf, ehe sie an die Worte dachte, die ihr nicht aus dem Kopf gingen: Alles kann ersetzt werden. Selbst du, Sam. Die Unausweichlichkeit hinter diesen Worten ließ sie schaudern, sodass sie sich in ihrer Panik einbildete, der Käfig würde sich in einen Sarg verwandeln. Voller Abscheu malte sie sich aus, wie Würmer und Maden sich in ihre Haut fraßen und Spinnentiere über ihren verfaulenden Leichnam wimmelten. Sie spürte förmlich, wie es am ganzen Körper zu kribbeln begann.
Um Gottes willen, sie musste raus aus dieser Krypta!
Mit aller Kraft warf Louise sich gegen die Käfigtür und ignorierte den Schmerz in ihrer Schulter, erreichte aber nichts. Die Verzweiflung trieb ihr Tränen in die Augen. Kaltes Entsetzen packte sie, als hätte sie erst in diesem Moment begriffen, wie ausweglos ihre Situation war. Nachdem sie sich ein drittes und viertes Mal gegen die Gittertür geworfen hatte, hielt sie die Schmerzen im Schultergelenk nicht mehr aus, sank schluchzend zu Boden und kratzte mit den Fingernägeln über den Beton wie ein Hund, der sich freizubuddeln versucht. Die Nägel brachen ab, die Finger bluteten, bis sie endlich begriff, wie sinnlos ihr Aufbegehren war. Verzweifelt hockte sie da, wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Sie legte den Kopf in den Nacken und stellte sich den Himmel jenseits der kahlen Gewölbedecke vor. »Lieber Gott«, flehte sie, »hilf mir … lieber Jesus, hilf mir, ich flehe dich an …« Nach diesen leisen Worten steigerte sie sich in verzweifelte Schreie hinein. »Warum hilft mir keiner? Warum hört mich keiner? Hilfe!«
Doch ihre Gebete und Hilfeschreie stießen auf eisiges Schweigen, und so kroch sie zurück auf ihre Matratze, machte sich so klein wie möglich und wartete. Wartete auf die Geräusche des Vorhängeschlosses, das gegen die schwere Metalltür schlug. Wartete auf die leisen Schritte auf der Treppe, wenn er wieder ins Gewölbe herunterkam …
*
Am Freitagvormittag warteten Corrigan und Sally ungeduldig vor Karen Greens Haus auf den Bruder der jungen Frau.
Sally spürte die schlechte Laune ihres Chefs. »Alles okay?«, erkundigte sie sich. »Sie scheinen sich Sorgen zu machen.«
»Nein, alles okay«, tat Corrigan ihre Bedenken ab. »Mir wäre allerdings lieber, würden andere sich nicht in meine Angelegenheiten mischen.«
Sally wollte nachhaken, kam aber nicht mehr dazu, weil Terry Greens Auto vor dem Haus hielt. Der junge Mann stieg aus und wäre in seiner Eile auf dem kurzen Stück zum Haus beinahe gestolpert. Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben.
»Bin zu spät, tut mir leid«, sagte er atemlos.
»Kein Problem«, erwiderte Sally, »danke, dass Sie gekommen sind.«
»Als ich hörte, dass es um Karen geht, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ist was mit ihr? Haben Sie sie gefunden? Geht es ihr gut?«
Corrigan zückte seinen Ausweis. »Detective Inspector Corrigan. Sie sind Terry Green?« Er klang nicht besonders höflich, was zum einen an der Dringlichkeit der Situation lag, zum anderen an Corrigans mieser Laune.
»Ja.«
»Ich muss wissen, wann Sie Karen zuletzt gesehen haben. Und ich habe leider nicht viel Zeit.«
»Ja, aber … was ist denn passiert?«
Sally sah, wie durcheinander Green schon jetzt war, trat beherzt vor und stellte sich zwischen die beiden Männer, um Green vor überfallartigen Fragen Corrigans zu bewahren.
»Ich bin Sally. Wir haben telefoniert.«
»Ja, ich weiß. Sie haben mich gebeten, hierherzukommen. Es gehe um Karen, hieß es.«
»Genau«, sagte Sally betont ruhig. »Es ist sehr dringlich, deshalb müssen wir uns hier mit Ihnen treffen. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Aber was ist denn nun mit Karen?«, fragte Green.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Terry. Was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist nicht leicht für Sie, aber Sie haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren.« Sally hoffte, dass Green sich denken konnte, worauf sie anspielte, und auf das Schlimmste vorbereitet war. Als sie sah, dass er tief Luft holte, legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Heute Morgen haben wir die Leiche einer jungen Frau gefunden. Auf diese Frau passt die Beschreibung Ihrer Schwester.«
Terry atmete stoßweise aus, schwankte leicht und schloss für einen Moment die Augen. Seine Lider flatterten. Sally merkte, dass er den harten Schlag zwar körperlich verkraftet hatte, aber der Schock saß tief. Vorsichtshalber legte sie ihm die andere Hand auf die Schulter, um ihn notfalls stützen zu können. »Sie passt auf die Beschreibung Ihrer Schwester«, fuhr sie fort, »aber wir können nicht ganz sicher sein, bis sie offiziell identifiziert wurde.«
»Und wann wird das sein?«, brachte Green mühsam hervor.
»Das dauert noch. Jetzt interessiert uns erst einmal, wann Karen das letzte Mal gesehen wurde und von wem.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Green. »Vielleicht habe ich selbst sie als Letzter gesehen. Das muss vergangenen Mittwoch gewesen sein, gegen Abend. Am nächsten Tag wollte sie den Flieger nach Australien nehmen. Ich habe bei ihr vorbeigeschaut, um mir die Schlüssel zu holen. Während ihrer Abwesenheit wollte ich mich um ihr Haus und noch ein paar andere Dinge kümmern.«
»Ihre Schwester wollte nach Australien?«, fragte Corrigan.
»Ja, sie wollte verreisen. Sie sagte mir, sie sei auf der Suche nach etwas, das sie hier nicht finden könne.«
»Wollte sie alleine fliegen?«, fragte Corrigan in der leisen Hoffnung, einen noch unbekannten Begleiter ausfindig zu machen, bei dem es sich möglicherweise um einen neuen Bekannten der Toten handelte.
»Ja«, antwortete Green und machte damit die Hoffnung Corrigans zunichte. »Karen wollte alleine reisen. Typisch für sie. Sie hatte immer schon diesen Entdeckergeist, den Hang zum Abenteuer. Karen findet schnell Anschluss, wissen Sie. Deshalb hatte sie auch keine Angst, allein zu fliegen.«
Im Augenblick war Corrigan nicht daran interessiert, wie die Frau gestrickt war. Sein Augenmerk lag auf den Fakten, die ihn womöglich zu Louise Russell führten. »Dann haben Sie Ihre Schwester also vergangenen Mittwoch das letzte Mal gesehen?«, fragte er. »Vor neun Tagen?«
»Ja.«
»Und Sie haben sie erst gestern als vermisst gemeldet, weil Sie davon ausgingen, dass sie längst in Australien ist?«
Green nickte. Noch immer wirkte er wie benommen.
»Erzählen Sie, wie es dazu kam. Sie wollten Ihre Schwester in Australien anrufen, konnten sie aber nicht erreichen. Dann haben Sie sich bei Karens Freunden erkundigt, aber alle erzählten Ihnen das Gleiche – niemand hatte von ihr gehört. War es so?«
»Ja«, antwortete Green und versuchte sich zu konzentrieren. »Also rief ich bei der Fluggesellschaft an. Dort erfuhr ich, dass Karen nie in die Maschine gestiegen ist. Erst da wurde mir klar, dass irgendwas nicht stimmt, und ich gab die Vermisstenanzeige auf.«
Sally spürte, dass Green überfordert war und Corrigans Fragen nur mit Mühe folgen konnte. Sie versuchte, behutsamer vorzugehen. »Sie haben richtig gehandelt, Mr. Green. Es war klug, bei der Fluggesellschaft nachzufragen«, versicherte sie ihm und warf Corrigan einen warnenden Blick zu, denn Terry brauchte ein bisschen mehr Zuspruch. »Ich glaube, Sie können jetzt einen Tee vertragen. Soll ich uns aus dem Coffee-Shop da drüben etwas holen? Dann können wir uns in Ruhe den anderen Fragen zuwenden.«
»Ja, gut, warum nicht.«
Sally überquerte die Straße und ging zu dem kleinen Café.
»Haben Sie zufällig die Schlüssel vom Haus dabei?«, fragte Corrigan. »Ich müsste mich dort umschauen.«
»Sicher.« Green fischte zwei Schlüssel aus der Hosentasche und reichte sie Corrigan.
»Danke.« Corrigan sah auf den ersten Blick, dass die Schlüssel zu einem sicheren Haustürschloss gehörten. In Fragen der Sicherheit war Karen also vorsichtig gewesen. »Waren Sie schon im Haus, seitdem Sie die Anzeige aufgegeben haben?«
»Heute Morgen war ich kurz hier. Als ich ihren Rucksack und die Reiseunterlagen sah, habe ich das gleich dem Beamten gesagt, der die Vermisstenanzeige entgegengenommen hatte. Da erfuhr ich, dass Sie die Ermittlungen leiten. Ich mache mir schon Vorwürfe. Ich hätte sofort zu Karens Haus fahren müssen.«
»Das hätte nichts geändert«, sagte Corrigan. »Sie haben alles richtig gemacht. Warten Sie einen Augenblick hier. Ich möchte mich kurz umschauen.«
Corrigan ging zur Haustür. Sofort fiel ihm auf, wie sehr das Haus dem von Louise Russell ähnelte: Es war ein kleines, modernes Stadthaus in ruhiger Lage. Auch hier ließen die verwinkelte Garage und die Fassade keinen direkten Blick auf den Hauseingang zu, es sei denn, man stand wenige Meter entfernt. Corrigan stellte sich vor, wie der gesichtslose Killer dieses Grundstück betrat. Inzwischen fühlte der Mann sich bei diesem Haustyp sicher und wusste, wie er unbemerkt zur Eingangstür gelangte. Er änderte seine Vorgehensweise nicht, auch auf die Gefahr hin, dass sie seinen Verbrechen einen unverwechselbaren Stempel aufprägte.
Corrigan ging um das Haus herum und überprüfte, ob an den Fenstern zur Straße und hinten heraus Spuren eines Einbruchs zu sehen waren, rechnete aber nicht mit eindeutigen Beweisen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mörder nach einem Schwachpunkt am Haus gesucht hatte. Es wäre umständlich gewesen. Neugierige Nachbarn hätten ihn sehen oder hören können.
Kurz darauf erreichte Corrigan wieder den Eingang und stand vor der Haustür, die in der oberen Hälfte ein Milchglasfenster besaß. Der Killer hatte also genau sehen können, dass Karen zur Tür kam.
Er sah und hörte sie kommen …
Ja, das war der Weg, den der Mörder genommen hatte. Der direkte Weg zur Haustür. Davon war Corrigan fest überzeugt. Der Mann war durch die Haustür gekommen.
Aber hatte er draußen auf die Gelegenheit gewartet, dass Karen zufällig zur Tür kam? Oder hatte er dafür gesorgt, dass sie ihm öffnete?
Corrigan verglich den Eingang mit dem von Louise Russells Haus. Jemand, der direkt vor der Tür stand, konnte von der Straße aus nicht gesehen werden. Deshalb war es möglich, dass der Killer sich in unmittelbarer Nähe der Tür versteckt hatte, unbemerkt von Nachbarn und Passanten. Auch vom Haus aus wäre er nicht zu sehen gewesen. Andererseits, wenn man genau hinschaute, vielleicht nach der Ursache eines verdächtigen Geräusches suchte, hätte man den Unbekannten entdeckt. Nein, überlegte Corrigan, das wäre zu riskant gewesen. Es passte nicht zur Vorgehensweise des Mörders. Er ging nach einem bestimmten Plan vor, ehe er zuschlug, ohne gesehen zu werden. Seine Flucht und das Fortschaffen seiner Opfer verliefen reibungslos und unbemerkt. Nein, dieser Mann ging geradewegs auf das Haus seines Opfers zu und klingelte ohne zu zögern.
Aber das erklärte noch immer nicht, warum beide Frauen diesem Monster die Tür geöffnet hatten. Hatten sie sich in ihren Häusern so sicher gefühlt, dass sie nicht einmal nachgeschaut hatten, wer draußen vor der Tür lauerte? Oder hatte der Unbekannte sich als jemand ausgegeben, der er nicht war? Hatten die Frauen deshalb keine Bedrohung in ihm gesehen, ihm vielleicht sogar vertraut?
Eine List, folgerte Corrigan. Der Bastard bediente sich irgendeiner List, damit ihm die Tür geöffnet wurde. Trotzdem glaubte Corrigan nicht, dass der Mann einfach angeklopft und sich als Techniker der Gaswerke oder Ähnliches ausgegeben hatte. Das passte irgendwie nicht in den Plan.
Was also hatte sich hier abgespielt?
Corrigan spürte, dass er die Antwort auf diese Frage nicht erzwingen konnte, dass die Wahrheit ihm zwischen den Fingern zerrann, wenn er jetzt den Bogen überspannte.
Der Mörder hatte vermutlich Uniform getragen, irgendeine Dienstkleidung, der die Leute vertrauten … jemand von der Stadtverwaltung, jemand, der Strom- oder Gasuhren ablas, oder ein Postbote, wenn nicht sogar ein Polizist. Nein, dachte Corrigan, kein Polizist. An einen Polizisten erinnern die Leute sich. Der Mann, den er suchte, musste sich für etwas Unauffälligeres entschieden haben, für einen Beruf, den die Leute gar nicht erst hinterfragten …
Terry Greens Stimme, die er wie aus weiter Ferne hörte, riss Corrigan in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er schon ziemlich lange vor Karens Haustür stand und durch das Milchglas starrte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Green. »Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Schlüssel?«
»Nein, nein«, rief Corrigan über die Schulter, blickte auf die Schlüssel und schob einen davon ins Schloss. »Ich bin gleich wieder da. Warten Sie hier auf Detective Sergeant Jones.«
Corrigan schloss schnell auf und betrat das stille Haus. Insgeheim wappnete er sich gegen eine Flut von Bildern in seinem Kopf, Bilder vom Opfer und dem Täter, aber diese Eindrücke blieben aus. Langsam ließ er die Tür ins Schloss schnappen und atmete tief durch, froh, endlich allein zu sein. Die sorgenvollen Blicke Terry Greens hatten ihn nervös gemacht.
Er lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, ließ den Blick durch den Flur schweifen und wartete darauf, dass seine dunkle Gabe erwachte, die er tief in sich verbarg: die unerklärliche Fähigkeit, Bilder aus der Vergangenheit zu sehen, angeregt von irgendeinem ungewöhnlichen Geruch oder Gegenstand. Aber wieder geschah nichts. Der Tatort war inzwischen alt und kalt und besaß kein Eigenleben mehr. Seit neun Tagen hatte niemand mehr das Haus betreten, abgesehen von dem kurzen Besuch des Bruders. Wie schnell ein Haus zu einer leblosen Hülle verkam, wenn die Menschen ausblieben …
Dennoch, Corrigan nahm sich vor, nach Spuren zu suchen, die Aufschluss über die Tat gaben. Irgendetwas musste der Unbekannte hinterlassen haben, der das Leben von Karen Green zerstört und alle Angehörigen in tiefe Trauer gestürzt hatte.
Corrigan drang tiefer ins Haus vor, blieb dicht an der Wand und blickte auf den Teppichboden im Flur, obwohl er nicht glaubte, etwas zu finden. Dieser Killer hinterließ kein Blut am Tatort. Blieb zu hoffen, dass die Spurensicherung den Abdruck einer Schuhsohle auf dem Teppich fand oder weitere Spuren von Chloroform.
Corrigan nahm sich die Zeit, sich ein bisschen länger im Flur umzuschauen. Die Einrichtung war schlicht, aber geschmackvoll. An den Wänden hingen farbenfrohe Drucke und gerahmte Fotos, auf denen Karen mit verschiedenen Personen zu sehen war, wahrscheinlich Freunde und Familienangehörige.
Die Tür zum Wohnzimmer stand bereits offen, als Corrigan über die Schwelle trat. Auch hier dieselbe schlichte Einrichtung: Drucke und Bilder an den Wänden, aber weniger als im Flur. Moderne Sessel und ein Sofa, ein gewöhnlicher Fernseher mit normalem Equipment, Jalousien statt Vorhänge. Weder auf den Sesseln noch auf dem Sofa schien jemand längere Zeit gesessen zu haben, und die HiFi-Anlage lief auch nicht.
Ein wenig enttäuscht machte Corrigan sich auf den Weg zur Küche, doch auch hier hatte er den Eindruck, in einem Ausstellungsraum zu stehen. Alles war picobello sauber und aufgeräumt. Die Anrichte und der unbenutzte Herd verrieten nichts über Karens Kochgewohnheiten.
»Hier vergeude ich nur meine Zeit«, sagte Corrigan laut zu sich selbst. »Und die Zeit habe ich nicht.«
Er verließ die Küche und stieg die Treppe in die erste Etage hinauf, wobei er sich keine Gedanken darüber machte, auf irgendwelche Indizien zu treten, war er doch überzeugt davon, dass der Killer nicht in der Nähe der Treppe gewesen war. Am oberen Treppenabsatz angekommen, stand er vor drei Türen, von denen zwei angelehnt waren, die dritte stand sperrangelweit auf. Als Erstes ging Corrigan durch die offen stehende Tür und fand genau das, was er erwartet hatte: Auf dem gestreiften Doppelbett stand ein brandneuer, vollgepackter Rucksack neben den letzten Sachen, die noch verstaut werden mussten. Gleich neben dem Rucksack lag ein ungewöhnlich großes Reiseportemonnaie, das Corrigan sofort ins Auge fiel. Mit einem Finger klappte er es auf und betrachtete den Inhalt: ein Reisepass, australische Dollar, Reiseschecks, Versicherungsunterlagen.
Karen hatte alles bestens organisiert und führte ein überschaubares, geordnetes Leben, genau wie Louise Russell. War das für den Entführer von Belang gewesen? Wusste er mehr über das Leben dieser Frauen, abgesehen vom Wohnort? Und wenn ja, wie war er an diese Informationen gelangt? Wie war es ihm gelungen, Einblick in das Leben der Frauen zu bekommen?
Und noch eine andere Frage beschäftigte Corrigan: Warum hatte Karens Bruder nicht schon früher nachgeschaut und entdeckt, was er, Corrigan, festgestellt hatte? Kurz dachte er über Terry Green nach und versuchte sich zu erinnern, was er empfunden hatte, als der junge Mann ihm vorhin zum ersten Mal begegnet war. Hatte er etwas übersehen? Konnte es sogar sein, dass Terry die eigene Schwester umgebracht hatte und dann über Louise Russell hergefallen war? In dem irrsinnigen Versuch, die Tote gewissermaßen zu ersetzen? Hatte er dadurch Gefühle wie Schuld und Reue, Verlust und Trauer abschütteln wollen? Irgendetwas an dieser Theorie gefiel Corrigan; dennoch spürte er, dass er auf dem Holzweg war.
Er ließ sich Zeit, als er sich im Schlafzimmer umschaute, bekam aber immer noch kein Gefühl für den Menschen, der hier gewohnt hatte. Keine Spur von Karens Parfum oder ihrem Shampoo, kein bleibender Duft von ihrer Bodylotion oder der Handcreme. Für Corrigan war das Haus so öde wie eine Wüste.
Schließlich überprüfte er noch die beiden anderen Zimmer und stellte fest, dass Karen sie mehr oder weniger als Abstellräume benutzt hatte. In den ordentlich übereinandergestapelten Kartons hatten sich offenbar die Gegenstände befunden, die jetzt überall im Haus zu sehen waren. Allerdings entdeckte Corrigan auch ein ungemachtes Bett in einem der Zimmer, in dem offenbar die Gäste schliefen, die Karen nicht in ihr Bett ließ.
Auf leisen Sohlen schlich Corrigan aus dem letzten Zimmer und ging ins Bad, wobei er sich wie ein Eindringling vorkam, nicht wie ein Cop. Der Zustand des Badezimmers unterschied sich nicht groß vom Gesamteindruck des Hauses. Alles wirkte steril und aufgeräumt, ganz so, als hätte die Bewohnerin das Haus ein letztes Mal auf Hochglanz gebracht, ehe sie zu ihrem großen Abenteuer aufbrechen wollte.
Corrigan öffnete die verspiegelte Tür des Badezimmerschranks und suchte nach Hinweisen, die ihm die Person Karen Green nähergebracht hätten, ehe der Wahnsinn über ihr Leben hereingebrochen war. Sein Blick fiel auf jede Menge Fläschchen, Duftwässer, Körperlotionen und andere Tiegel mit duftenden Cremes, die vermutlich nur Frauen an ihre Haut ließen. Die meisten Kosmetikprodukte waren angebrochen, viele der Dosen und Tuben mit den farbenfrohen Flüssigkeiten halb leer. Corrigan betrachtete die einzelnen Spender, nahm den angenehmen Duft wahr, verschob einige der Dinge im Schrank, um in die zweite und dritte Reihe dahinter schauen zu können … auf das Leben, das nun erloschen war. Karen hatte sich gepflegt, aber keines der Beautyprodukte war exotisch; die meisten Markennamen sagten sogar Corrigan etwas: Nivea, Clarins, Radox, Chanel und Dutzende andere Labels, die alle im Schrank geblieben waren, da Karen sie angebrochen hatte. Reisende nahmen lieber neue Toilettenartikel mit, wenn es auf eine längere Reise ging. Karen Green war da keine Ausnahme.
Da Corrigan allmählich das Gefühl bekam, in dem seelenlosen Haus nicht mehr frei atmen zu können, eilte er die Treppe hinunter, um schnell an die frische Luft zu kommen. Schon wollte er die Haustür aufreißen, als ihm einfiel, dass Terry Green und Sally wahrscheinlich draußen warteten. Deshalb ließ er noch einen Augenblick verstreichen, um sich zu sammeln, und machte dann erst die Tür auf.
Kaum hatte Corrigan das Haus verlassen, bemerkte er, dass kein Auto auf der Auffahrt stand. »Wo ist der Wagen?«, fragte er, als er zu Sally und Terry ging. »Karen hat doch bestimmt ein eigenes Auto gehabt, oder?«
»Sie hat es in einem Lagerhaus untergestellt«, antwortete Terry Green.
»Wieso?«
»In der Garage war kein Platz mehr.«
»Und da steht der Wagen jetzt?«, fragte Corrigan. »In dem Lagerhaus?«
»Ja. Drüben in Beckenham. Bei We-Store-4-U.«
Sally tippte die Information bereits in ihr iPhone. »Okay, das hätten wir … We-Store-4-U in Beckenham«, sagte sie, vergrößerte die Telefonnummer im Display, wählte und hielt sich das Gerät ans Ohr, wobei sie sich ein paar Schritte von Corrigan und Green entfernte. Die Männer beobachteten, wie sie kurz telefonierte, sich bedankte und das Gespräch beendete. Als sie zurückkam, schüttelte sie den Kopf. »Für das Auto war zwar ein Stellplatz reserviert, aber Karen hat den Wagen nie dorthin gebracht. Man hat offenbar versucht, sie zu erreichen, aber sie hat sich nicht gemeldet.«
»Ist mir schon klar«, sagte Corrigan. »Dieser Schweinehund hat ihr Auto gestohlen, genau wie bei …« Corrigan unterbrach sich, da er in Greens Gegenwart nicht den Namen Louise Russell erwähnen wollte.
»Wie meinten Sie das eben?«, forschte Terry Green nach.
»Ach, nichts«, wiegelte Corrigan ab. »Beschreiben Sie mir bitte das Auto Ihrer Schwester. Marke, Farbe und Nummernschild, falls Sie es wissen.«
»Sie hat einen Toyota, glaube ich.« Green schien sich über Corrigans Frage zu wundern. »Die Nummer weiß ich nicht.«
»Kein Problem«, meinte Sally. »Die Firma hat es mir gesimst. Es ist ein roter Nissan Micra mit der Nummer YY59OVP.«
»Sehr gut«, sagte Corrigan. »Geben Sie das zur Fahndung raus.«
Sally tippte wieder Zahlen in ihr iPhone.
»Und wenn Sie damit fertig sind, nehmen Sie Mr. Greens Aussage zu Protokoll. Alles, was er uns über Karens letzten Aufenthaltsort erzählen kann und was er über die geplante Australien-Reise weiß. Auch die Namen der letzten Freunde und so weiter.«
Sally wartete, dass jemand am anderen Ende der Verbindung abnahm. »Sonst noch was?«, wollte sie wissen und drückte sich das iPhone ans Ohr.
»Jede Menge«, antwortete Corrigan. »Aber kümmern Sie sich erst mal um das Auto und die Aussage. Inzwischen fahre ich zurück aufs Revier und setze alle Hebel in Bewegung.«
*
Corrigan hatte kaum den Motor angelassen, als auch schon sein Handy klingelte. Beim Losfahren nahm er das Gespräch entgegen; erstaunt bemerkte er, wie sehr er sich bereits an das einhändige Fahren gewöhnt hatte.
»Inspector Corrigan? Dr. Canning hier.«
»Ah, Doktor. Haben Sie etwas für mich?«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass die Tote aus dem Wald in die Leichenhalle des Guy’s Hospital gebracht wurde. Später am Nachmittag werde ich dort die Obduktion vornehmen. Hätten Sie Zeit, vorbeizuschauen?«
»Ich werde es einrichten.«
»Gut, dann sehen wir uns nachher.« Canning beendete das Gespräch.
Corrigan dachte jetzt schon mit Schaudern daran, wie sehr der Pathologe die Leiche verunstalten würde. Mit einem Auge behielt er den Verkehr im Blick, während er unter »Kontakte« Donnellys Nummer suchte und wählte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Detective Sergeant abnahm.
»Was gibt’s Neues, Chef?«
»Karen Greens Bruder hat ausgesagt, dass sie die letzten neun Tage von niemandem gesehen wurde. Also wurde sie aller Wahrscheinlichkeit nach vor acht Tagen entführt, genau an dem Morgen, als sie nach Australien fliegen wollte.« Corrigan fluchte, als ein Bus auf die Fahrbahn zog. »Louise Russell wird seit vier Tagen vermisst. Das bedeutet, uns bleiben noch drei oder vier Tage, um sie zu finden. Dann wird sie vermutlich so enden wie Karen.«
»Was sollen wir jetzt machen?«
»Rufen Sie Roddis an. Er soll ein paar Leute aus seinem Team zu Karen Greens Haus schicken. Und sagen Sie Zukov und O’Neil, sie sollen einen noch genaueren Blick in die Datei der örtlichen Sexualstraftäter werfen. Ich muss wissen, ob in letzter Zeit gemeldet wurde, dass jemand sich durch eine List Zutritt zu Privathäusern verschafft hat.«
»Aber ich dachte, unser Verdächtiger ist nicht vorbestraft. Wie soll er da in unserer Datei auftauchen?«, fragte Donnelly.
»Könnte sein, dass er woanders vorbestraft war. Vielleicht in den USA. Oder jemand hat Mist gebaut, als es darum ging, die Daten aufzunehmen. Keine Ahnung, wir müssen an alles denken.«
»Okay, ich kümmere mich darum.«
»Da wäre noch eine Sache, um die ich Sie bitten möchte, aber behalten Sie es für sich.«
»Klar, Chef. Worum geht’s?«
»Sagen Sie Featherstone, ich brauche seine Genehmigung, um ein Rundschreiben aufzusetzen. Alle vermissten Personen, die der Beschreibung unserer Opfer ähneln, sollen direkt an uns gemeldet werden. Aber keine Liebesaffären. Nur die Fälle, bei denen der dringende Verdacht besteht, dass die Frauen verschwunden sind.«
»Ich verstehe nicht, Chef …«
»Wieso nicht?«, fragte Corrigan gereizt.
»Wir haben zwei Opfer. Eine Frau ist tot, die andere wird vermisst. Wir wissen, wer diese Frauen sind – warum sollten wir dann nach weiteren Vermissten suchen? Falls dieser Kerl bereits eine oder mehrere Frauen ermordet hat, ehe er Karen Green umbrachte, wüssten wir es.«
»Mir geht es aber nicht darum, was dieser Verrückte vorher getan hat«, sagte Corrigan. »Mir geht es darum, was er als Nächstes tun wird.«
»Als Nächstes bringt er wahrscheinlich Louise Russell um, es sei denn, wir finden sie früh genug«, meinte Donnelly.
»Nein, als Nächstes schnappt er sich eine andere Frau. Weil er einen Ersatz für Karen braucht. Möglicherweise schlägt er im Abstand von sieben bis acht Tagen zu. Karen Green wird seit acht oder neun Tagen vermisst, Russell seit vier. Greens Leiche haben wir heute Morgen gefunden. Das bedeutet, dass er beide Frauen zumindest drei Tage lang zusammen irgendwo festgehalten hat. Wenn er dieses Muster beibehält, muss er in den kommenden Tagen wieder jemanden entführen.«
»Aber selbst wenn er die Frauen gleichzeitig festgehalten hat, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er beide an ein und demselben Ort gefangen gehalten hat, was meinen Sie?«, fragte Donnelly.
Corrigan überlegte, wie er seine Gedanken in Worte fassen konnte, um seinen Detective Sergeant zu überzeugen.
»Doch, da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte er schließlich. »Die Frauen getrennt festzuhalten hieße, dass er zwei sichere, abgelegene Orte braucht. Und er müsste sich seine Zeit anders einteilen, um zu beiden Frauen zu gelangen. Ich glaube nicht, dass er so verfährt. Er will beide Frauen an ein und demselben Ort, wo er sie in seiner Gewalt hat. Allein schon, weil es weniger Aufwand für ihn bedeutet.«
Das war nur die halbe Wahrheit, aber Corrigan wollte noch nicht den wirklichen Grund offenbaren, warum er glaubte, dass der Killer beide Frauen zusammen festhielt. Falls sein Bild von diesem Irren stimmte, lebte er imaginäre Beziehungen mit seinen Gefangenen aus. Beziehungen, die nach und nach zerbrachen, je mehr die Zeit verstrich. Dieser Wahnsinnige brauchte immer wieder neue Opfer, die das Elend der anderen Gefangenen mit eigenen Augen erlebten, vielleicht als eine Art Warnung, nach dem Motto: Befriedige meine Wünsche, oder leide wie die anderen. Ob der Entführer diese psychische Folter absichtlich anwendete, wusste Corrigan noch nicht. Um diese Frage beantworten zu können, müsste er ihm dichter auf den Fersen sein, musste so denken wie der Killer und fühlen, was er fühlte. Nur dann würde sich ihm das Gesamtbild erschließen, sodass er keine Lücken mehr mit Vermutungen füllen musste.
Zu Corrigans Erleichterung gab Donnelly sich mit dieser Erklärung zufrieden. »Hört sich vernünftig an. Ich teile Featherstone mit, was Sie benötigen, okay?«
»Ja. Ich fahre jetzt wegen der Obduktion ins Guy’s Hospital. Tun Sie mir den Gefallen und machen Sie den Leuten Dampf, falls nicht alle auf Hochtouren arbeiten.«
»Doch, Chef, das tun sie«, versicherte Donnelly ihm. »Das Team hat den Ernst der Lage erkannt.«
»Um so besser.« Corrigan beendete das Gespräch und merkte, dass er gewissermaßen wie mit Autopilot gefahren war. Mit einem raschen Blick in den Innenspiegel überzeugte er sich, dass er keinen Stau verursacht hatte, und fuhr in Richtung Guy’s Hospital.
Gedanklich bereitete er sich auf den Anblick der leblosen Hülle vor, die einst Karen Green gewesen war.
*
Am Freitagmittag saß Thomas Keller allein an einem Ecktisch in der Kantine und rührte mit einem Löffel im Tee, der längst kalt geworden war. Das Essen auf dem Tablett neben sich hatte er kaum angerührt. Er war aufgewühlt und konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Frau, die er später am Nachmittag aufsuchen wollte. Alles war minutiös geplant: Sorgsam hatte er sich die Frau ausgeguckt und wusste längst, wann und wo er sie zu sich holen würde.
Erst jetzt bemerkte Keller, dass er mit dem Stuhl vor und zurück wippte, als wäre er Insasse einer Nervenheilanstalt. Sofort verharrte er, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Immer wieder versuchte er, die Gedanken an die Frau zu verscheuchen, wusste er doch, dass er sich nach außen hin so geben musste wie immer – demütig, freundlich, unauffällig. Ein Niemand.
Umso mehr tröstete ihn der Gedanke, dass er für die Frau, die ihn einst geliebt hatte und die er in nur wenigen Stunden wiedersehen würde, kein Niemand gewesen war. Ja, nur noch ein paar Stunden, und er würde sie endlich wiedersehen und vor jenen Leuten schützen, die ihr Lügengeschichten über ihn eingeimpft hatten. Denn diesmal hatte er sie wirklich gefunden. Ja, man hatte ihn reinlegen wollen, aber er hatte sie trotz aller Lügen gefunden – die einzig wahre Seelenverwandte, die ihn niemals verraten würde wie all die anderen. Er fuhr sich mit der Zunge über die wulstigen Lippen, während er gedankenverloren in unbestimmte Fernen blickte.
Jäh wurde Keller in seinen Tagträumen unterbrochen, als zwei Kollegen sich zu ihm an den Tisch setzten. Sie machten unnötig Lärm und klapperten absichtlich laut mit ihren Tabletts.
»Alles im Lot, Timmy?«, fragte der Ältere der beiden. »Macht dir doch nichts aus, wenn wir uns zu dir setzen, oder?«
»N-nein«, stammelte Keller und versuchte, sich seine Angst vor den Männern nicht anmerken zu lassen.
»Natürlich macht es dir nichts aus«, sagte der Mann. »Nur ein echter Loser will die ganze Zeit allein in der Ecke hocken und essen, stimmt’s, Timmy?«
Keller zwang sich zu einem Lächeln und schluckte den Hass herunter, den er in Gegenwart dieser Männer verspürte. »Ich hab nichts dagegen, allein zu sein«, sagte er leise. »Und ich heiße nicht Timmy, sondern Thomas.«
Der Kleinere der beiden beugte sich über den Tisch, sodass er mit seiner Visage viel zu nah an Kellers Gesicht war. »Wir wissen, wie du heißt, du Scheißhaufen, und wir wissen auch, dass du dich für was Besseres hältst. Ist es nicht so, Timmy?«
»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach er. »So was denke ich nicht. Ich bin einfach lieber für mich allein. Mir gefällt nun mal nicht, was euch gefällt.«
»Frauen zum Beispiel, was?«, fragte der ältere Kollege und lachte aus vollem Halse. »Bist du eine verdammte Schwuchtel, oder was?«
Die Worte schürten Kellers schwelenden Hass. Ein Hass, der sich bis ins Innerste seiner Seele fraß. Er merkte, dass die Blicke anderer Möchtegern-Peiniger auf ihn gerichtet waren. In der ganzen Kantine grinsten die sogenannten Kollegen ihn spöttisch an und amüsierten sich auf seine Kosten. Unwillkürlich sprang Keller vom Tisch auf, baute sich zu voller Größe auf und hätte beinahe seinen Stuhl umgestoßen. Seine Peiniger zuckten nicht einmal mit der Wimper. Sie hatten keine Angst vor ihm.
»O Gott! Wir … wir sollten aufpassen, Stevie«, stotterte der Jüngere der beiden in gespieltem Schrecken und tat so, als ducke er sich vor Keller. »Ich glaube, der macht uns fertig!«
»Cool bleiben, Tommyboy!« Der andere Mann lachte. »Sonst scheiß ich mir gleich vor Angst in die Hose.«
Verächtliches Gelächter drang an Kellers Ohren. Für ihn war es der grausamste Laut, den er kannte: ein ständiger, bösartiger Begleiter, der ihn seit frühester Kindheit heimgesucht hatte. In seinem Zorn stellte er sich vor, wie er die Türen zur Kantine mit Ketten verhängte und dann Benzin durch den Türspalt in den Raum pumpte … hämisch freut er sich über die panischen Schreie der Eingeschlossenen, die den Benzindämpfen ausgesetzt sind … genüsslich lässt er das brennende Streichholz in die Kantine fallen … voller Häme beobachtet er, wie die Feuerspur sich über den Boden frisst und ein Flammenmeer entfacht, das sich gnadenlos ausbreitet und nichts als verkohlte Leichen zurücklässt …
Eine hasserfüllte Stimme holte Keller in die Wirklichkeit zurück. »Na, Tommyboy, was hast du jetzt vor, du kleiner Wichser?«
Keller machte auf dem Absatz kehrt. So schnell er konnte, hielt er auf den Ausgang zu, stürmte durch die Schwingtür und hörte das anzügliche Gelächter der Kollegen, das sich wie ein Missklang in seinen verwirrten Verstand fraß.
Über drei Treppenabsätze gelangte er in den Keller und rannte in den alten Lagerraum, der ihm jedes Mal Zuflucht bot, wenn er allein sein wollte. Es gab weder Schloss noch Riegel, deshalb musste er einen Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke klemmen, um sicher sein zu können, dass ihn hier unten niemand störte. Erst dann ließ er seinen Tränen freien Lauf.
Thomas Keller verschwand aus dem Jetzt und Hier. Er wurde wieder Kind. Ein kleiner Junge, verlassen von seiner Mutter. Der Mann, der sich sein Vater nannte, hatte seine Mom wahrscheinlich nicht länger als eine Nacht gekannt. Man hatte ihm versprochen, der kleine Thomas sei im Waisenhaus gut aufgehoben, aber sie hatten ihn angelogen: Thomas wurde nicht geliebt, sondern gehasst. Die Gesichter der anderen Kinder tanzten vor seinem inneren Auge. Gemein und gehässig waren sie zu ihm gewesen, wie es nur Kinder untereinander sein können. Immer wieder waren sie zu mehreren über ihn hergefallen. Aber Thomas wehrte sich, griff den Anführer seiner Peiniger an und biss den Jungen in seiner Verzweiflung so fest in die Wange, dass seine Zähne auf Knochen trafen und das Blut des anderen in seinen Mund spritzte. Oh, er konnte sich gut an die Schmerzensschreie des Jungen erinnern! Die anderen Kinder kreischten vor Entsetzen, als sie sahen, dass ihrem Anführer das Blut über Wange und Kinn lief, während Keller wie ein tollwütiger Hund knurrte und nach seinem nächsten Opfer Ausschau hielt.
Plötzlich schlossen sich von hinten kräftige Arme um ihn; jemand riss ihn zu Boden, während ein anderer ihm Gürtel um Hand- und Fußgelenke schnallte und so fest zog, dass Keller weder seine Finger noch die Zehen spüren konnte. Dann erst fiel sein Blick auf die Spritze in der Hand des Erwachsenen. Die Kanüle drang in seinen Arm, und eine kalte Flüssigkeit strömte in seinen Körper und ließ ihn vor Kälte erstarren. Er konnte sich nicht mehr rühren, doch sein Verstand jagte ziellos umher.
Er erinnerte sich, wie jemand ihn hochzerrte und über den Boden schleifte, durch eine Tür in die Dunkelheit, hinunter in den Keller, der verborgen und abgeschieden unter dem Kinderheim lag. Die Tür zum Tierkäfig stand offen, und jemand stieß ihn in das eiserne Gefängnis. Man nahm ihm die Gürtel wieder ab und schlug die Tür hinter ihm zu. Das Metallgitter des Käfigs vibrierte, während die Stimmen der Erwachsenen immer leiser wurden.
Keller schrie aus vollem Halse nach seiner Mutter. Er bettelte um Vergebung, obwohl er gar nicht wusste, was er falsch gemacht hatte und für welches Verbrechen er hierhergeschleift worden war. Ununterbrochen rief er nach seiner Mom und kämpfte gegen die Wirkung der Medikamente an, bis plötzlich ein Gesicht ganz nah vor dem Käfig auftauchte. Ein Gesicht voller Hass und Rachsucht. Eine Stimme zischte aus dem Halbdunkel: »Ruf so lange du willst, du verdammter Irrer. Keiner hört dich. Keiner wird dich hier rausholen. Sie hasst dich, kapierst du das nicht? Sie hasst dich! Das hier ist jetzt dein Zuhause, also gewöhn dich dran, denn du wirst lange Zeit hier sein.«