4.
Thomas Keller traf rechtzeitig zur Nachmittagsschicht ein. Er war zufrieden, beinahe glücklich. Gemächlich schlenderte er durch das Tor des Briefzentrums der Royal Mail in der Holmesdale Road, South Norwood, und hielt auf das große graue Gebäude zu, in dem er seit nunmehr elf Jahren als Postbote arbeitete. Innen wie außen hatte sich im Laufe der Zeit nur wenig verändert.
Keller hatte mit siebzehn Jahren hier angefangen, gleich nach Verlassen der Schule. Zu Beginn hatte man ihm nur kleinere Aufgaben zugeteilt. Er hatte sich erst hocharbeiten müssen und half später beim Sortieren der Post. Es dauerte mehrere Jahre, bis man ihm die eigene Postrunde überließ. Ihm war nie daran gelegen, höher auf der Karriereleiter aufzusteigen; er wusste, dass er ohnehin keine Chance hatte.
Wie jeden Tag betrat er das Hauptgebäude und schob die Karte in dieselbe Stechuhr, die bereits vor elf Jahren seinen Arbeitsbeginn erfasst hatte. Ohne weiter auf die Kollegen zu achten, begab er sich auf seinen Platz unmittelbar vor dem zwei Meter hohen Regalsystem aus Holz und machte sich daran, die Post für seine Runde vorzubereiten. Briefe und Pakete wanderten je nach Postleitzahl in die entsprechenden Fächer. Für Keller war diese Arbeit leicht und entspannend. Insbesondere die immer gleichen Handgriffe ermöglichten es ihm, in Gedanken abzuschweifen und in angenehmen Erinnerungen zu schwelgen.
Keller war völlig entgangen, dass er lächelte, bis ihn eine Stimme in unmittelbarer Nähe aus seinen Tagträumen riss. Es war eine leicht heisere Stimme mit dem Akzent des Londoner Südostens.
»Na, hallo, da ist aber einer gut drauf.«
Thomas Keller wusste, wem die Stimme gehörte. Jimmy Locke gehörte zu den Kollegen, die ihn nur zu gern piesackten.
»Noch schnell einen weggesteckt, was, Tommy?«, prustete Locke und grinste breit, während er Beifall heischend zu den Kollegen schaute, die an den anderen Regalabschnitten arbeiteten. Lautes Lachen verriet Locke, dass er wieder eine willige Zuhörerschaft gefunden hatte.
Keller warf einen scheuen Blick über die Schulter und lächelte unsicher, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte und versuchte, die Attacken der Kollegen zu ignorieren.
»Oh, oh!« Jimmy Lockes Miene wurde schlagartig ernst. Die Tattoos des Crystal Palace Football Club an seinem Bizeps zuckten, als er die Armmuskeln spannte. Locke hatte einen ansehnlichen Bierbauch, und bei dem kurz geschorenen Haar wirkte sein Kopf eher klein. »He, ich hab dich was gefragt, Tommy.«
Stille senkte sich herab, während die Männer auf eine Reaktion warteten.
»Ich heiße nicht Tommy«, erwiderte Keller leise, »sondern Thomas.«
»Ach, wirklich?«, spottete Locke. »Thom-arsch oder Tom-ass?«
Wieder schwoll das Gelächter an, denn die anderen hatten ihren Spaß an Kellers Demütigung. Trotzdem versuchte Keller weiterhin, die Verbalattacken zu ignorieren.
»Nun sag schon, Junge. Bist du ein Arsch oder ein Trottel?« Jimmy Locke wandte sich seinen Zuhörern zu und schien sich in der Rolle des Spaßmachers zu gefallen. Das tägliche Ritual, Thomas Keller Stück für Stück zu demontieren, eilte seinem Höhepunkt entgegen. »Ich warte auf eine Antwort, Thom-arsch, und ich mag es nicht, wenn man mich warten lässt. Schon gar nicht, wenn ich auf kleine Scheißer wie dich warten muss.«
Eine Mischung aus Scham und Hass überfiel Thomas Keller. Seine Haut prickelte. Ihm wurde heiß, und der Schweiß brach ihm aus. Hitze schoss ihm in die Wangen und den Nacken – nicht nur aus Verlegenheit, sondern auch aus einem Gefühl der Hilflosigkeit. Keller spürte, dass Locke näher an ihn herantrat, um ihn mit weiteren Beleidigungen zu quälen, aber er hatte nicht den Mumm, sich seinem Peiniger zu stellen. Im Stillen verfluchte er sich dafür, dass ihn gerade jetzt die vernichtende Kraft verließ, die er immer dann spürte, wenn er bei ihnen war – wenn er allein mit ihnen war, unten im Kellergewölbe. Hätte er auch jetzt diese Kraft, diesen Mumm gehabt, hätte er einen Typen wie Locke in der Luft zerrissen. Er hätte sie alle vernichtet.
Eines Tages, redete er sich ein. Ja, eines Tages würde er sich diese Typen vorknöpfen, und dann würde es ihnen leidtun, ihn so gedemütigt zu haben.
Locke stand nun unmittelbar neben Keller und sprach dicht an seinem Ohr. Der Geruch von schalem Bier und Tabak bestürmte Kellers Sinne. Er wollte die Briefe in die Fächer einsortieren, doch seine Arme gehorchten ihm nicht.
»Bist du eine Schwuchtel, Thom-arsch?«, zischte Jimmy. »Die Jungs hier und ich, wir glauben nämlich, dass du eine verdammte Schwuchtel bist. Hab ich recht? Wir mögen es aber nicht, mit einer verdammten Schwuchtel wie dir zusammenzuarbeiten. Einige von den Jungs haben Angst, du könntest sie mit Aids anstecken. Sie glauben, ihr Schwulen seid all krank. Stimmt das etwa nicht, Thom-arsch? Hast du nicht längst schon Aids?« Lockes Gesicht, verzerrt vor Hass, war nur noch wenige Zentimeter von Kellers Wange entfernt.
»Ich bin nicht homo … homosexuell«, brachte Keller stotternd hervor, kam aber über ein Flüstern nicht hinaus.
»Wie war das?«, schrie Locke ihm ins Ohr. Seine Spucke sprühte auf Kellers Wange.
»Ich bin nicht homosexuell«, wiederholte Keller, etwas lauter diesmal, und wünschte sich, er hätte ein Messer zur Hand. Er stellte sich vor, wie er herumwirbelte und Locke mit einer schnellen, präzisen Bewegung den Bauch aufschlitzte. Dann würde er einen Schritt zurücktreten und mit Genugtuung beobachten, wie dem fetten Bastard langsam die Eingeweide aus der Wunde quollen. Verzweifelt würde Locke sich den Wanst halten und versuchen, seine Innereien zurückzudrücken, aber dafür wäre es zu spät. Von Schmerzen, Entsetzen und Todesangst gezeichnet, würde er zurücktaumeln.
Ja, Keller würde ihm das selbstgefällige Grinsen schon abgewöhnen!
»Was hast du eben gesagt, Schwuchtel?«, setzte Locke nach und brüllte Keller erneut ins Ohr, sodass er zusammenzuckte. »Könnt ihr Schwulen nicht richtig sprechen, oder was?«
Ohne Vorwarnung wirbelte Keller herum und holte mit dem imaginären Messer in der Hand zum Schlag aus, wobei er, wie geplant, auf Lockes Schwabbelbauch zielte. Die Reaktion kam so unerwartet, dass Locke tatsächlich zurückwich, und für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Ausdruck von Furcht über seine Züge. Noch nie hatte Keller es gewagt, sich zur Wehr zu setzen. Locke nahm sich vor, der kleinen Schwuchtel einzubläuen, ihn nicht noch einmal mit seinen Wichsgriffeln anzufassen. Schon hatte er die Hand zur Faust geballt. Winzige Narben auf den Knöcheln verrieten, dass Locke schon so manchem Gegner die Zähne eingeschlagen hatte.
Keller wappnete sich gegen den Hieb, der jeden Moment kommen würde. Stattdessen hörte er eine laute Stimme. »Was ist hier los?«
Es war niemand anders als Leonard Trewsbury, der sich mit kräftiger, ruhiger Stimme einschaltete. Seine jamaikanische Herkunft war nur an der Satzmelodie zu erahnen. Streng musterte er Jimmy Locke über den Rand seiner Brille hinweg und ließ sich von dem kräftigeren, jüngeren Mann nicht aus der Ruhe bringen. Trewsbury wusste, dass ein Typ wie Locke es hasste, von einem Dunkelhäutigen gemaßregelt zu werden.
»Nichts, über das Sie sich Sorgen machen müssten, Leonard«, erwiderte Locke.
»Das darf ich wohl noch selbst beurteilen«, betonte der Abteilungsleiter, wusste er doch, dass Locke letzten Endes nachgeben würde. »Und Sie reden mich mit ›Mr. Trewsbury‹ an, ist das klar?« Gelassen hielt er Lockes funkelndem Blick stand und schien nur darauf zu warten, endlich einen Grund zu haben, sich über einen Unruhestifter wie Locke zu beschweren. Ginge es nach Trewsbury, hätte er Locke schon längst gefeuert. »Okay, dann machen sich jetzt alle wieder an die Arbeit«, befahl er unmissverständlich.
Widerwillig trat Locke zu dem Abschnitt des Regals, an dem er arbeitete, doch sein Blick blieb voller Hass.
Derweil nahm Trewsbury Thomas Keller beiseite. Er mochte den Jungen. Keller blieb stets unauffällig und machte seine Arbeit gut und gewissenhaft. Stets kam er pünktlich und hatte nie etwas dagegen, Überstunden zu machen. Was er letzten Endes mit seinem Geld anstellte, war Trewsbury ein Rätsel, aber das ging ihn schließlich nichts an, und er hatte ihn nie danach gefragt. Keller gab ohnehin nichts über persönliche Dinge preis.
»Sie dürfen nicht zulassen, dass gewisse Kollegen Ihnen so zusetzen«, sagte Trewsbury.
»Ist schon okay«, log Keller. »Das macht mir nichts aus. Ist doch nur ein Spaß.«
»Das sah mir eben aber gar nicht nach Spaß aus. Wenn Locke oder einer seiner Kumpels Sie wieder belästigt, lassen Sie es mich wissen, okay?«
»Ja, okay«, stimmte Keller zu und spürte, dass sein Herzschlag sich endlich wieder beruhigte. Der Druck an seinen Schläfen ließ allmählich nach, dort, wo sich ein pochender Schmerz aus Selbstverachtung und Zorn aufgestaut hatte.
»Gut so«, munterte Trewsbury ihn auf. »Dann also wieder ran an die Arbeit, ehe wir zu sehr ins Hintertreffen geraten.«
»Klar«, antwortete Keller und versuchte, cool und abgeklärt zu wirken. Doch in seinem Innern nahmen die Bilder seiner Rache bereits Gestalt an, kalt und grausam, blutig und qualvoll. Wenn er endlich mit Sam zusammen war, wie es schon immer hätte sein sollen, würde sie ihm die Kraft geben, der zu sein, der er im Grunde war. Dann würde er dafür sorgen, dass Locke und die anderen es bereuten, ihn so gequält zu haben.
Oh ja, sie würden bitter bereuen, was sie ihm angetan hatten.
*
Corrigan bog in die Zufahrtsstraße zum Norman Park in Bromley ein und folgte der Beschilderung nach Scrogginhall Wood. Offensichtlich konnte es nur einer Stadtverwaltung einfallen, einen unbedeutenden Baumbestand wie diesen als »Wald« zu bezeichnen. Auf dem unebenen Weg wurde Corrigan in seinem Auto durchgeschüttelt und fluchte mehrmals, sobald die Stoßdämpfer wieder einmal über Gebühr beansprucht wurden.
Als er die Holzpfosten erreichte, die die Einfahrt zum Parkplatz markierten, sah er, dass neben dem Polizeifahrzeug noch andere Wagen abgestellt waren. Vermutlich waren ein paar Hundebesitzer noch nicht von den Runden mit ihren Vierbeinern zurück. Vielleicht gehörten die Autos aber auch Leuten, die sich heimlich mit Geliebten trafen.
Noch hatte Corrigan sich nicht entschieden, ob er einige der Wagen abschleppen lassen sollte, denn theoretisch gehörte eines der Autos dem Unbekannten, den er jagte. Möglicherweise steckte der Kerl irgendwo im Dickicht zwischen den Bäumen, beobachtete die Polizei und lachte sich ins Fäustchen. Vielleicht machte er sich sogar über ihn, Corrigan, lustig.
Dann entdeckte er Sergeant Donnelly, der auf der Kofferraumklappe seines Vauxhall saß. Er hatte genau neben dem Streifenwagen der beiden Beamten geparkt, die Louises roten Ford Fiesta gefunden hatten. Ein Mann vom AA, dem britischen Automobilclub, stand neben seinem Van und schien auf die Anweisung zu warten, das verlassene Auto aufzubrechen. Jedenfalls stand der Kasten mit Werkzeug schon bereit.
Corrigan parkte so vor dem Fiesta, dass kein anderer Autofahrer auf die Idee kam, zu nah an dem Wagen zu parken, der inzwischen als Tatort eingestuft wurde. Das Risiko war zu groß, etwaige Reifenspuren oder Fußabdrücke zu verwischen. Als Corrigan ausstieg, knirschte der Boden unter seinen Schuhsohlen: eine Mischung aus verdichtetem Schotter und größeren Steinen. Nicht gerade die Art von Untergrund, der aussagekräftige Spuren preisgab.
Als Donnelly seinen Chef sah, schnippte er seine Zigarette möglichst weit weg, da er im Stummel seine eigene DNA hinterlassen hatte, wie er sehr genau wusste. Offenbar wollte er nicht zum Gespött der Kollegen werden, weil er die Spuren am Tatort kontaminierte.
Corrigan begab sich auf kürzestem Weg zum Fiesta und rief nach Donnelly, während er mit fachmännischem Blick den Boden absuchte. »Bringen wir die Sache ein bisschen voran, okay?«
»Soll heißen?«, fragte Donnelly.
»Dass wir den gesamten Platz zum Tatort erklären, nicht nur das Auto hier. Und wir lassen unsere Kippen nicht einfach in der Nähe der abgesperrten Zone fallen.«
Donnelly blickte in die Richtung, in die er den Zigarettenstummel geschnippt hatte, und schien enttäuscht zu sein, dass sein Chef nicht zu würdigen wusste, wie weit der Stummel geflogen war.
Inzwischen hatte Corrigan Gummihandschuhe aus der Tasche gezogen, die er jetzt überstreifte, wobei er den Boden um Louise Russells verlassenes Auto keine Sekunde aus den Augen ließ. Der rote Fiesta, stummer Zeuge von Louises Schicksal. Da Corrigan nichts Auffälliges entdecken konnte, trat er näher an den Wagen heran, umrundete ihn gegen den Uhrzeigersinn und nahm jeden Millimeter des Bodens in sich auf. Donnelly schaute schweigend zu, wusste er doch, dass es besser war, den Chef machen zu lassen – Corrigan hatte nun mal seine eigenen Methoden.
Kurz darauf stand Corrigan wieder an der Stelle, an der er seinen kleinen Rundgang begonnen hatte. Doch er drehte eine zweite Runde, diesmal im Uhrzeigersinn, wobei er sich auf das Auto selbst konzentrierte und nach den kleinsten Hinweisen Ausschau hielt: Vielleicht entdeckte er Blut des Verdächtigen, denn das Opfer hatte sich möglicherweise zur Wehr gesetzt und den Entführer gekratzt. Vielleicht war der Wagen auf dem Weg zum Waldparkplatz mit einem anderen Fahrzeug kollidiert, und womöglich gab es da draußen jemanden, der sich an den kleinen roten Fiesta erinnerte, der nach dem Unfall einfach weitergefahren war.
Louise hatte offensichtlich Wert auf einen tadellosen Zustand ihres Autos gelegt – jede noch so kleine Beschädigung am Lack hätte man auf den ersten Blick gesehen. Doch Corrigan konnte nichts entdecken. Vielleicht ließ sich durch den Einsatz von Pulvern und Chemikalien, ultraviolettem Licht und starken Vergrößerungen mehr erreichen. In der Zwischenzeit wollte Corrigan sich einen ersten Eindruck vom Innenraum des Fords verschaffen und die Stille dieses stummen Zeugen in sich aufnehmen, ehe Roddis und dessen Jungs von der Spurensicherung den Wagen in eine Arena der Wissenschaft verwandelten.
»Schauen wir mal rein«, sagte er.
Donnelly trat zu dem Mann vom Automobilclub, der in seinem Van saß, und klopfte leise an die Scheibe. Der AA-Mann ließ seine Sun fallen und sprang aus dem Auto, die Werkzeugtasche griffbereit.
»Können Sie den Wagen für uns aufbrechen?«, erkundigte sich Donnelly. Er hatte die Frage eher aus einer Laune heraus gestellt, denn er zweifelte nicht an den Fähigkeiten des AA-Mitarbeiters.
»Ist ein Ford«, antwortete der Mann und hielt bereits auf den Fiesta zu. »Das geht schnell. Welche Tür darf es sein?«
»Beifahrertür bitte«, schaltete Corrigan sich ein. »Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie so wenig wie möglich anfassen.«
»Ich tue, was ich kann«, lautete die lapidare Antwort. Der AA-Mann hatte bereits ein Werkzeug hervorgezaubert, das an ein überdimensionales Lineal mit Haken am Ende erinnerte. Natürlich wusste Corrigan, um was es sich handelte: um einen Autoknacker-Bügel, der bei Autodieben und Männern vom Automobilclub gleichermaßen beliebt war. Vorsichtig hob der Mann die Gummidichtung am Beifahrerfenster an und ließ das linealförmige Werkzeug in die Türverkleidung gleiten. Die Miene des Mannes verspannte sich, als er versuchte, die Türmechanik zu treffen. Dann zog er das Werkzeug mit einem Ruck nach oben, worauf ein Klacken allen Umstehenden verriet, dass die Türverriegelung offen war. Als der AA-Mitarbeiter die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, schnellte Corrigan vor und umfasste das Handgelenk des Mannes.
»Wir haben noch nicht nach Fingerabdrücken gesucht«, stellte er nüchtern fest.
Sowie der AA-Mann vom Fiesta zurückgetreten war, streckte Corrigan seine behandschuhte Hand langsam nach dem Türgriff aus und schob einen Finger unter den Bügel, an eine Stelle, die die meisten Leute beim Öffnen von Autotüren nicht berührten. Vorsichtig zog er den Finger ein wenig hoch und hoffte, dass die Tür nur ein Stück weit aufging. Gleichzeitig hielt er die andere Hand so, dass er die Tür auffangen konnte, falls ein plötzlicher Windstoß sie aufdrückte. Akribisch suchte er entlang der Türdichtung nach Spuren, die der Wind jeden Augenblick fortwehen könnte – vielleicht ein Haar des Verdächtigen, da er die Tür zu schnell zugedrückt hatte; vielleicht ein Fetzen von seiner Kleidung, weil er das Auto überstürzt verlassen hatte.
Da Corrigan nichts dergleichen sah, zog er die Tür ein paar Zentimeter weit auf. Unerwartet erfasste ihn der Geruch aus dem Innenraum und veranlasste ihn, den Kopf ruckartig zurückzuziehen. Doch schon im nächsten Moment hatte er sich gefasst und identifizierte die Gerüche: Ausdünstungen von Kleidung, Vinyl und Gummi und vor allem ihr Parfum – ein unaufdringlicher, blumiger Duft.
Aber da war noch etwas, das den anderen Gerüchen anhaftete, etwas, das im Hintergrund bleiben wollte. Ein Hauch von einem Geruch, der in diesem Zusammenspiel aus Aromen im Verborgenen bleiben wollte – ein schwacher Duft, bei dem sich Assoziationen wie Krankenhaus oder Chirurgie einstellten.
Chloroform, sagte sich Corrigan. Eigentlich hatte er diesen Geruch zuvor noch nicht in der Nase gehabt; trotzdem wusste er, dass es sich um nichts anderes handeln konnte.
»Irgendwas gefunden?«, erklang Donnellys Stimme.
»Chloroform, nehme ich an«, antwortete Corrigan. »Sagen Sie Roddis, er soll den Wagen hier vor Ort unter die Lupe nehmen. Nicht erst, wenn er abgeschleppt wird.«
»Geht klar.« Donnelly tippte eine Ziffernfolge auf der Tastatur seines Handys ein.
Langsam zog Corrigan die Tür weiter auf und hielt unbeirrt Ausschau nach Hinweisen. Bewusst berührte er nichts, als er neben der halb offenen Tür in die Hocke ging.
Plötzlich spürte er, dass irgendwas nicht stimmte. Etwas fehlte. Nur wollte ihm nicht einfallen, was es sein mochte. Dann aber, wie so oft, sprang ihn die Antwort unvermutet an: Es ist zu still.
Corrigan richtete sich auf. »Keine Alarmanlage.«
Donnelly schaute von seinem Handy auf. »Wie bitte?«
»Wieso geht die Alarmanlage nicht an, verdammt?«, entgegnete Corrigan. »Die Tür war verschlossen, aber es geht kein Alarm los.« Für einen Moment glaubte er, endlich etwas Relevantes gefunden zu haben, doch die aufkeimende Hoffnung wurde vom AA-Mitarbeiter zunichtegemacht.
»Ist ein Ford«, sagte der Mann.
»Was soll das heißen?«
»Man schließt mit dem Funkschlüssel ab. Einmal drücken heißt abschließen, erst beim zweiten Drücken wird der Alarm scharfgestellt.«
Hatte das nun etwas zu bedeuten oder nicht? War der Unbekannte, den er jagte, so sehr in Panik geraten, dass er bei der Flucht vergessen hatte, den Alarm zu aktivieren? Oder hatte er verhindern wollen, dass der Alarm für unnötige Aufmerksamkeit sorgte? Warum hatte er den Wagen überhaupt abgeschlossen? Schließlich hatte er seine Fingerabdrücke bereits im Haus der Russells hinterlassen.
Corrigan musste sich in Erinnerung rufen, sich nicht zu sehr in dem Gewirr aus Möglichkeiten zu verheddern. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass der Unbekannte allmählich in seinen Geist drang. Im weiteren Verlauf des Falles, das wusste Corrigan, würde er mehr und mehr so denken wie der Täter, bis dessen Gedanken zu seinen wurden. So war es fast immer; das war seine Gabe und sein Fluch.
Ein kaltes, unangenehmes Gefühl überkam Corrigan. Die kommenden Tage würden sich als freudlos und stressig erweisen. Die einzige Hoffnung auf ein bisschen Licht in der Düsternis war, Louise Russell noch lebend zu finden – und ihren Entführer. Den Mann, der sie im Augenblick in seiner Gewalt hatte.
Am liebsten hätte Corrigan sich einfach auf den Fahrersitz gesetzt, auf dem auch der Entführer gesessen hatte. Dann hätte er die Sitzposition registriert, die Einstellung der Spiegel, die Höhe des Lenkrads …
Bilder von Louises schlaffem Körper blitzten vor seinem geistigen Auge auf. Sie war gefesselt und geknebelt und lag hinter der Rückbank in dem kleinen abgeflachten Kofferraum des Ford … Einen Sekundenbruchteil später hatte Corrigan eine gesichtslose Gestalt vor Augen, die den Ford durch den Londoner Straßenverkehr lenkte, während Louise hinten eingepfercht lag und ihn hinter dem Klebeband mit dumpfer Stimme anflehte, sie freizulassen … Corrigan sah, wie die schattenhafte Gestalt einen Blick über die Schulter warf und etwas zu Louise sagte: Er versicherte ihr, alles werde gut, er würde ihr nicht wehtun, würde sie nicht anfassen …
Aber Corrigan hielt sich zurück. Er setzte sich nicht hinters Steuer, denn er durfte nicht riskieren, dass wertvolle, unsichtbare Beweise zerstört würden.
Als Donnelly ans Auto trat, schrak Corrigan zusammen. »Roddis ist unterwegs«, sagte der Detective Sergeant.
»Gut. Danke.« Corrigan zögerte. »Ich muss einen Blick in den Kofferraum werfen.«
»Halten Sie das für klug, Chef? Roddis wird nicht begeistert sein.«
»Ich fasse ja nichts an«, versprach Corrigan. »Ich will mir nur einen ersten Eindruck verschaffen.« Er ging zur Heckklappe und tastete mit nur einem Finger nach der Arretierung, denn er war überzeugt, dass der Verdächtige das Schloss angefasst hatte. Corrigan beobachtete, wie die Heckklappe sich mit leisem Zischen der Hydraulikstangen langsam hob. Als er sich vorbeugte, um besser sehen zu können, fiel ihm als Erstes auf, wie sauber der Kofferraum war. Wie das gesamte Auto. Alles war makellos, abgesehen von der kleinen abgeschabten Stelle am Teppich des Kofferraums. Und noch etwas fiel ihm auf: winzige Kratzspuren an der Verkleidung. Corrigan wusste, was das bedeutete.
Er zog den Kopf ein und richtete sich auf. »Hier hat er sie verstaut«, ließ er Donnelly wissen, der ihn gespannt anblickte. »Er hat sie gefesselt, vielleicht auch geknebelt, und dann in den Kofferraum gesteckt. Hier können Sie sehen, wo ihre Schuhe über den Teppich geschabt sind und Kratzer an der Kunststoffverkleidung hinterlassen haben. Hier, sehen Sie? Ein ganz Gewiefter, unser Verdächtiger. Am helllichten Tag entführt er sie aus ihrem Haus und fährt sie durch den morgendlichen Verkehr bis hierher. Und genau hier hatte er sein eigenes Auto abgestellt«, fuhr er fort und deutete mit einer Geste an, dass der Wagen des Täters vermutlich auf der Beifahrerseite des Fiesta gestanden hatte. »Er hält also hier und wartet einen Augenblick, weil er sichergehen will, dass niemand in der Nähe ist. Dann steigt er aus und handelt schnell, aber nicht überhastet. Er weiß genau, was er tut. So schnell gerät dieser Bursche nicht in Panik. Er öffnet die Tür seines Pkws oder Vans und zerrt Russell aus dem Kofferraum, um sie in den Kofferraum seines Autos zu zwängen, falls es sich um eine Limousine handelt. Und weil er schon im Haus der Russells Chloroform benutzt hat, weiß er nicht, ob er jetzt ohne das Betäubungsmittel auskommt, also verabreicht er ihr wieder eine Dosis, ehe er versucht, sie ins Auto zu verfrachten. Aber er gibt ihr nicht zu viel, denn er will sie nicht ganz ausknocken, weil er dann einen bleischweren, schlaffen Körper schleppen müsste. Dafür ist er nicht kräftig genug. Wäre er von kräftiger Statur, würde er sich nicht so sehr auf Waffen und Drogen verlassen und die Frau einfach überwältigen. Als er sie endlich in seinem Wagen hat, schließt er den Ford ab und nimmt den Schlüssel mit. Er nimmt sich nicht die Zeit, irgendwelche Spuren zu verwischen oder nachzuschauen, ob er irgendwas vergessen hat, weil es ihm egal ist, ob wir Spuren finden. Er hat bekommen, was er wollte. Das, was ihm am Herzen liegt. Er hat sie in seiner Gewalt. Er macht die Heckklappe zu und fährt langsam los. Haben Sie schon überprüft, ob es hier Kameraüberwachung gibt?«, fiel Corrigan plötzlich ein.
»Leider nicht«, antwortete Donnelly.
»Dann hat er das gewusst«, sagte Corrigan mit Nachdruck. »Er plant alles minutiös. Bei ihm geschieht nichts zufällig. Lassen Sie nachsehen, ob am Zufahrtsweg Kameras installiert sind. Wahrscheinlich finden Sie keine, aber überprüfen Sie es trotzdem.«
»Wird gemacht«, versprach Donnelly.
Vorsichtig schloss Corrigan die Heckklappe. Dann wanderte sein Blick zu dem Waldstück, denn auch der Verdächtige hätte sich auf diese Weise umgeschaut, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn beobachtete, ehe er sein Opfer von dem einem Auto in das andere verfrachtet hatte. Nach wie vor hatte Corrigan bei dem Täter kein Gesicht vor Augen, doch er hatte das Gefühl, dass er den Mann sofort erkennen würde, wenn er ihm über den Weg lief. Ja, er war davon überzeugt, den Unbekannten sogar in einer Menschenmenge zu erkennen – er wusste selbst nicht, woher er diese Überzeugung nahm.
Jedenfalls hatte er jetzt die weitere Vorgehensweise deutlich vor Augen: Er würde alle bisherigen Spuren und Erkenntnisse so lange auf sich wirken lassen, bis ihn die dunkle Seite in ihm auf die Fährte dieses Irrsinnigen führte.
Corrigan schauderte.
Jetzt, im Vorfrühling, sahen die Bäume noch winterlich verschlafen aus. Corrigan fröstelte leicht, denn er hatte mit einem Mal das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Ganz so, als würde ihm eine geisterhafte Gestalt bis auf den Grund der Seele schauen … eine Erscheinung, der er eines Tages Auge in Auge gegenüberstehen würde.
»Ich habe wirklich kein gutes Gefühl bei diesem Fall«, sagte er leise zu Donnelly. »Ich glaube, das geht böse aus.« Unwillkürlich rieb er sich die Schläfe und versuchte, den Druck in seinem Schädel loszuwerden, bevor der ziehende Schmerz sich zu einer Migräne auswuchs. »Sie bleiben hier«, sagte er. »Ich muss zurück aufs Revier und versuchen, mir ein Bild von allem zu machen. Es könnte sein, dass bald gewisse Leute ihre Nase in unsere Angelegenheit stecken. Da sollten wir ein paar Antworten parat haben. Wenn Roddis eintrifft, überlassen Sie ihm den Wagen und fahren zurück nach Peckham. Dienstberatung.«
»Ich komme, sobald ich kann«, antwortete Donnelly.
Doch Corrigan hörte ihn schon nicht mehr, denn er stieg bereits in seinen Wagen, ließ den Motor an und suchte gleichzeitig mit der anderen Hand nach der Handynummer von Superintendent Featherstone. Das Handy am Ohr, löste er die Handbremse und schnallte sich an. Er hatte es immer noch nicht geschafft, die Freisprechanlage für das Handy zu installieren. Wieder fluchte er leise, als sein Wagen auf dem Zufahrtsweg durchgeschüttelt wurde. Er merkte, dass er auf dem holperigen Boden viel zu schnell fuhr, was die Sache nicht gerade besser machte. Ungeduldig wartete er, dass Featherstone abnahm.
»Sir, ich bin’s, Corrigan.«
»Gibt’s Probleme?«, fragte Featherstone.
»Die Sache mit der vermissten Frau …«, begann Corrigan. »Ich fürchte, wir haben es tatsächlich mit einer Entführung zu tun.«
»Schon eine Idee, wer der oder die Entführer sein könnten?«
»Wer immer dahintersteckt – ich glaube nicht, dass die Frau ihn oder sie kannte.«
»Also ein Fremder. Oder mehrere«, sinnierte Featherstone. »Hört sich nicht gerade gut an.«
»Stimmt«, pflichtete Corrigan ihm bei, »hört sich gar nicht gut an.«
»Was kann ich konkret für Sie tun, Sean?«
»Kennen Sie einen Zeitungs- oder Fernsehjournalisten, der Ihnen einen Gefallen schuldet?«
»Schon möglich«, antwortete Featherstone vorsichtig.
»Ich möchte, dass die Londoner Bevölkerung noch heute Abend über den Fall informiert wird«, erklärte Corrigan. »Wir brauchen Hilfe. Der Täter hat die Frau am helllichten Tag entführt und auf einem öffentlichen Parkplatz von einem Auto in ein anderes verfrachtet. Könnte gut sein, dass jemand ihn gesehen hat.«
»Aber würde ein Aufruf an die Bevölkerung ihn nicht alarmieren?«, warf Featherstone ein. »Wir sollten ihn nicht in Zugzwang bringen. Ich möchte ihn nicht in die Ecke drängen, sodass er die Frau …«
»Ja, ich weiß«, gab Corrigan ihm recht und kam auf den Punkt. »Aber mir bleibt keine andere Wahl. Die Familie der Frau weiß bereits, was passiert ist. Und jetzt haben wir den Wagen gefunden, verlassen auf einem Parkplatz in einem Waldstück nahe Bromley. Wenn wir jetzt nicht sämtliche Hebel in Bewegung setzen, ist es vielleicht zu spät. Ich weiß, wie blöd es ist, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, aber uns bleibt keine Wahl.«
»Also gut«, willigte Featherstone widerstrebend ein. »Mal sehen, was sich machen lässt. Vielleicht kann ich mein Gesicht heute Abend ins Fernsehen bringen – aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Ich melde mich wieder.« Er legte auf, ehe Corrigan reagieren konnte.
Corrigan warf das Handy in die Mittelkonsole und konnte endlich mit beiden Händen das Lenkrad halten, zumal er inzwischen wieder auf ebener Straße fuhr.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sich bei Sally melden müsste. Mühsam suchte er unter »Kontakte« Sallys Nummer und wählte, während er durch immer dichteren Verkehr fuhr. Es ärgerte ihn, dass er nicht genügend Zeit hatte, um in Ruhe nachzudenken, ganz in den Fall einzutauchen und den Versuch zu machen, so zu denken wie sein unbekannter Gegner. Je eher er sich Zeit zum Nachdenken gönnte, desto eher würden sie den Mann fassen, der Louise Russells Wagen in der Nähe des Waldstücks abgestellt hatte.
Corrigan gab sich keinen Illusionen hin: Wenn es schlecht lief, würde der Entführer schon sehr bald Louises Leiche irgendwo abladen – genauso beiläufig, wie er das Auto hatte stehen lassen.
Es sei denn, Corrigan kam ihm zuvor. Deshalb musste der Unbekannte schnellstmöglich gefunden und aus dem Verkehr gezogen werden.
Auf welche Weise auch immer.
*
Sally schritt vor dem Haus der Russells auf und ab und tat so, als wartete sie auf Neuigkeiten der Kollegen, die von Tür zu Tür gingen und Zeugen befragten. Doch in Wahrheit brauchte sie dringend frische Luft. Sie hatte keine Lust mehr gehabt, auf dem Revier zu sitzen und die mitfühlenden oder argwöhnischen Blicke der anderen zu ertragen. Sally wusste, dass Corrigan versuchte, sie weitgehend aus den Ermittlungen herauszuhalten. Das war seine Art, sie zu schützen. Aber dadurch fühlte sie sich auch nicht viel besser.
Kurze Zeit später sah sie, dass Detective Constable Paulo Zukov ihr auf dem Gehweg entgegenkam. »Alles in Ordnung, Sergeant?«, fragte Zukov auf seine gewohnt durchtrieben-vergnügte Art.
»Sie tragen im Augenblick keine Uniform«, erwiderte Sally. »Wollen Sie dann nicht Sally zu mir sagen?«
»Sollte respektvoll klingen«, zog er sie auf. »Aber jetzt mal im Ernst, wie geht es Ihnen?«
»Hören Sie auf mit Ihrer Rücksichtnahme. Das passt nicht zu Ihnen.«
Der Vorwurf perlte an Zukov ab. Er war zwar erst seit sechs Jahren Polizist, hatte aber schon genug gesehen, um sich ein dickes Fell zuzulegen. »Hart, aber fair«, erwiderte er mit einem Grinsen. Offenbar machte es ihm Spaß, dass Sally einen erfahrenen, zynischen Detective in ihm sah, obwohl er noch jung war und auf eine verhältnismäßig kurze Dienstzeit zurückblickte.
»Sind Sie schon fertig mit den Zeugenbefragungen hier im Viertel?«, erkundigte sie sich.
»Nicht ganz. Aber es war ohnehin nichts Interessantes dabei, und ich glaube auch nicht, dass da noch viel kommt. Zeugenbefragungen von Haus zu Haus … wenn Sie mich fragen, reine Zeitverschwendung.«
Sally spürte, dass ihr Handy summte, schaute aufs Display und nahm den Anruf entgegen. »Ja, Chef?«
»Wir haben Russells Auto gefunden.«
»Irgendwelche Hinweise, wo sie stecken könnte?« Eine überflüssige Frage. Sally wusste, dass Corrigan es ihr sofort gesagt hätte, wenn sie einen entscheidenden Schritt weiter wären.
»Nein, nichts«, lautete die Antwort. »Offiziell heißt es, sie wurde entführt. Ich bin jedenfalls davon überzeugt.«
»Wie gehen wir weiter vor?«
»Mit so viel Medienunterstützung wie möglich. Dazu Verkehrskontrollen und die Überprüfung weiterer Wohnviertel. Und natürlich hoffen wir, dass die Forensiker uns was liefern. Wo sind Sie jetzt, Sally?«
»Ich schaue gerade bei den Kollegen vorbei, die Zeugen im Viertel befragen.«
»Da braucht Sie im Augenblick keiner. Fahren Sie zurück nach Peckham. Bin auch gleich da.«
»Okay«, konnte Sally gerade noch sagen, als Corrigan bereits auflegte. Sie merkte, dass Zukov sie ansah.
»Probleme?«, fragte er.
»Erzähle ich Ihnen ein andermal.« Sally spürte, wie eine unbestimmte Furcht ein Prickeln auf ihrer Haut auslöste. Sie kannte diese Angst. Es war, als würde sie ihr die Luft abschnüren und wie Blei auf der Seele lasten. »Ich muss zurück ins Büro.«
Die wenigen Schritte zum Auto kamen Sally wie Meilen vor, und die Wagentür ließ sich so schwer aufziehen wie eine Zugbrücke. Sie ließ sich auf den Fahrersitz sinken, tastete wie unter Zwang nach den Narben unter ihrer Bluse und merkte, dass ihr Atem stoßweise ging. Rasch griff sie nach der Laptop-Tasche, die sie bereits bei Louises Eltern dabeigehabt hatte, und suchte mit zitternden Händen nach den beiden kleinen Medikamentenpackungen. Der einen entnahm sie zwei Tramadol-Tabletten, der anderen eine Tablette mit sechshundert Milligramm Ibuprofen. Beide Medikamente schluckte sie trocken, ohne einen Schluck Wasser. Fürs Erste war sie froh, dass sie nicht heimlich eine Flasche Wodka im Handschuhfach deponiert hatte – daran gedacht hatte sie längst.
Sie lehnte den Kopf an die Kopfstütze, schloss die Augen und wartete darauf, dass die Medikamente endlich ihre Wirkung entfalteten – gegen den körperlichen Schmerz und gegen den Psychoterror in ihrem Kopf. Sie musste endlich die Erinnerungen an Sebastian Gibran loswerden, diesen Augenblick, als er sie aus nächster Nähe angestarrt und nur darauf gewartet hatte, dass sie starb. Sie sah wieder vor sich, wie Gibran ihr in einem exklusiven Londoner Restaurant gegenübersaß, wie er sie anlächelte, mit ihr flirtete. Und es hatte ihr sogar gefallen …
Rasch schlug sie die Augen auf, um das Bild nicht mehr ertragen zu müssen. Ihr Blick fiel auf die Äste eines noch kahlen Baumes, an dem das erste Grün des Frühlings zu erahnen war.
Unweigerlich dachte sie an Louise Russells Eltern, an dieses arglose alte Paar, das mit einem Schlag aus seiner kleinen heilen Welt herausgerissen worden war, aus seinem behaglichen Leben mit allabendlichen Seifenopern zur besten Sendezeit und gelegentlichen Kreuzfahrten zur Erholung. Nun hatte es die beiden in eine brutale, kalte Welt verschlagen, die sie sonst nur aus den Nachrichten kannten.
Sally hoffte, dass Corrigan nicht auf den Gedanken verfallen war, die beiden alten Leute irgendwelchen sensationsgeilen Kameras auszusetzen, damit sie die tränenreiche Bitte liebevoller Eltern einfingen, die keinen größeren Wunsch hatten, als dass ihr Kind gesund zu ihnen zurückkehrte. Doch Sally befürchtete, dass ihr Chef den Grahams genau das zumuten würde.
Als sie diesen Gedanken abschüttelte, blitzten andere, noch viel unwillkommenere Bilder in ihrem Bewusstsein auf. Wo war Louise im Augenblick? War sie gezwungen, dem Mann in die Augen zu schauen, der sie entführt hatte? Dem Mann, der ihr etwas antun würde? Auch Sally hatte Gibran in die Augen schauen müssen. Ob auch Louise schlecht vor Angst war? Fühlte sie sich genauso schwach, verletzlich und hilflos wie Sally damals? Fühlte sie sich zum Opfer degradiert?
Ein Opfer. Sally hatte sich nie bewusst gemacht, wie sehr sie sich vor dem Gedanken fürchtete, ein Opfer zu sein. Bis es dazu gekommen war. All das Selbstvertrauen, das sie sich als Cop zugelegt hatte, war von jetzt auf gleich von einem Mann weggewischt worden, der so irrsinnig war, dass selbst Corrigan Schwierigkeiten hatte, seine Beweggründe nachzuvollziehen.
Wieder spürte Sally, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Der innere Druck, sie zurückzuhalten, betäubte sie und benebelte ihre Sinne. Gleichzeitig überschlugen sich die Fragen in ihrem Kopf: War sie überhaupt imstande, wieder einem Killer gegenüberzustehen, jetzt, da jeder neue Fall sie viel persönlicher berührte als alles, was sie je zuvor erlebt hatte? Wäre sie in der Lage, Gewalttätern im Verhörraum gegenüberzusitzen? Oder würde sie fluchtartig den Raum verlassen? Konnte sie sich noch vorstellen, einen Verdächtigen bis in eine dunkle Gasse zu verfolgen, nachts und allein?
»Du Bastard«, flüsterte sie in die Leere des Autos. »Ich hoffe, du brennst in der Hölle.«
Als jemand von außen an die Scheibe der Fahrertür klopfte, stockte Sally für einen Moment der Atem. Aber es war nur Zukov.
Sie ließ die Scheibe herunter.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, als er den Ausdruck in ihren Augen bemerkte.
»Alles bestens«, erwiderte sie. »Bin nur ein bisschen groggy.«
Zukov bot ihr eine Zigarette aus seiner Packung an. »Wollen Sie eine?«
»Nein, danke. Hab aufgehört. Schon vergessen?« Das stimmte nicht ganz. Tatsache war, dass sie nach dem Überfall nicht mehr hatte rauchen können, weil man sie in ein künstliches Koma versetzt hatte. Später hatte sie über Wochen hinweg in einem Dämmerzustand gelegen und war immer wieder von dieser Welt in eine andere Sphäre abgeglitten, die bislang nur wenige Menschen gesehen hatten. Als sie dann aus eigener Kraft imstande war, die Strecke vom Krankenbett in den Garten des Hospitals zurückzulegen, schmeckten ihr keine Zigaretten mehr. Trotzdem machte sich die Sucht nach wie vor psychisch bemerkbar. Doch im Grunde war es der Schmerz in ihrer Brust, der sie davon abhielt, zur Zigarette zu greifen.
»Ich muss zurück aufs Revier«, sagte sie, kurbelte das Fenster hoch und ließ den Motor an. »Bis später.«
Sally fuhr los und ließ Zukov, der sich eine Zigarette in den Mundwinkel geschoben hatte, einfach stehen.
»War nett, mit Ihnen zu plaudern«, rief er ihr hinterher, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht mehr hören konnte. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit mit Donnelly über Sally zu sprechen. In ihrem Team konnten sie niemanden gebrauchen, der labil war. Das wirkte sich negativ auf die Teamfähigkeit aus. Zukov war zwar noch jung, hatte aber die alte Schule durchlaufen. Für ihn mussten die Kollegen verlässlich sein.
Besser, man gab vor, alles sei in Ordnung, auch wenn es nicht der Fall war. Sämtliche Probleme familiärer, gesundheitlicher und finanzieller Art sollten zu Hause bleiben. Auf der Arbeit durfte das kein Thema sein. Der Job verlangte einem alles ab. Falls Sally mit den Anforderungen nicht mehr klarkam, wurde es vielleicht Zeit für sie, sich versetzen zu lassen.
Zukov machte einen Zug an der Zigarette und fragte sich, ob man ihn befördern würde, wenn Sally sich anderweitig bewarb.
Eigentlich, sagte er sich, spricht nichts dagegen.
*
Louise Russell hockte in ihrem düsteren Käfig und blickte auf die saubere Wäsche, die sie inzwischen trug. Mochte die Kleidung auch gut riechen, Louise empfand trotzdem nichts als Abscheu. Denn das waren nicht ihre Sachen, und sosehr sie sich auch bemühte, sich zu beruhigen, kehrte sie doch immer wieder zu derselben Frage zurück: Wem gehörte diese Kleidung?
Sie schaute hinüber zum anderen Käfig, in dem sie Karen Greens Gestalt erahnen konnte. Die Worte ihrer Mitgefangenen fielen ihr wieder ein: Die ersten Tage hatte sie sich waschen dürfen, ehe auch sie saubere Wäsche bekommen hatte. Aber am Vorabend von Louises Entführung hatte Karen sich ausziehen müssen. Die falsche Zuneigung des Entführers wich Gewalt und Begierde – ohne Zweifel war es ein Ventil für seinen Frust. Stand nun ihr, Louise, das bevor, was Karen bereits durchgemacht hatte? Und falls ja, was würde dieser Irre dann mit Karen machen?
Ihr Selbsterhaltungstrieb zwang Louise zum Handeln.
»Karen«, flüsterte sie in die Stille des Verlieses, erhielt aber keine Antwort. »Karen.« Ein wenig lauter diesmal. »Wir müssen uns gegenseitig helfen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass jemand uns hier findet.« Noch immer keine Reaktion. »Ich glaube, er lässt die Tür auf«, versuchte Sally es weiter. »Wenn er zu uns kommt, lässt er jedes Mal die Tür auf. Den Eingang zu diesem Kellergewölbe oder was immer es ist.« Sie hörte, dass Karen sich bewegte. »Ich bin nicht deine Feindin«, fuhr Louise beschwörend fort. »Es mag so aussehen, aber genau das will dieser Verrückte erreichen. Das macht er mit Absicht, damit wir uns nicht verbünden.«
»Woher willst du das wissen?« Karens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Woher soll ich was wissen?«
»Dass er die Tür auflässt.«
»Weil ich beim letzten Mal oben Tageslicht gesehen habe. Ich habe gehört, wie er die Tür aufgemacht hat, und als er hier unten ankam, blieb das Licht. Wenn beim nächsten Mal eine von uns beiden ihren Käfig verlässt, muss die eine versuchen, die andere zu befreien. Gemeinsam könnten wir ihn überwältigen.«
»Und wie willst du an den Schlüssel kommen?«, fragte Karen. In ihrer Stimme spiegelte sich bereits die Angst vor den Konsequenzen – vor der Bestrafung, falls der Irre die Oberhand behielt.
»Wir müssen ihn überrumpeln«, sagte Louise. »Ich schlage ihm das Tablett ins Gesicht oder trete ihm zwischen die Beine. Wir müssen so lange auf diesen kranken Typen einschlagen, bis er sich auf dem stinkenden Boden windet. Dann nehmen wir ihm die Schlüssel ab, solange er benommen ist, und ich befreie dich aus dem Käfig – oder umgekehrt, je nachdem, wer draußen ist. Und dann schlagen wir den Dreckskerl tot.«
»Das klappt nie«, hielt Karen dagegen. »Wenn wir das versuchen, wird alles nur noch schlimmer. Er wird so wütend sein, dass er total ausrastet.«
»Was soll denn noch schlimmer werden?«, fragte Louise erregt.
»Wir könnten sterben.«
Louise schwieg eine Zeit lang. Dann versuchte sie erneut, zu ihrer Mitgefangenen vorzudringen. »Hast du Hunger?«, fragte sie. »Ich hab noch ein bisschen übrig. Vielleicht könnte ich es dir zuwerfen.«
»Nein!«, kam es entschieden von Karen. »Wenn er das sieht, gibt er mir die Schuld, und du weißt ja, was er dann mit mir macht. Hast es ja selbst gesehen.«
Wieder breitete sich Schweigen aus, bis Karen sich erneut zu Wort meldete. »Ich wollte eigentlich nach Australien. An dem Tag, als er mich entführt hat, meine ich. Ich hatte schon alles gepackt, alles war geregelt. Ein halbes Jahr wollte ich fort, vielleicht länger. Wahrscheinlich wäre ich ganz dageblieben. Aber dann kam dieser Irre und schleppte mich hierher. Verdammt, warum muss das ausgerechnet mir passieren!«
Louise wartete, bis Karens Schluchzen ein wenig nachließ, ehe sie fragte: »Bist du in einer Beziehung?«
»Nein.«
»Ich bin verheiratet. Mein Mann heißt John. Wir wollten Kinder haben. John … er wird es kaum fassen können. Wahrscheinlich macht er sich Vorwürfe. Ich vermisse ihn so. O Gott, mach, dass ich ihn wiedersehe.« Kummer und Verlustängste bestürmten sie. Doch sie wollte sich nicht unterkriegen lassen und drängte die Gedanken an John und ihr Zuhause zurück. »Karen, ich muss dich was fragen …«
»Und was?«
»Die Sachen, die ich anhabe … hat er die dir auch gegeben? Sind das die Sachen, die er dir abgenommen hat, bevor ich hierhergekommen bin?« Keine Antwort. »Bitte«, versuchte sie es noch einmal. »Ich muss es wissen.«
Louise wartete auf die Antwort und fürchtete sie zugleich.
»Ich weiß nicht genau, ob es meine Sachen sind«, sagte Karen schließlich. Es schien eine Lüge zu sein. »Sie sehen so aus, aber sicher bin ich mir nicht.«
»Es sind deine Sachen, nicht wahr?«, hakte Louise nach.
»Ja.« Karen hatte kurz die Stimme erhoben, ehe sie wieder in den Flüsterton verfiel. »Jetzt weißt du’s. Und jetzt weißt du auch, was dir blüht.«
Während Louise noch versuchte, die Tragweite der letzten Worte zu ermessen, starrte sie auf den anderen Käfig, in dem die bemitleidenswerte junge Frau kauerte, schmutzig, von Schlägen gezeichnet. Louise fröstelte, als sie sich bewusst machte, dass sein widerlicher Geruch auf Karens Haut haftete, dass sein Sperma in ihrem Körper war. Dazu durfte sie es nicht kommen lassen. Niemals!
Sie stellte sich Karen fernab von dieser Hölle vor, irgendwo in Australien. An einem Strand, glücklich, sonnengebräunt. Mit ihrem attraktiven Körper zog sie die Aufmerksamkeit der jungen Männer auf sich. Unbelastet von Sorgen, jung und voller Lebenslust genoss sie die Freuden des Nichtstuns. Das Abenteuer ihres Lebens.
Die Bilder lösten Zufriedenheit in Louise aus, der jedoch tiefe Traurigkeit folgte, als sie vor Augen hatte, wie sie zu Hause in der Küche stand und etwas kochte, während John zu helfen versuchte, im Grunde aber nur im Weg stand. Sie selbst war in ihrer kleinen Welt zufrieden und konnte es gar nicht abwarten, schwanger zu werden. Dann könnte sie Babysachen kaufen, im Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit …
Louise schloss die Augen und schwor sich, alle Schöne und Gute im Leben nie mehr für selbstverständlich zu nehmen, falls sie das hier überlebte.
Karen sagte in die Stille hinein: »Wenn er dir die Sachen wegnimmt und genauso über dich herfällt wie über mich, bietet er dir vielleicht Betäubungsmittel an. Nimm sie, das macht es leichter. Dann spürst du kaum was.« Sie legte sich der Länge nach auf den Boden ihres Käfigs und drehte Louise den Rücken zu.
Louise schwieg und versuchte, in der Stille und Dunkelheit mit ihren Ängsten fertig zu werden. Die Gedanken an glücklichere Tage verflüchtigten sich angesichts der Schrecken, die vermutlich noch auf sie warteten.
*
Corrigan ging in seinem Büro auf und ab und hörte sich an, was Donnelly ihm zum Stand der Ermittlungen zu sagen hatte. Roddis’ Team hatte das Auto von Louise Russell und den Parkplatz nach Hinweisen abgesucht, bislang jedoch ohne Erfolg. Anschließend hatte man den Ford versiegelt und mit einem Abschleppwagen in die forensische Abteilung in Charlton gebracht. Dort würden die Experten den Wagen von innen und außen unter die Lupe nehmen. Sämtliche Spuren wurden einzeln eingetütet und beschriftet, ehe man sie an private forensische Speziallabore schickte. Die Zeiten waren vorbei, dass das gesamte Material an das Polizeilabor in Lambeth ging, das seit einiger Zeit keine Fördermittel mehr bekam. Wieder so eine geniale Entscheidung der Regierung: Hochempfindliche Proben überließ man kommerziellen Unternehmen, nur um ein paar Pfund im Etat zu sparen.
Aus den Augenwinkeln nahm Corrigan eine Bewegung im großen Büroraum nebenan wahr: Sally war gekommen und ging zu ihrem Schreibtisch. Corrigan fing ihren Blick ein und bedeutete ihr, kurz zu ihm ins Büro zu kommen. Sie stellte ihre Laptoptasche auf den Stuhl und machte sich auf den Weg, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick. Wieder einmal wurde Corrigan bewusst, wie sehr er die alte Sally vermisste.
Sie kam ins Büro und nahm grußlos Platz. »Gibt’s was Neues?«, wollte sie wissen.
»Nicht allzu viel«, erwiderte Corrigan. »Wir sind jetzt seit vierundzwanzig Stunden an dem Fall dran. Der Mann hat sie am helllichten Tag entführt, in ihrem Auto. Er hatte alles minutiös geplant. Ich wette, er hat zuerst ihr Haus beobachtet, um sicherzugehen, dass er nicht gesehen wird.«
»Also ist er schon vorher in der Nähe des Hauses gewesen«, sagte Donnelly.
»Ja, aber wann?«, sinnierte Corrigan. »Sally, sagen Sie den Kollegen, die in dem Viertel von Tür zu Tür gehen, sie sollen die Nachbarn fragen, ob in letzter Zeit Fremde in der Straße gesehen wurden.« Er sah, dass sie etwas in ihr Notizbuch kritzelte.
»Sonst noch was?«, fragte sie dann. »Irgendwelche Erkenntnisse?«
»Nein«, antwortete Corrigan, wobei das nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Abgesehen davon, dass ich immer noch glaube, dass der Täter aus der Gegend stammt. Wahrscheinlich lebt er allein in einem größeren Haus oder an irgendeinem Ort, wo er sich abschotten kann. Ich vermute, er braucht Platz und will für sich sein.«
»Um was zu tun?«, fragte Sally.
»Das weiß ich noch nicht. Deshalb müssen wir herausfinden, warum er die Frauen entführt. Wenn wir das wissen, sind wir schon viel näher an ihm dran.«
»Die Frauen entführt?« Sally blickte ihn mit großen Augen an.
»Habe ich das gesagt? Nein, ich sprach von Louise«, log Corrigan.
»Nein, Sie sagten die Frauen.« Sally blieb hartnäckig. »Sie vermuten, es sind noch mehr Frauen verschwunden?«
»Nur wenn es uns nicht gelingt, ihn aufzuhalten«, erwiderte Corrigan.
»Aber wir müssen in Betracht ziehen, dass das hier ein Einzelfall ist«, sagte Donnelly. »Dass Louise Russell dem Entführer etwas bedeutete, aus welchen Gründen auch immer. Sie ist etwas Besonderes für ihn, sonst hätte er sie nicht entführt.«
»Sicher war sie etwas Besonderes«, pflichtete Corrigan ihm bei, »aber nicht, weil es da eine Beziehung gab. Sie war eine Fremde für ihn, und er war fremd für sie. Aber er hat sie bewusst ausgewählt. Vielleicht ging er nach dem Äußeren. Oder es war das Haus, in dem sie wohnt. Ich weiß es nicht. Aber was immer er in Louise gesehen hat, er wird es auch in anderen Frauen sehen. Wenn wir ihn nicht finden, wird es weitere Entführungen geben.«
»Bei ihr wurde nicht eingebrochen«, hob Sally hervor. »Also wusste sie vielleicht doch, wer vor der Tür stand.«
»Sie war jung und kräftig und in ihrem eigenen Haus. Warum sollte sie Angst haben, wenn jemand klingelt? Machen Sie nur Leuten die Tür auf, die Sie kennen?« Kaum war die letzte Bemerkung heraus, bereute Corrigan sie auch schon. Sally hielt seinem Blick stand, doch Corrigan meinte, einen anklagenden Ausdruck in ihren Augen zu sehen. Beinahe hätte er sich entschuldigt, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Rasch griff er nach dem Hörer. »Detective Inspector Corrigan.«
»Andy Roddis hier«, sagte der Chef der Spurensicherung. »Ich fürchte, es gibt schlechte Nachrichten. Wir sind die Kartei durchgegangen. Keine Übereinstimmungen mit den Fingerabdrücken im Haus der Russells.«
»Verdammt!«, fluchte Corrigan. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht«, sagte Roddis.
»Was ist mit dem Auto? Gibt es da irgendetwas?«
»Ist noch zu früh, um Genaues sagen zu können, aber ich rechne damit, dass wir seine Fingerabdrücke finden. Das wird uns zwar nicht weiterbringen, solange wir ihn nicht haben, aber sobald wir ihn fassen, helfen uns die Abdrücke, ihn festzunageln.«
»Danke, Andy. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er legte auf und wandte sich an die Kollegen. »Seine Fingerabdrücke sind nicht in unseren Dateien.« Sie alle wussten, was das bedeutete – der Mann, nach dem sie suchten, war offiziell nicht vorbestraft.
»Und ich war mir so sicher, dass der Mistkerl schon mal straffällig geworden ist, und wenn er nur ein Nacktflitzer auf dem Bromley Common gewesen wäre«, meinte Donnelly zerknirscht.
»Ja, Pech.« Corrigan nickte. »Aber es muss irgendetwas in seiner Vergangenheit geben. Mag sein, dass er noch keine Vorstrafen hat, aber Sie können sicher sein, dass er uns schon mal ins Netz gegangen ist. Dieser Typ ist irgendwo in unseren Akten, wir müssen nur lange genug suchen. Überprüfen wir, ob es Leute in diesem Viertel gibt, die wegen kleinerer Sexualdelikte angeklagt waren, aber nie verurteilt wurden. Und suchen Sie nach Stalkern – aber nicht die, die es auf Promis abgesehen haben, sondern die unauffälligeren Typen. Unser Täter hat die Sache über einen längeren Zeitraum hinweg geplant, also könnte er jemandem aufgefallen sein.«
»Hört sich gut an«, meinte Donnelly. »Jetzt brauchen wir nur noch hundert weitere Detectives, und morgen Mittag haben wir ihn.«
»Schön wär’s«, sagte Corrigan. »Machen wir das Beste draus und nutzen wir die Mittel, die wir haben.«
Da es im größeren Bürotrakt unruhig geworden war, warf Corrigan einen Blick durch die Plexiglasscheibe, die sein Büro von den anderen Besprechungsräumen trennte. Featherstone bahnte sich einen Weg durch das Großraumbüro und blieb hier und da an den Schreibtischen stehen, um ein paar Worte mit den Kollegen zu wechseln.
»Achtung, Leute«, warnte Corrigan seine beiden Detectives, die Featherstone nicht kommen sahen. Sekunden später klopfte der Superintendent an den Türrahmen und trat ohne Aufforderung ein.
»Tag, Sir«, begrüßte Corrigan ihn. »Leider ein Rückschlag seit unserem letzten Gespräch.«
»Um was geht es?«
»Der Entführer, den wir suchen, hat offenbar keine Vorstrafen. Die Fingerabdrücke aus dem Haus der Russells ergeben jedenfalls keine Übereinstimmung mit unserer Verbrecherkartei.«
»Das kann man ja kaum glauben.« Featherstone hob die Brauen.
»Es ist die traurige Wahrheit. Und sollten wir DNA sicherstellen, wird uns das vorerst auch nicht weiterbringen.«
»Dann müssen wir uns eben die Hacken ablaufen und ihn mit den alten Methoden stellen«, sagte der Superintendent. »Auf uns wartet harte Arbeit, Leute.«
»Bei allem Respekt, Sir«, meldete Sally sich zu Wort, »auch die alten Methoden werden nicht reichen, wenn wir ihn schnell erwischen wollen.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, widersprach Featherstone sich selbst. »Deshalb habe ich ein kleines Medienspektakel arrangiert. ITV und BBC werden die Bevölkerung heute im Abendprogramm um Mithilfe bitten. An Sky bin ich noch dran, aber die Programmleiter wollen mehr Details, als wir im Augenblick preisgeben können.«
»Wie sieht es mit der Presse aus?«, fragte Corrigan.
»Die Zeitungen werden sich an die Nachrichten der großen Sender halten.« Featherstone blickte umständlich auf die Uhr. »Okay, um sechs muss ich bei Scotland Yard sein, um mit den Leuten vom Fernsehen zu sprechen. Sie melden sich, wenn Sie etwas wissen.« Er nickte den dreien zu und wandte sich zum Gehen.
»Gott bewahre uns vor den Vorgesetzten«, murmelte Donnelly, als Featherstone außer Hörweite war.
»Kommen Sie, der ist gar nicht so übel«, meinte Corrigan. »Hätte uns schlimmer treffen können.«
»Wenn Sie’s sagen, Chef«, erwiderte Donnelly. »Dann mach ich mich jetzt auf den Weg, um weiteren nutzlosen Zeugenaussagen hinterherzujagen, okay?« Was wohl so viel bedeutet, dass er in den nächsten Pub geht, dachte Corrigan. »Haben Sie Lust, mich zu begleiten, Sally?«
»Jetzt nicht«, erwiderte sie. »Ich muss noch einige Dinge erledigen und ein paar Anrufe machen.«
»Wie Sie meinen.« Donnelly wirkte ein wenig beleidigt. »Dann wünsche ich allseits Lebewohl«, scherzte er. »Wenn wir uns nachher nicht mehr sehen, bis morgen.« Mit diesen Worten streifte er durch den Bürotrakt, auf der Suche nach Kollegen, die ihm einen Drink spendieren würden.
»Er macht es richtig«, sagte Corrigan.
Sally hob den Blick. »Wieso?«
»Man soll sich ein bisschen Ruhe gönnen, solange man kann. Ich habe das Gefühl, dass es mit der Ruhe bald vorbei sein wird. Wenn bei der Sache erst einmal die Medien mitmischen, stehen wir im Rampenlicht.«
»Und das soll heißen, dass wir einfach nach Hause fahren und Louise Russell bis morgen vergessen sollen?«
»Natürlich nicht. Ich habe nur so ein Gefühl, dass die Sache morgen erst richtig ins Rollen kommt. Und dann hört es erst wieder auf, wenn der Fall abgeschlossen ist.«
»Sie vermuten, dass Louise längst tot ist, nicht wahr?«
Corrigan ließ sich auf seinen Stuhl sinken und erkannte, dass er auf diese Frage nicht vorbereitet war.
»Könnte sein«, sagte er zögerlich. »Hängt von seinem Zeitplan ab.«
»Was für ein Zeitplan?«
»Ist nur so eine Idee. Eine Theorie.«
»Eine Theorie?«, hakte Sally nach. Allmählich verlor sie die Geduld mit den Andeutungen.
»Er geht große Risiken ein. Was immer er mit den Frauen anstellt, er tut es nicht in ihren Wohnungen oder Häusern. Denn er braucht mehr Zeit. Und wenn er mehr Zeit braucht, liegt die Vermutung nahe, dass es eine Art … Fahrplan gibt. Ich vermute, er hat sich längere Zeit irgendwelchen Fantasien hingegeben, ehe er Louise entführt und zu einer lebendigen Fantasie aus Fleisch und Blut gemacht hat … eine Fantasie, die einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende haben wird. Und das alles benötigt eine zeitliche Abstimmung. Es könnte eine Woche sein oder ein Monat. Ich weiß es noch nicht.«
»Oder nur wenige Tage?«, fragte Sally.
»Könnte sein. Wir wissen es nicht, bis er Louise laufen lässt oder wir sie irgendwo finden.«
»Ihre Leiche, meinen Sie.«
»Auf diese Möglichkeit müssen wir gefasst sein.«
»Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit?«
»Sie wissen doch, wie das läuft.« Corrigan zuckte die Schultern, dann blickte er sie an. »Wenn Ihnen das alles noch zu viel ist, Sally, verstehe ich das. Wenn Sie diese Sache nicht zu sehr an sich herankommen lassen wollen, ist das kein Problem. Das kriege ich schon hin.«
»Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich.«
»Sie müssen mir nichts beweisen, Sally«, sagte er und meinte es auch so. Diesmal erwiderte sie nichts. »Fahren Sie nach Hause. Schlafen Sie sich aus. Ich rufe Sie an, wenn wir etwas Neues haben.«
Sally erhob sich langsam und hielt auf die Tür zu, drehte sich auf der Schwelle aber noch einmal um. »Eine Sache noch.«
»Nur zu«, sagte Corrigan.
»Ich möchte bei den Verhören dabei sein. Wenn wir ihn haben, will ich im Verhörzimmer sitzen.«
»Okay.« Den Gefallen würde Corrigan ihr tun, denn er ahnte, warum sie dabei sein wollte.
Sally nickte ihm zu und ließ ihn allein.
Corrigan schaute kurz nach, ob jemand sich seinem Büro näherte, dann griff er nach dem Telefonhörer und tippte eine Nummer ein. Nach dem fünften Klingeln wurde abgehoben.
»Hallo?«
»Dr. Canning, hier Sean Corrigan.«
»Ah, Inspector, was kann ich für Sie tun?«
»Im Augenblick nicht viel«, sagte er. »Es ist mehr eine Warnung vor etwas, das uns in den nächsten Tagen erwartet. Eine ziemlich ungewöhnliche Sache, die ein bisschen von der Norm abweicht.«
»Verstehe«, antwortete Canning. »Dinge, die ein wenig von der Norm abweichen, scheinen Ihre Spezialität zu sein.«
»Scheint so.«
»Also, womit habe ich in den nächsten Tagen zu rechnen?« Canning klang interessiert. »Was hat Ihnen die Kristallkugel verraten, Inspector?«
Corrigan nickte, als könnte Canning ihn sehen. »Möglicherweise werden wir irgendwo im Freien eine Leiche finden, vielleicht in einem Waldstück, wahrscheinlich im Wasser. Das Opfer dürfte eine Frau Ende zwanzig sein. Bei der Todesursache tippe ich auf Ersticken oder Strangulieren. Im Körper der Toten lassen sich vermutlich Spuren von Betäubungsmitteln nachweisen. Das wär’s für den Anfang«, schloss Corrigan. »Aber ich brauche Sie, damit Sie die Leiche vor Ort untersuchen.«
»Eine Menge Informationen, die Sie da auftischen, wenn man bedenkt, dass die Person vermutlich noch lebt«, sagte Canning. »So ist es doch, oder?«
»Ja«, gab Corrigan zu.
»Also gut«, sagte Canning. »Ich warte auf Ihren Anruf. Und danke für die Vorwarnung. In meinem Job bekommt man nicht so viele präzise Vorhersagen.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Also dann, bis zu dem glücklichen Ereignis«, scherzte Canning und legte auf.
Mit einem Mal bereute Corrigan, zum Hörer gegriffen zu haben. Natürlich war es von Vorteil, dass Canning nun informiert war und sich als Pathologe auf einen Außeneinsatz vorbereiten konnte. Vielleicht war er den entscheidenden Tick früher am Fundort der Leiche, denn im Freien war es immer besonders schwierig für Pathologen, genaue Aussagen zu machen, insbesondere, wenn der Täter die Leiche im Wasser liegen ließ. Aber Corrigan hatte das Gefühl, dass sie keine Tote im Wasser finden würden. Der Unbekannte hatte sich schon zuvor keine Mühe gemacht, Spuren zu verwischen. Warum sollte er dann unnötig Zeit vergeuden, wenn er sich der Leiche entledigte? Mutter Natur erwies den Toten keinen Respekt und zeigte sich aus Sicht der Spurensicherung wenig kooperativ.
Trotzdem wünschte Corrigan, er hätte den Pathologen nicht angerufen. Irgendwie hatte er das Gefühl, sich mitschuldig zu machen, ganz so, als hätte er Louises Schicksal soeben besiegelt.
Er schüttelte diesen Gedanken ab und vertiefte sich in den Stapel Berichte auf dem Schreibtisch.
*
Thomas Keller kam von der Arbeit nach Hause, immer noch aufgewühlt wegen des Zwischenfalls mit seinen Kollegen. Sein klappriger Ford kam auf dem unbefestigten Weg vor der Hütte zum Stehen, und der Frühlingstag wich der kalten, wolkenlosen Nacht. Keller ging im Augenblick so viel durch den Kopf, dass er beinahe vergaß, das Licht auszuschalten und die Autotür zu verriegeln. Umständlich suchte er nach dem Hausschlüssel. Er zitterte vor Verlangen, den Druck im Kopf und in der Lendengegend loszuwerden.
Als er das Haus betrat, nahm er sich nicht einmal die Zeit, das Licht anzumachen, sondern stolperte im Dunklen durch die unaufgeräumte Diele, vorbei an Kartons und Stapeln alter Zeitschriften, bis er sein Schlafzimmer erreichte. Seine Hast nahm erst ein Ende, als er die Schublade der Kommode ertastete, in der er seine speziellen Sachen aufbewahrte.
Er hielt inne, lauschte seinem pochenden Herzschlag in der Stille des Zimmers und atmete allmählich ruhiger, als er sich bewusst machte, dass er allein war. Erst dann riss er die Schublade auf und durchwühlte die Kleidung, bis er den Stapel Briefe fand, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Gern hätte er sich Zeit genommen, die geheimnisvollen Briefe so genießerisch auszupacken, wie er Sam ausziehen würde, wenn sie endlich zusammen waren, aber seine Erregung war so groß, dass er es nicht abwarten konnte. Ungeduldig riss er das Gummiband ab, sodass die Briefe auf das zerwühlte Bett flatterten. Wahllos griff er nach einem der Umschläge und strich mit einem Finger über die Anschrift auf der Vorderseite, als läse er Blindenschrift. Dann huschten seine Blicke von einem Umschlag zum anderen. Sämtliche Briefe wiesen dieselbe Anschrift auf: Louise Russell.
Bei den meisten handelte es sich um Rechnungen und Kreditkarteninformationen, doch einige waren persönlicher Art – aber für ihn waren sie alle kostbar. Denn sie brachten ihm Louise näher, verwoben sein Leben mit ihrem. Ja, diese Briefe waren der Beginn ihrer gemeinsamen Beziehung. Keller hatte Monate gebraucht, um diese Post zu horten, denn er hatte ihr nicht alle Briefe wegnehmen können; dann wäre sie bestimmt misstrauisch geworden. Es war ihm gelungen, sich immer nur auf einige wenige Briefe pro Monat zu beschränken, zumeist Schreiben, die sie nicht vermissen würde. Aber wie sehr hatte er sich überwinden müssen, nicht alle Briefe zu behalten, die nach persönlicher Korrespondenz aussahen! Wann immer er bei ihr sein wollte, widmete er sich den Briefen.
Er wusste, dass der Brief, den er jetzt in Händen hielt, von einer alten Freundin Louises stammte, die jetzt auf der anderen Seite der Welt lebte, an einem Ort, an dem die Post oft verloren ging – so hoffte Keller zumindest. Langsam zog er das Schreiben aus dem Umschlag und überflog die Belanglosigkeiten, die Entschuldigungen, nicht eher geschrieben zu haben, und die Anspielungen auf frühere Erlebnisse in der Jugend. Je mehr Zeilen er verschlang, desto erregter wurde er, desto stärker erfasste ihn ein unkontrollierbares Verlangen.
Neben dem Bett sank er auf die Knie, als wollte er beten, aber er führte die Hände nicht zusammen. Stattdessen hielt er den Brief in der Rechten, schob die linke Hand unter den Hosenbund und tastete nach seinem anschwellenden Glied. Als er sich berührte, stöhnte er auf. Lust überkam ihn. Fest umschloss er seinen Penis und begann sich zu massieren, zuerst langsam, dann immer schneller, heftiger, weil er keine richtige Erektion bekam. Doch je ungestümer er sich rieb, desto enttäuschender war das Ergebnis. Frustriert machte er sich bewusst, dass er keinen hochbekam, stattdessen wurde sein Glied immer schlaffer. Das berauschende Vorgefühl ekstatischer Lust verebbte.
Fluchend sprang er auf, holte ein zweites Bündel Briefe aus der Schublade, das ebenfalls von einem Gummiband gehalten wurde. Sein gehetzter Blick huschte von einem dritten zu einem vierten und fünften Bündel, ehe er sich den Briefen zuwandte, die er nun in Händen hielt. Kurz überprüfte er die Anschrift: Karen Green.
Die kleine Hure, dachte er, das ist ihre Schuld! Sie zerstörte alles mit ihren eifersüchtigen Lügen. Diese Nutte zwängte sich absichtlich zwischen ihn und Sam!
Aber inzwischen wusste er, wie er mit ihr umgehen musste. Er wusste, was er zu tun hatte. Wütend warf er die Briefe auf den Boden, riss sich die Postbotenkleidung vom Leib und wühlte sich durch Kleidungsstücke, die wahllos am Boden lagen. Endlich fand er seinen Trainingsanzug. Schnell schlüpfte er in die weite Jogginghose und stapfte in die Küche.
In einem kleinen Schrank unweit der Hintertür lagerten ein paar verbotene Dinge. Nach kurzem Überlegen nahm er den elektrischen Viehtreiber; er hatte ihn gefunden und repariert, als er die Hütte samt Hof für einen Spottpreis gekauft hatte. Andere Interessenten hatten einen Rückzieher gemacht, als sie von der düsteren Geschichte des Hofes erfuhren: Schlachthof und Tierquälerei.
Das Land, auf dem er jetzt wohnte, war genau das, wonach er sich immer schon gesehnt hatte. Dafür hatte er gespart und über Jahre hinweg immer ein wenig von seinem Geld beiseitegelegt, bis er endlich genug beisammen hatte, um Haus und Hof kaufen zu können. Sein neues Zuhause eignete sich für ein Leben mit Sam. Kurz nachdem er das Grundstück erworben hatte, begann er mit der Suche nach ihr, erkannte aber schnell, wie schwierig es war. Denn wer war Sam jetzt? Das war nicht so einfach zu sagen. Viele Jahre waren vergangen, und in dieser Zeit war ihr Geist vergiftet worden. Fast jede hätte Sam sein können.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, so lange zu suchen, bis er die Richtige fand. Es war ihm egal, wie viele Frauen versuchten, ihn wie einen Trottel dastehen zu lassen. Er wusste, wie er mit den Nutten umzugehen hatte, die ihn zum Narren hielten.
Nach einem letzten Blick auf die doppelläufige Schrotflinte, die einen Ehrenplatz in der Küche hatte, nahm er die Schlüssel für das Verlies vom Haken und schloss die Küchentür hinter sich. Als Nächstes stolperte er ins Bad und holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Schrank. Schnell fand er, wonach er suchte: eine Spritze und eine Ampulle Alfentanil, ein Narkosemittel. Er entfernte die Kappe von der Kanüle, drückte die Nadel ins Fläschchen und zog fünfzig Milliliter von dem Anästhetikum auf, ehe er es wieder sorgsam verschloss.
Da er jetzt alles hatte, was er brauchte, ging er ins Freie und überquerte den Hof. Die Spritze hatte er in der Hosentasche, den Viehtreiber hielt er in der Hand. Doch als er die Metalltür erreichte, verharrte er, denn er war nicht mehr hundertprozentig sicher, was er zu tun hatte. Mit einem Mal überforderte ihn die Tragweite seines Auftrags.
Dir bleibt keine andere Wahl, sagte er sich. Sie wird alles zerstören. Sie ist so gefährlich, dass du sie nicht ignorieren darfst.
Er wusste, dass er recht hatte. Und mit dieser Einsicht kehrten auch sein Wille und seine Tatkraft zurück. Schnell ließ er das Vorhängeschloss aufschnappen und öffnete die schwere Tür. Dann nahm er gleich zwei Stufen auf einmal und sprang förmlich in die Dunkelheit des Kellergewölbes. Normalerweise legte er große Vorsicht an den Tag, diesmal aber nicht, weil das Verlangen übermächtig wurde, dieses Miststück endlich loszuwerden.
Beide Frauen spürten, dass er diesmal in anderer Stimmung die Treppe herunterkam. Einen Moment lang glaubte Louise, irgendein Retter würde sie aus diesem unterirdischen Verlies befreien, doch als das grelle Licht der nackten Glühbirne das Gewölbe erleuchtete, erkannte sie, dass sie sich einmal mehr falschen Hoffnungen hingegeben hatte. Hastig versuchte sie, sich in den hinteren Bereich ihres Käfigs zurückzuziehen, wobei ihr Blick auf jeder seiner Bewegungen haftete, als wäre sie ein Schlangenbeschwörer, der den Kopf der Kobra nicht aus den Augen lässt. Voller Angst fiel ihr Blick auf den stabähnlichen Gegenstand, den der Irre in der Hand hielt.
Dann erkannte sie, dass er kein Interesse an ihr hatte. Ganz so, als würde sie nicht existieren.
Er war nur wegen Karen gekommen.
Im Schein der Lampe wirkten seine Augen gerötet, und seine Miene war ausdruckslos, als er zu Karens Käfig ging. Er richtete den Viehtreiber auf sie und sagte: »Es wird Zeit, dass du verschwindest.«
Karen wusste, was das bedeutete. Er würde sie nicht einfach freilassen, damit sie allen erzählen könnte, was er ihr angetan hatte. Sie würde weder Freunde noch Familienangehörige freudig in die Arme schließen können …
»Nein«, flehte sie, »bitte, lass mich bleiben. Ich werde ganz lieb sein, ja? Ich tue alles, was du willst. Ich mache dich glücklich … so glücklich wie am ersten Tag, als du mich hergebracht hast. Weißt du noch?«
»Hör auf, so mit mir zu reden.« Seine Stimme klang fest und kalt, vollkommen emotionslos. Karen bedeutete ihm nichts mehr. Sie war nur noch ein Problem, das er aus der Welt schaffen musste.
»Bitte, tu das nicht, ich flehe dich an«, rief Karen, doch ihre Stimme ging in Tränen und Schluchzern unter. Ein Ausdruck des Entsetzens grub sich in ihr verzerrtes Gesicht.
Zielstrebig öffnete er die Luke seitlich am Käfig. »Steck deinen Arm hier durch«, befahl er. »Steck den Arm durch die Luke, und dir passiert nichts. Tu, was ich sage.«
»Ich … kann nicht«, stammelte sie. »O Gott, ich kann nicht …«
»Tu, was ich sage, bevor ich wütend werde!«, rief er und verspannte sich am ganzen Körper, als Zorn und Abscheu wieder von ihm Besitz ergriffen. »Wenn du mich wütend machst, kriegst du mit dem Ding hier eins verpasst – so lange, bis du gehorchst.« Er drohte ihr mit dem Viehtreiber, auch wenn er bezweifelte, dass sie ahnte, was er da in der Hand hielt.
»Ich will dich ja gar nicht wütend machen«, jammerte Karen, »aber bitte, erspar mir das mit dem Arm …«
»Verflucht sollst du sein!«, spie er hervor, dass beide Frauen vor Angst zusammenzuckten. »Zur Hölle mit dir! Tu jetzt endlich, was ich sage!« Ohne Vorwarnung steckte er den Viehtreiber durch die Öffnung und rammte ihn in Karens Rippenbogen. Schaurig hallten ihre Schreie von den Wänden des Gewölbes wider; dann sank sie kraftlos auf die Seite und lag zuckend da, mit dem Rücken zu ihm, während sie sich den Bauch hielt.
Ein boshaftes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, und seine Augen weiteten sich. Wieder stieß er sie mit dem Viehtreiber, das Gesicht zur Fratze verzerrt. Der zweite Schrei war nicht mehr so schrill und ohrenbetäubend wie der erste, doch der Schmerz im Rückgrat war so stark, dass Karen sich unnatürlich verdrehte und nach Luft rang.
Louise verfolgte die Tortur voller Entsetzen von ihrem Käfig aus. »Lass sie in Ruhe!«, schrie sie. »Du verdammter Feigling, lass Karen in Ruhe!«
Er ignorierte sie, als existiere sie gar nicht. »Steck den Arm durch die Öffnung«, wiederholte er seine Aufforderung, ruhiger als zuvor. Stille beherrschte das Gewölbe. Schließlich regte sich Karen, kam mühsam auf alle viere und kroch die wenigen Schritte zur anderen Seite des Käfigs. Ihre Finger krallten sich um die Gitterstäbe, als sie sich langsam, leise wimmernd zur Öffnung hochzog.
»Gut so«, sagte er, zog die Spritze aus der Tasche und warf den Viehtreiber zur Seite. Er löste die Kappe von der Nadel und packte Karens Arm. »Stillhalten«, befahl er, während er nach der Vene suchte.
Es war schwieriger, als er dachte. Jetzt bedauerte er, dass er nichts zum Abbinden mitgenommen hatte, damit sich das Blut besser in den Venen staute. Mit einem missbilligenden Laut auf den Lippen drückte er ihr die Kanüle in den Arm, war aber sicher, keine Vene getroffen zu haben, und zog die Nadel rücksichtslos wieder heraus. Sofort drückte er sie ein zweites Mal in Karens Armbeuge. Sie wand sich vor Schmerzen.
»Halt still, verdammt!«, zischte er dicht vor ihrem Gesicht, erkannte dann aber, dass er wieder nicht richtig getroffen hatte. Ihm brach der Schweiß aus. Wieder riss er die Nadel heraus, nur um sie gleich darauf an anderer Stelle neu anzusetzen. Schließlich seufzte er zufrieden, als er sah, dass die Spitze der Kanüle ein Blutgefäß getroffen hatte. Doch er spritzte das Alfentanil zu schnell. Karens Blut schien zu Eis zu gefrieren, als das Medikament seine Wirkung entfaltete und allmählich die Atmung und Muskelspannung beeinflusste. In ihrem Kopf drehte sich alles, als wäre sie betrunken.
Er zog die Kanüle heraus, ließ Karens Arm los und beobachtete, wie die junge Frau zu Boden glitt. Sie war noch bei Bewusstsein, aber vollkommen wehrlos.
Wie ein Raubtier, das seine angeschlagene Beute beäugt, hob er den Viehtreiber auf, deaktivierte ihn und rammte seinem Opfer den Stab mehrmals in den Rücken. Karen stöhnte jedes Mal auf, versuchte aber nur halbherzig, seine Attacken abzuwehren. Mit schiefem Grinsen trat er an die Tür des Käfigs, machte das Schloss auf und stieg ins Innere.
Einen Augenblick lang beugte er sich über Karen, blieb aber wachsam, weil er nicht sicher war, ob sie noch eine Bedrohung für ihn darstellte. Mehrmals stieß er sie mit dem Viehtreiber an, um auf Nummer sicher zu gehen. Erst dann warf er das Gerät zur Seite, krallte eine Hand in Karens Haar, legte ihr die andere unters Kinn und schleifte sie über den Käfigboden. Mühsam zwängte er sich durch die Tür und zerrte Karen, die vor Schmerz schrie, hinter sich her.
Unterdessen hatte Louise sich so klein gemacht, wie sie nur konnte, kniff die Augen zusammen und hielt sich beide Ohren zu.
»Steh auf«, befahl er Karen, zuerst leise, dann lauter. »Steh auf!« Er wusste, dass er es nicht schaffen würde, sie bis ganz nach oben ins Freie zu schleifen. Schon das kurze Stück bis hierher hatte ihn fast ausgelaugt. »Steh endlich auf!«
Karen wollte etwas sagen, brachte aber nur unverständliche Laute hervor, denn das Narkosemittel benebelte ihre Sinne und machte ihre Zunge schwer.
Sein Zorn verlieh Keller neue Kraft. Er ging neben Karen in die Hocke, legte ihr einen Arm um die Schultern, hob sie ein wenig an und versuchte, sie mit dem Fuß Stück für Stück vorwärtszuschieben. Die Adern an seinem Hals traten bläulich hervor. Als Karen schläfrig und zitternd auf die Beine kam, stieß er sie an und brachte sie dazu, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mühelos konnte er die Richtung vorgeben, da Karen in der leichten Narkose gar nicht wusste, wo sie war und was mit ihr geschah.
»Kann ich jetzt nach Hause?«, brachte sie mit lallender Stimme hervor. Ihr Blick war verschwommen, während sie versuchte, sich auf die Gestalt zu konzentrieren, die sie von diesem Ort wegbringen würde.
»Ja«, log er, »du musst nur weitergehen. Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
Louise hatte inzwischen wieder die Augen geöffnet und verfolgte das Geschehen, das sich unweit ihres Käfigs abspielte. »Lass sie in Ruhe«, rief sie, als sie Kellers leere Versprechungen hörte. »Tu ihr nicht weh. Sie könnte der Polizei sowieso nichts erzählen. Sie weiß ja nicht mal, wo wir sind.«
»Nein«, entgegnete er. »Das kann ich nicht machen. Sie ist zu gefährlich. Sie würde alles ruinieren, was uns wichtig ist. Das darf ich nicht zulassen.«
Er drängte sie weiter zur Treppe. Karen gehorchte ihm Schritt für Schritt. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis beide den oberen Treppenabsatz erreichten. Eine nahezu betäubte Frau aus dem unterirdischen Gewölbe zu holen war letzten Endes doch schwieriger, als Keller gedacht hätte.
Als er ins Freie trat, lehnte er Karen kurz an die Wand und schlug die schwere Tür zu. Schnell brachte er das Schloss wieder an und lauschte. Louises Schreie aus den Tiefen des Gewölbes waren kaum mehr zu hören. Vielleicht bildete er sich diese Geräusche ohnehin nur ein.
»Wohin bringst du mich?«, fragte Karen mit schleppender Stimme.
»Das hab ich dir doch schon gesagt«, antwortete er gespielt freundlich. »Ich bringe dich nach Hause.«
Mit diesen Worten umfasste er ihren Oberarm und zerrte sie mit sich über den Hof. Mehrmals musste er stehen bleiben, um ihr aufzuhelfen, da sie über verstreut liegende Hindernisse stolperte, die sie in der Dunkelheit oder aufgrund der Betäubung nicht richtig sehen konnte. Nach dem kurzen, aber beschwerlichen Weg gelangten sie zu seinem Ford. Rasch hatte er die Kofferraumklappe geöffnet und setzte Karen auf die Kante, ehe er ihr einen Schubs gab, sodass sie rücklings in den Kofferraum fiel. Sofort hob er ihre Beine an und drückte sie in den engen Raum. Die Finger ihrer rechten Hand tasteten nach dem Rand des Kofferraums, da sie Gefahr witterte.
»Was … was geht hier vor?«, fragte sie verwirrt.
»Halt’s Maul«, zischte er und schlug ihr hart auf die Hand. Dann knallte er den Kofferraumdeckel zu.
Als er auf den Fahrersitz sprang, schlug sein Herz so schnell, dass er befürchtete, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Aber was er vorhatte, musste getan werden. Einen Moment verschnaufte er, zwang sich, regelmäßig zu atmen, und versuchte sich zu beruhigen. Schließlich konzentrierte er sich auf die bevorstehende Aufgabe und ging im Kopf die Strecke durch, die er sich zurechtgelegt hatte, um einen bestimmten Ort zu erreichen.
Stück für Stück vergegenwärtigte er sich seinen Plan: Er würde sie aus dem Auto heben, in das Waldstück bringen und sich ihrer entledigen. Sie gewissermaßen entsorgen.
Damit hätte er seinen Irrtum wiedergutgemacht.
*
John Russell saß allein in der Küche und dachte daran, dass er und Louise immer davon geträumt hatten, in diesem Haus die gemeinsamen Kinder großzuziehen. Desillusioniert trank er seinen Whisky und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, erinnerte er sich doch daran, wie erleichtert er gewesen war, als die Polizei ihm versicherte, Louise sei bestimmt nicht mit einem anderen Mann durchgebrannt.
Detective Constable Fiona Cahill betrat die Küche und riss John aus seinem Kummer.
»Alles klar bei Ihnen?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
Russell schaute von seinem Whiskyglas auf und blickte der großen, hübschen Frau in die Augen, die in seiner Küche vor ihm stand. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihr braunes Haar trug sie kurz, und ihre wachen grünen Augen musterten ihn. »Was machen Sie hier?«, antwortete er auf ihre Frage.
»Ich bin Ihre Ansprechpartnerin in Ihrer derzeitigen Situation, schon vergessen? Also bin ich sozusagen Ihr Aufpasser, bis wir einen genaueren Überblick haben.« John ging nicht darauf ein. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, falls Sie etwas brauchen«, fuhr Cahill fort. »Ich beantworte Ihnen gern alle Fragen, die Sie mir bezüglich unseres weiteren Vorgehens stellen möchten, okay? Ich weiß, das ist im Augenblick alles ein bisschen viel für Sie, und ich verstehe Ihre Sorgen und Ängste.« Sie sah die Furcht in seinem Blick. »Es ist mein Job, Ihnen in dieser schweren Zeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, soweit es mir möglich ist.«
»Warum brauche ich einen Betreuer der Polizei?«, fragte er tonlos. »Wird man nicht immer dann psychologisch betreut, wenn Angehörige einem Mord zum Opfer fallen?«
Cahill versuchte, den Blickkontakt beizubehalten. »Nicht unbedingt«, versicherte sie ihm. »Es gibt keine festen Regeln. Wir schicken oft Betreuer in Familien, wenn es zu Entführungen gekommen ist.«
»Aber Sie rechnen nicht mit einer Lösegeldforderung, oder?«, fragte er. Sein Blick wurde immer stumpfer, lebloser.
Unwillkürlich dachte Cahill an ihre ersten Jahre als Polizistin zurück. Damals hatte sie einen Messerstecher gestellt und in so eisernem Griff gehalten, dass er keine Luft mehr bekommen hatte und erstickt war. Sie schob diese Bilder beiseite.
»Nein«, lautete ihre aufrichtige Antwort. »Wir rechnen nicht mit einer Lösegeldforderung. Dazu wäre es längst gekommen, wenn es dem Entführer nur ums Geld ginge.«
»Aber was ist jetzt?«, stieß Russell gereizt hervor. »Das ergibt doch alles keinen Sinn. Wer sollte meine Frau entführen? Und warum?«
»Ich fürchte, viele Leute, mit denen wir zu tun haben, verhalten sich nicht so, wie wir es erwarten. Aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Cahill suchte nach aufmunternden Worten. »Wenn einer sie findet, dann Detective Inspector Corrigan. Der Fall ist bei ihm in besten Händen, glauben Sie mir. Wir müssen nur alle auf das Beste hoffen und zuversichtlich bleiben.«
»Und was ändert das? Es ist doch vollkommen egal, ob ich zuversichtlich bleibe oder vom Schlimmsten ausgehe. Das ist wie mit Krebs. Einige Leute meinen, sie könnten ihn besiegen, und ein halbes Jahr später sind sie tot, während andere sich sofort nach der Diagnose mit der Krankheit abfinden, aber neunzig werden. Es ist egal, was wir denken, alles ist längst vorherbestimmt.«
Cahill wusste, dass er letztlich recht hatte, aber aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung wollte sie sich nicht damit abfinden. »Möchten Sie etwas essen?«
»Nein, danke, ich habe keinen Hunger.« Cahill sah, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, die ihm wie kleine Rinnsale über die Wangen liefen. »Ich möchte einfach nur, dass Louise zu mir zurückkommt, verstehen Sie? Mehr will ich gar nicht. Ich will sie wiederhaben. Ist mir egal, was ihr widerfahren ist, und es ist mir auch gleich, was mit dem Mistkerl geschieht, der sie entführt hat. Ich will nur, dass sie zurückkommt.«
*
Thomas Keller nahm die einspurige Straße, die zum Three Halfpenny Wood in Spring Park bei Addington führte, ein paar Meilen südlich von London. Die Scheinwerfer hatte er ausgeschaltet und suchte nach der Stelle, die er sich Wochen zuvor ausgeguckt hatte. An jenem Tag aber war es noch hell gewesen; nun aber war es dunkel, und es regnete, deshalb war die Suche schwieriger, als Keller erwartet hatte. Außerdem gab es auf dieser Strecke keine Straßenlaternen mehr.
Bald fuhr er Schritttempo und spähte durch die Windschutzscheibe, weil er die große markante Eiche suchte, die er sich vor Wochen eingeprägt hatte. Endlich tauchte der gewaltige Baum am Wegesrand auf: Das schwarze Geäst bewegte sich im Wind, der über die Wipfel der anderen Bäume strich. Erleichtert kuppelte Keller aus und ließ den Wagen ausrollen, ohne auf die Bremse zu treten. Dann stellte er den Motor ab, öffnete die Fahrertür und trat hinaus in den Nieselregen, der ihm ins Gesicht sprühte. Die Kälte im Freien weckte seine Sinne, sodass er sich lebendiger fühlte denn je.
Einen Moment lang stand er neben dem Wagen, wachsam wie die Geschöpfe der Nacht, die im Wald lauerten und ihn beobachteten. Er lauschte in die Dunkelheit und ließ den Blick schweifen. Mit allen Sinnen versuchte er zu ergründen, ob mit dem rauschenden Wind verräterische Laute herüberwehten. Als er sicher war, dass er allein am Waldrand stand, ging er zum Kofferraum, atmete tief die kalte Luft ein und schob sich die Kapuze seines Jogginganzugs über den Kopf, ehe er die Kofferraumklappe öffnete. Sein Blick fiel auf die zu Tode verängstigte Frau, die sich in dem beengten Raum so klein wie möglich machte.
Keller packte sie am Handgelenk und versuchte, sie aus dem Kofferraum zu zerren. Aber er war nicht kräftig genug, um sein schwerfälliges, halb narkotisiertes Opfer herauszuziehen. »Komm da raus!«, befahl er mit lauter Stimme. »Es ist Zeit, dass du gehst.«
»Nein, bitte …«, bettelte Karen. »Ich will nicht.«
»Ich lasse dich frei«, log er. »Aber dafür musst du aus dem Kofferraum steigen.«
»Ich glaube dir nicht. Ich glaube dir kein Wort.«
Keller spürte Panik in sich aufsteigen. Jemand könnte ihn sehen, hier am Waldrand, wie er mitten in der Nacht vor einer halbnackten Frau stand, die im Kofferraum seines Wagens lag. Ihm musste etwas einfallen. Entschlossen beugte er sich vor und griff nach dem Baseballschläger, den er immer im Auto liegen hatte. Drohend hielt er Karen den Schläger vor die Nase. »Komm da raus, oder ich tu dir weh, ich schwör’s!«
»Lass mich!«, rief Karen. »Bitte, tu mir nichts.«
»Komm aus dem Kofferraum, dann geschieht dir nichts.« Er spie ihr die Worte ins Gesicht und spürte, dass er in seiner Panik allmählich die Kontrolle verlor. Seine Hände begannen zu zittern. Aber sie wollte immer noch nicht gehorchen. »Komm aus dem verdammten Auto!«, schrie er unbeherrscht, aber seine Stimme ging im Wind und Regen unter. Trotzdem blieb die Frau hartnäckig im Kofferraum liegen.
Ansatzlos schlug er Karen auf das rechte Knie, sodass sie trotz des Betäubungsmittels vor Schmerz schrie. Wieder holte er zum Schlag aus und traf Karen am Ellbogen; sie schrie noch lauter. Als er voller Wut an ihrem Haar riss, merkte er, dass sie endlich nachgab und mühsam aus dem Kofferraum kletterte. Dann sank sie kraftlos auf die Knie, hockte auf dem nassen Schotter. Keller knallte den Kofferraumdeckel zu und schob den Baseballschläger in den Hosenbund, wobei er die zitternde, verängstigte Kreatur, die vor ihm kniete, nicht aus den Augen ließ. Der Nieselregen zerlief auf ihrer Haut und tropfte von ihren Haaren. Keller schob ihr beide Hände unter die Achselhöhlen und zog so lange, bis sie auf die Beine kam. Dann stieß er sie vor sich her zum Waldrand.
Karen taumelte über den grasbewachsenen Seitenstreifen durch die Dunkelheit. Sie konnte spüren, dass ihr Peiniger unmittelbar hinter ihr war – eine schattenhafte Gestalt, der ein unangenehmer Geruch entströmte. Er stieß sie vor sich her und half ihr auf, wann immer sie fiel. So ging es tiefer in den Wald hinein. Schon nach kurzer Zeit hatten die Dornenranken blutige Kratzer an Karens Füßen und Waden hinterlassen. Mehrmals war sie nahe daran, sich zu Keller umzudrehen, ihm ins Gesicht zu blicken und ihn anzuflehen, sie nicht in diesem gottverlassenen Wald sterben zu lassen. Aber jedes Mal stieß er ihr hart in den Rücken, sodass sie zu Boden ging. »Bitte«, flehte sie, »lass mich gehen, und ich schwöre, dass ich keinem was sage. Bitte, ich schwöre zu Gott, dass ich nichts verrate!«
»Du hast keinen Gott«, schnarrte er, packte ihr ins Haar und verdrehte es. »Du hast mich verraten, Sam. Du hast zugelassen, dass sie uns trennen. Deine Eltern, die Lehrer … alle haben gelogen, und du hast ihnen geglaubt. Du hast mich hintergangen, hast mich allein gelassen, Sam. Du hast mich verlassen!«
»Es tut mir leid«, sagte Karen und versuchte, das Spiel mitzuspielen, denn sie spürte, dass es vielleicht ihre letzte Chance war, etwas an ihrer Situation zu ändern. »Ich lass dich nie wieder allein, ich verspreche es. Ich schwöre es bei Gott.« Allmählich ließ die Wirkung des Betäubungsmittels nach, aber Karen war immer noch zu schwach und durcheinander. Es fiel ihr schwer, den Worten des Mannes zu folgen. Das Labyrinth seiner verirrten Gedankengänge war ihr so fremd wie der Wald, durch den sie stapfte.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, was passiert ist, nachdem du mich verlassen hattest?«, fragte er. »Weißt du, was die mir in der Schule angetan haben? Und später im Heim? Was sie von mir verlangt haben?«
»Es tut mir leid, ehrlich.« Sie versuchte, bis zu seinem Gewissen vorzudringen. »Aber es war nicht meine Schuld. Ich … ich wollte bei dir bleiben, aber sie haben dich mir weggenommen«, stammelte sie drauflos. »Später konnte ich dich nirgends finden.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte er tonlos. »Du hast mich damals verraten und danach immer wieder.«
Abrupt blieb er stehen und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Was ist?«, fragte sie schluchzend.
»Nicht umdrehen«, warnte er sie, »sieh mich nicht an. Zieh dich aus.«
Sie schlang die Arme um ihren Körper, da der Regen, der den Schmutz und das Blut von ihrer Haut wusch, sich wie Eis anfühlte. Zitternd warf sie einen Blick hinauf in die Äste und Baumkronen, in denen der Wind rauschte. Hier und da waren Wolkenfetzen zu erahnen, die über den Nachthimmel jagten. Spätestens jetzt wurde ihr klar, dass sie tief im Wald waren und niemand sie hören würde, wenn sie um Hilfe schrie.
»Zieh deine Sachen aus«, wiederholte er.
Karen fröstelte. Bei der Kälte würde ihr Körper schnell auskühlen; ihre Lippen waren längst blaugefroren. »Ich habe doch nichts mehr an«, stieß sie erschöpft hervor und erkannte, dass sie sich bereits aufgegeben hatte.
»Das, was du anhast«, beharrte er. »Zieh es aus.«
Karen strich mit den Händen über die schmutzige Unterwäsche, die sie noch am Leib trug, und machte sich bewusst, was er von ihr wollte. Beinahe hätten ihre Knie nachgegeben.
»Na los!«, zischte er voller Ungeduld. »Schnell! Ich fasse dich nicht an.«
Langsam hob Karen beide Hände auf den Rücken. Schon bei dieser Bewegung spürte sie, wie sehr sie unter ihrem Peiniger gelitten hatte. Der Schmerz an Armen und Schultern war so unerträglich, dass sie kaum die Schließe an ihrem BH erreichte. Als sie ihn endlich aufbekam, konnte sie ihn gerade noch auffangen und festhalten, weil sie nicht nackt vor ihm stehen wollte. Sie spürte einen Schlag gegen den Rücken und stöhnte auf.
»Lass ihn fallen!«, befahl er. »Ich brauche ihn noch.«
Wieder versuchte Karen, sich zu ihm umzudrehen, weil sie ihn direkt ansprechen wollte, doch als sie seinen heißen Zorn spürte, traute sie sich nicht mehr.
»Sieh mich nicht an, hab ich gesagt!«, schnauzte er. »Tu, was ich sage, und lass den BH fallen.«
Erneut bekam sie einen Schlag auf den Rücken. Langsam ließ sie den BH los, den sie zuvor nur widerwillig angenommen hatte, jetzt aber nicht mehr hergeben wollte. Das Stück Stoff fiel zu Boden und schien auf dem braunen Laub des Waldes zu schweben. »Jetzt den Rest«, verlangte er. »Los, beeil dich.« In seiner Stimme war keine Spur von Mitgefühl.
»Nein, bitte«, flehte Karen in der Hoffnung, dass er wenigstens noch einen Funken Anstand besaß. »Bitte, lass mich gehen. Ich sag niemandem ein Wort, ich schwör’s!«
»Zieh den Rest aus.« Er achtete gar nicht auf ihr Flehen. »Los!«
Sie spürte einen Schlag seitlich am Kopf, bei dem ihr die Ohren klingelten, aber er war nicht so fest, dass sie den Halt verlor. Sie griff sich mit einer Hand ans Ohr und verzog vor Schmerz das Gesicht.
»Runter mit den Klamotten!«, zischte er. »Du kriegst genau das, was du verdienst, Miststück!«
Karen, am ganzen Körper zitternd, schob die Daumen unter den Bund des Slips und zog ihn langsam aus, bis er sich um ihre Füße legte. Wieder verbarg sie mit beiden Händen ihre Brüste. Dann stand sie nackt in der Stille des Waldes, hörte nur den schnell gehenden, flachen Atem ihres Peinigers.
Thomas Keller schloss die Augen, holte zum Schlag aus und ließ den Baseballschläger auf Karens Hinterkopf krachen. Der Schädelknochen knackte. Ein feiner Strahl Blut spritzte in Kellers Gesicht und verfärbte das Laub am Boden.
Karen sank nach vorn, fiel auf die Knie. Zwei, drei Sekunden hielt sie sich aufrecht, dann kippte sie der Länge nach ins Laub, verlor sich in einem Nebel aus Schmerz und Dunkelheit.
Keller trat dichter an sie heran und blickte voller Abscheu auf ihren Körper. Er wusste, dass er ihr Gnade gewähren musste, auch wenn sie ihn schändlich verraten hatte. Ja, er musste ihr gnädig sein, indem er sie von ihrem Leid erlöste. Er kniete neben ihr nieder und drehte sie so, dass sie ihn sehen konnte. Mit einem Mal kamen ihm seine Arme bleischwer vor, aber irgendwie gelang es ihm, der Frau beide Hände um den Hals zu legen. Mit den Daumen suchte er nach dem Kehlkopf und drückte zu.
Die Augen quollen ihr aus den Höhlen. Ein Knacken war zu hören, während sie nach Atem rang. Verzweifelt umklammerte sie seine Handgelenke und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Hilflos glitten ihre bloßen, blutenden Füße über das nasse Laub, wobei ihre Fersen kleine Furchen durch den Waldboden zogen. Allmählich erlahmten ihre Bewegungen, als hätte sie endlich eingesehen, dass ihr ohnehin niemand zu Hilfe kommen würde.
Karen erschlaffte, als das Leben aus ihrem Körper wich.
Längst hatte sie Kellers Handgelenke losgelassen, aber er umfasste immer noch ihren Hals. Es faszinierte ihn, wie leblos die Frau nach so kurzer Zeit aussah. Mit einem so raschen Übergang vom Leben zum Tod hatte er gar nicht gerechnet.
Es war die erste Leiche, die er je gesehen hatte.
Schließlich holte ihn der kalte Regen, der ihm übers Gesicht lief, zurück in die Wirklichkeit. Er ließ so hastig von der Toten ab, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten – als könnte er sich nicht erklären, wie seine Hände um ihren Hals gekommen waren.
Schwer atmend wich er von der Leiche zurück. Das Salz, das er auf den Lippen schmeckte, stammte vom Schweiß, der sich mit dem Regen vermischt hatte. Dann überkam ihn eine seltsame Ruhe, wie er sie noch nie erlebt hatte. Das beruhigende Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, verschaffte ihm einen klaren Kopf und neue Orientierung.
Er kroch neben der Toten durchs Laub und suchte im matten Licht der Sterne nach der Unterwäsche. Da seine Augen sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fand er schnell den Slip und den BH und stopfte beides in seine Tasche. Dann stand er auf und verließ zielstrebig das Waldstück, das nun für immer verflucht sein würde, da es Zeuge dieser Bluttat geworden war.
Auf dem Rückweg zum Wagen verschwendete er keinen Gedanken mehr an Karen Green. Sie war bereits zu einer blassen Erinnerung geworden – zu etwas, das vor langer Zeit gewesen war. Er war mit den Gedanken längst bei der anderen Frau, die er bald aufsuchen würde.
Die Frau, von der er wusste, dass sie die richtige Sam war.