2.

Tageslicht flutete die Treppenstufen hinunter und erhellte den Raum. Louise musste die Augen zusammenkneifen. Kaum hatte sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt, als eine Tür sacht ins Schloss fiel und den Lichtkegel abschnitt. Seltsamerweise hieß Louise das Zwielicht willkommen, das ihr inzwischen vertraut war, und schaute rasch hinüber zu Karen Green, die wie ein Häuflein Elend in der Ecke ihres Käfigs kauerte. Ihre Finger krallten sich in das Gittergeflecht, als suche sie Halt, um sich vor einer Woge zu schützen, die sie fortzureißen drohte.

Louise hörte, wie Karen versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, als sich auf der Treppe Schritte näherten. Sie hörten sich weder schwer noch eilig, noch sonst wie auffällig an; im Gegenteil, jemand schien auf leisen Sohlen heranzuschleichen.

Die verstohlenen Laute erfüllten Louise mit eisiger Furcht. Ihr war, als könnten ihre Sinne das leiseste Geräusch wahrnehmen, die Schatten, die Gerüche, ja sämtliche Bewegungen in ihrem unterirdischen Gefängnis.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie genau wie Karen in ihrem Käfig zurückgewichen war. Ihr rasender Pulsschlag überdeckte fast die leisen Schritte, die sich unaufhaltsam näherten. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als der Mann die unteren Stufen erreichte und das Gewölbe betrat, schienen Stunden vergangen zu sein.

Die Deckenlampe flammte auf. Louise beobachtete den Mann im trüben Licht und sah, wie er kurz innehielt, ehe er sich an der Wand entlang bewegte. Soweit sie erkennen konnte, trug er einen dunklen oder grauen Trainingsanzug. Nach wie vor sagte er kein Wort, während er tiefer in den Raum vordrang, um plötzlich wie von Zauberhand zu verschwinden.

Kurz darauf hörte Louise, wie eine zweite Lampe eingeschaltet wurde. Das grelle Licht einer wattstarken Glühbirne erhellte den Raum. Louise sah, dass der Mann hinter einem Wandschirm verschwunden war, wie man ihn aus Krankenhausstationen kennt. Sie hatte den Eindruck, das Schattenspiel einer Marionettenaufführung zu beobachten. Der Mann stand auf der anderen Seite des Schirms. Nur seine Arme und Hände waren in Bewegung und beschäftigten sich mit irgendetwas, das leise Geräusche erzeugte. Deutlich hörte Louise das Quietschen eines alten Wasserkrans. Währenddessen summte der Mann eine Melodie vor sich hin, die Louise unbekannt war, aber der Klang war schrecklicher als jeder Schrei in der Nacht. Ihr Mund war pulvertrocken, ihre Kehle wie zugeschnürt, ihre Augen weit aufgerissen wie bei einem Tier, das instinktiv spürt, dass es jeden Moment von seinen Peinigern in Stücke gerissen wird.

Dann sah sie, dass die Silhouette in ihren Bewegungen erstarrt war. Sie ahnte, dass der Fremde sich ihr und Karen zugewandt hatte. Jetzt hörte sie sein schnelles Atmen; er schien aufgeregt zu sein wie ein Schauspieler, der eine Bühne betritt und gegen Lampenfieber ankämpft.

Schließlich trat er hinter dem Wandschirm hervor – ein unauffälliger, schmächtiger Mann mittlerer Größe. Er hatte wirres braunes Haar und eine wachsartige Haut. Für Louise aber war er ein Ungeheuer, das sie in ihrer Menschenwürde, in ihrer gesamten Existenz bedrohte. Wie konnte es sein, dass diese Bestie so viel Macht über sie und Karen hatte?

Louise sah, dass der Mann lächelte. Es war ein Lächeln, von dem nichts Bedrohliches ausging, doch augenblicklich erinnerte sie sich an seine fleckigen Zähne und den stinkenden Atem. Schon bei der Erinnerung stieg ihr ein widerwärtiger Geschmack in den Mund. Schaudernd dachte sie an den Geruch seiner fettigen Haare, an den Schweißgeruch, der seinen Poren entströmte, an seine klebrigen Hände, die sie an den Brüsten berührt hatten.

Als ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass der Mann sie ansprach, erschrak sie so heftig, dass ihr der Atem stockte.

»Sam? Alles okay?«, fragte er. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Etwas zu essen und zu trinken, wenn du möchtest. Es ist nicht gerade viel, aber es wird dir besser gehen, wenn du einen Happen zu dir genommen hast.« Langsam kam er in ihre Richtung, ein Tablett in der Hand, auf dem ein Plastikbecher mit Wasser stand, daneben ein Teller mit einem Sandwich. Das Sandwich sah aus, als hätte ein Kind es gemacht.

Als er am Käfig vorbeikam, duckte er sich leicht und spähte durch das Gitter. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, als er den Blick über Louises Körper schweifen ließ. Sie spürte ein schmerzhaftes Prickeln auf der Haut.

»Ich muss dir das Tablett durch die Luke reichen«, sagte er. »Das ist besser so, bis du mehr verstehst. Du weißt doch, was ich meine, Sam? Du hast immer verstanden, was ich meine, auch wenn alle anderen mich nicht verstehen wollten. Deshalb sind wir ja zusammen, du und ich.«

Er zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche der Trainingshose und öffnete das Vorhängeschloss an der Käfigluke. Voller Angst verfolgte Louise jede seiner Bewegungen und zuckte zusammen, als er durch die Luke die Hand nach ihr ausstreckte, doch er hielt ihr nur das Tablett hin und wartete, dass sie es ihm abnahm.

»Nimm«, forderte er sie auf. »Ist alles für dich. Ich komme später wieder, wenn du genug hast.«

Zögernd wagte Louise sich vorwärts, ohne den Blickkontakt auch nur einen Sekundenbruchteil zu unterbrechen. Sie nahm das Tablett und stellte es auf dem Käfigboden ab. Sofort zog sie sich wieder in den hintersten Winkel ihres Gefängnisses zurück.

»Lass es dir schmecken«, versuchte der Mann sie zu ermuntern. »Aber zuerst trinkst du einen Schluck. Du wirst vom Chloroform dehydriert sein.«

Langsam streckte Louise die Hand nach dem Plastikbecher aus und beäugte die Flüssigkeit skeptisch, da sie von diesem Irren kam. Schließlich aber nahm sie einen Schluck und spürte, wie ihr das saubere, kalte Wasser die Kehle hinunterrann. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war, und trank in gierigen Zügen.

»Gut, nicht wahr?«, fragte er. »Nicht zu viel auf einmal, dir könnte schlecht werden.«

Louise hielt inne und befeuchtete ihre Lippen und ihr Gesicht mit dem kühlen Wasser. Hatte sie jetzt schon die Kraft, mit diesem Verrückten zu sprechen? Versuch es, sagte sie sich. Wenn es ihr gelang, eine Verbindung zu ihrem Entführer herzustellen, konnte es ihr das Leben retten, weil der Mann es vielleicht nicht mehr fertigbrachte, sie umzubringen.

»Was ist mit ihr?«, brachte Louise mühsam hervor. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder.

»Von wem sprichst du?«, erwiderte er. Wieder zuckte es in seinen Mundwinkeln.

Louise löste sich kurzzeitig von seinem Blick und schaute hinüber zu dem anderen Tierkäfig. »Von ihr. Von Karen. Jedenfalls sagt sie, dass sie Karen heißt.«

Sein Blick wurde kalt und abweisend. Von seinem Lächeln war keine Spur mehr zu sehen. »Mit der darfst du nicht reden, hörst du? Sie ist eine Lügnerin und Hure. Sie wollte mich glauben machen, sie wäre du, aber natürlich ist sie das nicht.«

Louise beobachtete, wie das Gesicht des Mannes sich vor Hass verzerrte. Er zog die Oberlippe zurück wie eine Hyäne; die Adern an seinem Hals schwollen an und traten dick und bläulich hervor.

Louise erkannte, dass sie Karen in Gefahr gebracht hatte, und versuchte hastig, ihren Fehler wiedergutzumachen. »Nein!«, stieß sie hervor. »Sie hat kein Wort zu mir gesagt, ehrlich. Ich habe sie gezwungen, mir ihren Namen zu nennen. Es war nicht ihre Schuld. Hier … hier ist doch genug Wasser. Bitte geben Sie ihr das restliche Wasser. Bitte.«

Doch ihr Bemühen, seinen Zorn auf die andere Frau zu mildern, die wimmernd in einer Ecke ihres Käfigs kauerte, war umsonst, denn er wandte sich abrupt von Louise ab und ging in Karens Richtung, den Blick starr auf sein anderes Opfer geheftet.

»Die Hure kriegt nichts!«, schrie er, und seine Stimme hallte hohl in dem Backsteingewölbe nach. »Die Hure kriegt nur das, was alle Huren wollen!«

Louise hielt sich vor Entsetzen die Ohren zu, während sie hilflos beobachtete, was geschah. »Es war nicht ihre Schuld!«, rief sie trotz ihrer Angst. »Lassen Sie Karen in Ruhe. Bitte. Sie hat nichts getan!« Tränen liefen ihr über die Wangen und schmeckten salzig auf der Zunge. Zäher Speichel hinderte sie beinahe am Sprechen, als sie den Entführer weiter beschwor, von Karen abzulassen.

Doch er kramte längst in der Hosentasche, um einen Gegenstand hervorzuholen, der größer zu sein schien als der Käfigschlüssel. Was immer es sein mochte – es hatte sich in der Tasche verfangen, sodass der Mann wild daran zerrte, wobei er keine Sekunde den Blick von Karens Käfig nahm. »Jetzt kriegst du, was du brauchst, du Nutte!«

Louise wollte die Augen zukneifen und den Kopf wegdrehen, als Karen sich verzweifelt gegen das Gitter am hinteren Ende des Käfigs stemmte, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Erst jetzt erkannte Louise den Gegenstand, den der Irre aus der Tasche gezogen hatte. Es war das Kästchen, mit dem er sie an ihrer Wohnungstür betäubt und gelähmt hatte.

Der Mann war inzwischen dermaßen außer sich vor Wut, dass er das Vorhängeschloss an der Tür des anderen Käfigs nicht aufbekam. Er fluchte wild. Schließlich aber hatte er die Tür geöffnet und beugte sich weit in den Käfig hinein. Obwohl Louise sich die Hände auf die Ohren presste, drangen Karens spitze Schreie bis in ihr Bewusstsein. Sie zitterte am ganzen Körper.

Karen wich so weit zurück, dass sich das Gittermuster auf ihrem Gesicht abzeichnete. Blut lief ihr übers Kinn, da die geschwollene Lippe wieder aufgeplatzt war, während sie vergeblich versuchte, sich zwischen den Gitterstäben hindurchzuquetschen. Die ganze Zeit flehte sie den Irren an, von ihr abzulassen, doch ihre Stimme klang immer matter, hilfloser.

Er ließ nicht von ihr ab. Stattdessen kam er Zoll für Zoll auf sie zu, als pirsche er sich an ein Opfer heran, bis er schließlich den Arm ausstreckte und Karen mit dem Elektroschocker berührte. Mehrmals setzte er an, mal blindlings, mal gezielt, und wich zwischendurch immer wieder zurück, als wollte er Karens Qualen in die Länge ziehen. Schließlich schnellte er nach vorn und traf Karen im Nacken.

Für den Bruchteil einer Sekunde versteifte sich ihr Körper; dann brach sie auf dem Boden des Käfigs zusammen, ein jämmerlich zuckendes, wimmerndes Etwas. Noch blieb der Mann auf Distanz, schien sich an ihrem Elend zu weiden. Ein boshaftes Grinsen huschte über seine Lippen, während Karens Krämpfe nachließen. Erst jetzt wagte er sich näher an sein Opfer heran, drehte Karen auf den Rücken und zog ihre Beine gerade.

Wieder wollte Louise wegschauen, doch es gelang ihr nicht, den Blick von der schrecklichen Szene zu nehmen. Wie unter Zwang schaute sie zum anderen Käfig, als sähe sie in einer Kristallkugel ihre eigene Zukunft. Hilflos beobachtete sie, wie der Mann sich an seiner Trainingshose zu schaffen machte. Hastig streifte er sie herunter, bis sein weißes Hinterteil und seine Erektion zu sehen waren. Mit langen Fingern streckte er die Hand nach Karen aus, zog ihr den schmutzigen Slip über die Knie, spreizte ihre Beine und schob sich grob zwischen ihre Schenkel. Louise hörte ihn stöhnen, als er in Karen eindrang und sich rhythmisch zu bewegen begann, zuerst langsam, dann mit immer schnelleren Stößen, wobei er grunzende Laute ausstieß, die sich an den Wänden brachen. Karen lag reglos unter ihm, ließ es geschehen und schluchzte nur.

Louise lief es eiskalt über den Rücken.

Kurz darauf verrieten raue Schreie der Lust, dass er zum Höhepunkt gekommen war. Nachdem die Geräusche verebbt waren, breitete sich lastende Stille aus. Niemand sprach ein Wort, niemand regte sich. Louise hatte das Gefühl, stundenlang in ein und derselben Haltung verharrt zu haben.

Dann erhob der Mann sich langsam, zog sich die Jogginghose über das noch immer steife Glied. Ohne ein weiteres Wort stieg er aus dem Käfig, brachte das Schloss wieder an und räusperte sich. Eine seltsame Ruhe war über ihn gekommen. Er wirkte beinahe verlegen und mied Louises Blick.

»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Das solltest du eigentlich nicht sehen, aber das macht sie nun mal mit mir, immer wieder, dieses Luder. Das Miststück will mich überlisten. Sie treibt mich zu so was. Dabei weiß sie genau, dass ich es gar nicht will. Sie weiß, dass ich nicht in ihr sein will. Sie gibt mir das Gefühl, schmutzig zu sein. Aber noch mal lasse ich mich nicht von ihr überlisten. Denn jetzt bist du ja hier, Sam. Ich lasse dich jetzt ein Weilchen allein. Später komme ich und hole das Tablett, ja? Versuch jetzt, ein bisschen zu essen.«

Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen, knipste die Lampen aus und ging zur Treppe, mit hängendem Kopf, als wäre ihm sein Verhalten peinlich. Louise hörte die langsamen, schlurfenden Schritte, als er über die Treppe im Dunkeln verschwand.

Kurz darauf war der metallene Klang der unsichtbaren Tür weiter oben zu hören. Noch einmal flutete Tageslicht über die Stufen und schmerzte Louise in den wunden, blutunterlaufenen Augen. Dann nahm die Düsternis wieder Besitz von dem unterirdischen Gewölbe, als die Tür ins Schloss fiel.

Atemlos spähte Louise durch das Zwielicht hinüber zu der Gestalt, die reglos auf dem Boden des anderen Käfigs lag. Karen machte keine Anstalten, sich mit den wenigen Kleidungsstücken zu bedecken, die ihr geblieben waren.

»Karen?«, wisperte Louise in die Dunkelheit. »Oh, Karen, es tut mir schrecklich leid …«

Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen rollte Karen sich zusammen, schlang die Arme um die angezogenen Beine und summte kaum hörbar ein Lied.

Louise runzelte die Stirn und lauschte angestrengt. Als sie den Wortlaut erkannte, wusste sie, dass Karen gar kein Lied angestimmt hatte. Sie summte einen Kinderreim.

*

Am frühen Mittwochabend hielten Sally und Corrigan in der Oakfield Road 22, vor dem Haus von Louise und John Russell. Für Sally war es bloß eines der vielen unansehnlichen, aber praktischen modernen Stadthäuser, und sie achtete nicht weiter darauf. Corrigan hingegen nahm auf einen Blick Details wahr: Die Haustür lag ein wenig zurückgesetzt, war von der Straße aus nicht einsehbar und bot Schutz vor neugierigen Blicken der Nachbarn oder Passanten. Die Fenster waren doppelt verglast und relativ einbruchsicher. An der gesamten Straße standen nahezu identische Häuser. In einer solchen Umgebung fielen nur Männer auf, die zu lange an ein und derselben Stelle standen, oder herumlungernde Jugendliche mit Kapuzenpullis.

»Wieso hat keiner das Haus für die Forensiker abgesperrt?«, fragte Corrigan.

»Weil niemand weiß, ob hier etwas passiert ist«, sagte Sally. »Bis jetzt weiß man nur, dass Louise hier das letzte Mal gesehen wurde.«

Es war Tag eins der Ermittlungen, und Sally klang jetzt schon erschöpft.

Sie parkten den Wagen am Seitenstreifen und gingen die paar Meter bis zur Garagenauffahrt. Corrigan blieb stehen und sah sich um. Schweigend ließ er jeden Zentimeter der Hausfassade und der Straße auf sich wirken. In vielen Nachbarhäusern brannte Licht, obwohl es noch nicht richtig dunkel war.

Corrigan ließ den Blick in die Runde schweifen. Während er sich um die eigene Achse drehte und die Häuser einzeln ins Visier nahm, zuckte hinter einem der Fenster eine Gardine – ein Nachbar, der sie heimlich beobachtet hatte und nun schuldbewusst seine Neugier zu vertuschen suchte.

Sehr gut, dachte Corrigan. Neugierige Nachbarn erwiesen sich oft als die besten Zeugen. Manchmal waren sie sogar die Einzigen. Er nahm sich vor, die heile Welt dieses Nachbarn zu stören. Aber zuerst mussten sie ein paar Worte mit Russell wechseln.

Als Corrigan sich wieder Haus Nr. 22 zuwandte, sah er, dass Sally bereits an der Tür auf ihn wartete. Ungeduld hatte er nie mit Sally in Verbindung gebracht. Erst nachdem Gibran sie beinahe getötet hätte, schien sie es nicht mehr ertragen zu können, auch nur eine Sekunde ihres Lebens zu vergeuden – wie viele andere, die dem Tod von der Schippe gesprungen waren.

Corrigan kam zu ihr und hob die Hand, um auf den Klingelknopf zu drücken, klopfte dann aber mit der Faust an die Tür.

»Seit der Entführung hat man hier bestimmt schon hundert Mal geklingelt«, sagte er auf Sallys fragenden Blick. »Falls die Frau überhaupt entführt wurde. Die Jungs von der Spurensicherung werden kaum noch was Verwertbares an der Klingel finden, aber das bedeutet ja nicht, dass auch ich noch meine Fingerabdrücke hinterlassen muss.«

»Ein Profi bleibt ein Profi«, erwiderte Sally lapidar.

Im Innern des Hauses waren eilige Schritte zu hören, dann wurde die Tür geöffnet, und ein großer schlanker Mann Anfang dreißig stand vor ihnen. Er sah müde und deprimiert aus. Alles an seinem Äußeren und seinem Verhalten zeugte von Verzweiflung, selbst die Eile, mit der er zur Tür gekommen war. Corrigan ahnte, dass der Mann gehofft hatte, seine Frau wiederzusehen – dass sie reumütig zu ihm zurückkehrte und für ihre Untreue um Verzeihung bat. Leider sah die Wirklichkeit anders aus.

»Ja?«, fragte der Mann angespannt.

»John Russell?«, fragte Sally.

»Ja, der bin ich. Was gibt’s?«

»Wir sind von der Polizei«, sagte Sally. »Wir sind wegen Ihrer Frau hier.«

Corrigan sah, wie dem Mann das Blut aus dem Gesicht wich, und ahnte, was er dachte.

»Sie wird noch immer vermisst, mehr wissen wir bisher leider nicht«, sagte er und hielt dem Mann den Ausweis hin. »Detective Inspector Corrigan, und das hier ist Detective Sergeant Jones. Dürfen wir kurz hereinkommen?«

Russells Schmerz war so übermächtig, dass er einen Moment brauchte, um Corrigans Frage zu begreifen. »Oh, ja, sicher … kommen Sie.« Er machte die Tür hinter ihnen zu und führte sie in eine komfortable Wohnküche.

Corrigan schaute sich um: Schnappschüsse von gemeinsamen Reisen und aufwendig gerahmte Hochzeitsfotos, die auf Beistelltischchen oder an prominenter Stelle an den Wänden hingen. Das Paar schien glücklich zu sein in seinem unauffälligen Leben; beide waren offenbar zufrieden mit dem, was das Schicksal ihnen zugeteilt hatte. Sie konnten sich glücklich schätzen, nichts von den Dingen zu ahnen, die Corrigan jeden Tag sehen musste.

»Möchten Sie etwas trinken?«, bot Russell höflichkeitshalber an.

»Nein, danke.« Corrigan schüttelte den Kopf. »Wir wollten Ihnen nur ein paar Fragen über Ihre Frau stellen.«

»Ja, sicher. Fragen Sie.«

Corrigan spürte, dass der Mann nervös war, aber seine Unruhe hatte nichts mit einem schlechten Gewissen zu tun.

»Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?«, wollte Corrigan wissen.

»Dienstagmorgen. Ich bin gegen halb neun zur Arbeit gefahren, da war Louise noch hier. Als ich nach Hause kam, war sie verschwunden.«

»Und das war ungewöhnlich?«

»Ja. Sie ist fast immer vor mir zu Hause. Ich arbeite meist länger.«

»Hatte sie vielleicht erwähnt, dass sie nach der Arbeit ausgehen will? Könnte doch sein, dass es Ihnen entgangen ist. Vielleicht waren Sie mit den Gedanken woanders. Wir alle haben unseren stressigen Berufsalltag, Mr. Russell«, meinte Corrigan. »Meine Frau sagt immer, ich bekäme nur ein Drittel von dem mit, was sie sagt.«

»Nein«, antwortete Russell entschieden. »So ist das bei uns nicht. Wenn Louise vorgehabt hätte, noch irgendwo hinzugehen, oder wenn sie später von der Arbeit gekommen wäre, hätte sie darauf geachtet, dass ich es mitbekomme. Aber wir verschwenden nur unsere Zeit. Sie ist nicht mit Freunden ausgegangen, und sie ist auch nicht mit einem anderen durchgebrannt. Würden Sie meine Frau kennen, würden Sie solche Fragen gar nicht stellen, sondern nach ihr suchen.«

»Wir fahnden bereits nach ihr«, versuchte Corrigan den Mann zu beruhigen. »Deshalb sind wir ja hier, und deshalb muss ich Ihnen ein paar unangenehme Fragen stellen.« Er wartete ein paar Sekunden, doch Russell ging nicht darauf ein. »Selbst die Menschen, die uns nahestehen, haben manchmal Geheimnisse«, fuhr er dann fort. »Gelingt es uns, hinter ein mögliches Geheimnis Ihrer Frau zu kommen, haben wir vielleicht einen Anhaltspunkt, sie zu finden.«

»Louise hatte keine Geheimnisse vor mir«, entgegnete Russell.

»Und Sie? Hatten Sie Geheimnisse vor ihr?«, fragte Sally. Die Frage war unumgänglich, kam aber zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Corrigan versuchte, sich seinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Stattdessen sagte er: »Vielleicht gibt es da etwas, das Ihnen selbst unbedeutend erscheint, Louise aber so sehr aufgewühlt hat, dass sie beschlossen hat, ein paar Tage für sich alleine zu sein.«

»Und was sollte das Ihrer Meinung nach sein?«, fragte Russell gereizt.

»Keine Ahnung«, erwiderte Corrigan gelassen. »Vielleicht ging es um eine alte Freundin, die sich bei Ihnen gemeldet hat. Oder Sie haben eine größere Rechnung vor Ihrer Frau verheimlicht, weil Sie nicht wollten, dass sie sich Sorgen macht. Vielleicht hielt sie es für einen Vertrauensbruch. Vielleicht …«

»Nein«, unterbrach Russell ihn. »Es gibt weder eine Exfreundin noch Geldsorgen. Wir sind immer sehr umsichtig, in allen Dingen.«

Corrigan überlegte einen Augenblick, ehe er sich ein Urteil über diesen Mann bildete. Nein, Russell hatte nichts mit dem plötzlichen Verschwinden seiner Frau zu tun, und er würde ihnen bei der Suche nach Louise keine Hilfe sein. Es gab keinen heimlichen Liebhaber, und Louise würde in den kommenden Tagen nicht unerwartet auf der Matte stehen und erklären, sie habe ein paar Tage für sich alleine gebraucht.

Corrigan vermutete vielmehr, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen war – etwas, was das Vorstellungsvermögen ihres Mannes überstieg, vielleicht sogar das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen.

Corrigan aber konnte es sich vorstellen.

Obwohl die Zentralheizung heimelige Wärme verströmte, spürte er, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Unwillkürlich schaute er zur Wohnungstür. Vor seinem geistigen Auge sah er die gesichtslose Silhouette eines Mannes, der über die Schwelle trat und Louise zu Boden schlug. Es war dem Mann gelungen, sie zu überwältigen und aus dem Haus zu zerren, sie von jenem Ort zu entführen, an dem sie sich sicher und geborgen gefühlt hatte.

Corrigan wusste nicht, wie lange er mit seinen Gedanken woanders gewesen war, als er Sallys Stimme hörte.

»Chef?«

»Äh … was ist?«, fragte Corrigan wie jemand, der aus Tagträumen gerissen wurde.

»Brauchen wir sonst noch Informationen?«

»Ja.« Corrigan wandte sich wieder Russell zu. »Sie sagten, das Auto Ihrer Frau wird vermisst?«

»Allerdings. Spätestens da wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt. Louises Wagen stand nicht mehr auf der Auffahrt. Ich hatte gleich ein mulmiges Gefühl. Als ich ins Haus kam, sah ich, dass sie ihre Handtasche und das Handy nicht mitgenommen hatte. Von Louise keine Spur. Ich habe Ihren Kollegen die Beschreibung des Autos gegeben, auch das Kennzeichen.« Corrigan blickte Sally an, die es mit einem kurzen Nicken bestätigte.

»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte Russell müde.

»Nein«, sagte Corrigan. Es war offensichtlich, dass der Mann die Nase voll hatte, immer wieder auf dieselben Fragen antworten zu müssen. »Sie waren uns eine große Hilfe, danke.« Russell schwieg. »Vielleicht noch die Bitte an Sie, möglichst wenig den Flur zu benutzen, besonders den Bereich unmittelbar vor der Tür. Dann können unsere Leute von der Spurensicherung sich noch an die Arbeit machen.« Russells Blick wurde anklagend. »Ich muss auf Nummer sicher gehen«, versuchte Corrigan ihn zu beschwichtigen. »Wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen.«

»Wenn Sie es für nötig halten«, murmelte Russell.

»Vielen Dank«, sagte Corrigan. »Eine Sache noch, bevor ich es vergesse. Wer ist die beste Freundin Ihrer Frau? Wem würde sie sich anvertrauen?«

»Mir«, antwortete Russell wie aus der Pistole geschossen. »Sie würde sich mir anvertrauen.«

*

Corrigan und Sally hörten, wie die Tür hinter ihnen leise ins Schloss gedrückt wurde, als sie über die Auffahrt zurück zur Straße gingen. Corrigan schaute sich nicht um.

»Und?«, fragte Sally.

»Er hat definitiv nichts mit der Sache zu tun und wird uns bei der Suche keine Hilfe sein. Wir wissen beide, dass die Frau nicht einfach weggelaufen ist, nicht ohne Handtasche und Handy.«

»Nicht alle Frauen sind ihren Handtaschen hoffnungslos verfallen«, gab Sally zu bedenken und hob die Hände, um anzudeuten, dass sie keine Tasche dabeihatte.

»Und das Handy?« Corrigan zeigte auf das Gerät, das Sally in der Hand hielt.

»Okay, Sie haben gewonnen«, räumte sie ein. »Aber was ist denn nun passiert?«

»Kann ich noch nicht sagen«, antwortete Corrigan. »Entweder hat er sie gleich im Flur ermordet, an der Haustür, und die Leiche dann in ihrem Auto weggeschafft, oder er hat sie entführt.«

»Er?«, hakte Sally skeptisch nach. »Das klingt so, als würden Sie ihn schon lange kennen.« Corrigan hatte nur ein Achselzucken dafür übrig. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.

»Setzen Sie sich bitte mit Roddis in Verbindung. Er soll das Haus genau untersuchen und sich auf den Flur konzentrieren. Und die Haustür. Der Tatort, falls es einen gibt, ist nahezu unbrauchbar, aber man weiß ja nie. Und vergewissern Sie sich, dass die Beschreibung des Wagens und das Nummernschild zur Fahndung raus sind.«

»Geht in Ordnung«, versicherte Sally und folgte Corrigans Blick, der ein Haus auf der anderen Straßenseite ins Auge gefasst hatte. »Noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Ein zuckender Vorhang«, sagte er. »Als wir gekommen sind, hat jemand uns beobachtet. Die Frage ist, warum.« Entschlossen hielt er auf das Haus zu, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Sally folgte ihm.

Diesmal klingelte Corrigan und wartete ungeduldig, wusste er doch längst, dass jemand zu Hause war. Die Haustür war massiv, es gab nur einen Spion. Offensichtlich zog der Bewohner dieses Hauses die Sicherheit dem Tageslicht vor. Im selben Moment stach Corrigan das Emblem der Nachbarschaftswache ins Auge, das von innen an einer der Fensterscheiben klebte. Corrigan hob erneut die Hand, um den Klingelknopf zu drücken, hielt aber inne, als er das plötzliche Gefühl hatte, dass auf der anderen Seite der Tür jemand stand. Dann hörten er und Sally, wie zwei Bolzen in Schlossriegeln schabten. Nicht viele Leute verbarrikadierten sich auf diese Weise, wenn sie tagsüber zu Hause waren.

Die Tür wurde geöffnet. Vor ihnen stand ein älterer Mann, Ende sechzig, Anfang siebzig. Er war ungefähr so groß wie Corrigan und hielt sich sehr aufrecht, als hätte er beim Militär gedient. Doch Corrigan bezweifelte, dass der Mann Soldat gewesen war. Er trug eine graue Hose und einen braunen Cardigan über einem blauen Hemd. Sein knochiges Gesicht war leicht gerötet und stand in deutlichem Kontrast zu dem grauen Haar, in dem noch einzelne blonde Strähnen schimmerten.

Obwohl der Mann längst wusste, wer geklingelt hatte, fragte er: »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

Spätestens in diesem Moment wurde Corrigan klar, dass er den Typen nicht mochte. Sally hingegen hatte keine feste Meinung über den Mann; er war bloß ein weiteres Gesicht ohne Namen, ein weiterer Zeuge, den sie befragen mussten, ehe sie, Sally, sich in die Einsamkeit ihres Hauses flüchten konnte. Fort von all den neugierig-besorgten Blicken und dämlichen Fragen zu ihrer geistigen Verfassung.

Corrigan hielt dem potenziellen Soldaten den Ausweis hin. »Detective Inspector Corrigan. Das ist meine Kollegin, Detective Sergeant Jones. Wir ziehen Erkundigungen über eine vermisste Person ein. Dürfen wir Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?«

»Kenne ich die vermisste Person?«

»Das wird sich zeigen«, erwiderte Corrigan. »Kennen Sie Louise Russell? Sie wohnt gleich gegenüber, Haus Nummer zweiundzwanzig.« Corrigan ließ dem Mann keine Zeit zum Antworten. »Dürften wir hereinkommen? Die Ermittlungen sind an einem heiklen Punkt angelangt, Sie verstehen.«

Widerwillig ließ der Mann Corrigan und Sally ins Haus. »Aber das wird doch hoffentlich nicht lange dauern?«

»Nein.« Wie selbstverständlich ging Corrigan an dem Mann vorbei und schaute sich in dem sauberen, aufgeräumten Haus um. Er registrierte jedes Detail. »Tut mir leid, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden«, sagte er, während Sally allzu auffällig auf ihre Armbanduhr schaute.

»Levy«, erwiderte der Mann. »Douglas Levy.«

Corrigan hatte einen ersten Eindruck von der Wohnungseinrichtung gewonnen und wandte sich Levy zu, wobei er ihn vom Scheitel bis zur Sohle musterte. War das der Mann, der für das Verschwinden von Louise Russell verantwortlich war? Hatte er sie jeden Tag von dem zuckenden Vorhang aus observiert, weil er insgeheim scharf auf sie war? Malte er sich jeden Tag aufs Neue aus, wie er es mit dieser Frau trieb? Gab er sich schmutzigen Fantasien hin? Gingen ihm perverse Dinge durch den Kopf, auf die keine Frau sich freiwillig einlassen würde?

Corrigans Spekulationen nahmen kein Ende. Hatte Levy masturbiert, während er an Louise dachte? Hatte er seinen Schwanz in die Hand genommen, die Frau beobachtet und dann in die hohle Hand ejakuliert, weil er zu erregt gewesen war, um vorher Taschentücher zu holen?

Und hatte er es irgendwann vor Geilheit nicht mehr ausgehalten? Hatte er beschlossen, dass er mehr brauchte? Vielleicht eine verbotene Berührung hier, ein Kuss dort … ein unschuldiger Kuss auf die Wange zuerst, der seinen Fantasien und Masturbationsgewohnheiten neues Feuer verlieh? Und war er dann in seiner unterdrückten Lust zu weit gegangen? Hatte er sie zu wild geküsst oder gestreichelt, sodass sie geschrien und sich gewehrt hatte? War er daraufhin in Panik geraten und hatte ihr ins Gesicht geschlagen, während er vor Erregung so hart geworden war, dass sein Ständer beinahe die enge Hose sprengte?

Und hatte Louise dann bewusstlos am Boden gelegen? War Levy in sie eingedrungen, bis er sich in sie ergossen hatte, sodass alles viel zu schnell vorüber gewesen war und er an nichts anderes denken konnte als daran, sie zu töten? Natürlich wollte er das nicht, aber ihm blieb keine Wahl, weil er befürchtete, sie würde allen und jedem erzählen, was er mit ihr angestellt hatte. Also legte er ihr die Hände um den Hals und drückte zu, während Louise langsam zu sich kam. Die Augen traten ihr aus den Höhlen, starrten Levy an, blutunterlaufen, voller Entsetzen und Todesangst …

Unwillkürlich suchte Corrigan an Levys Händen nach Anzeichen von Kratzspuren. Aber er sah keine. Dennoch hatte er das Gefühl, in manchen Punkten nicht ganz falsch gelegen zu haben.

»Sie wohnen allein hier, Mr. Levy?«, forschte er nach.

»Ich wüsste nicht, was das mit dieser Sache zu tun hat«, erwiderte Levy gereizt.

Für Corrigan war die Frage bereits beantwortet. »Wie ich sehe, sind Sie Mitglied der örtlichen Nachbarschaftswache.«

»Ich bin sogar Inspector und koordiniere die Wache in unserem Viertel. Sie können beim örtlichen Polizeirevier nachfragen, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Warum sollte ich Ihnen nicht glauben, Mr. Levy?« Allmählich genoss es Corrigan, dass sich wachsendes Unbehagen in Levys Zügen abzeichnete.

Sally schaute desinteressiert zu. Sie wirkte wie eine Außenstehende. Offensichtlich hielt sie es für Zeitverschwendung, einen Zeugen wie Levy zu befragen.

»Da Sie Koordinator der Nachbarschaftswache sind, haben Sie bestimmt ein Auge auf alles, was in Ihrer Straße geschieht, nicht wahr? Sie merken, sobald Fremde auftauchen, werfen einen Blick auf die Häuser der Nachbarn, wenn alle zur Arbeit fahren und Sie allein hierbleiben … oh, tut mir leid«, schloss Corrigan mit einem unsicheren Lächeln. »Jetzt habe ich stillschweigend vorausgesetzt, dass Sie schon im Ruhestand sind.«

»Bin ich auch«, antwortete Levy und straffte die Schultern, als erfüllte es ihn mit Stolz, zu den Rentnern zu gehören. Doch Corrigan ahnte, dass es den Mann wurmte, nicht mehr aktiv am Arbeitsleben teilnehmen zu können. Sein Haltbarkeitsdatum war überschritten.

»Und?«, fragte Corrigan.

»Was, und?« Levy war inzwischen so gereizt, dass er Mühe hatte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sein ohnehin rötliches Gesicht verfärbte sich dunkel vor Wut und Frust.

»Haben Sie in letzter Zeit jemanden auf der Straße gesehen, der Ihnen verdächtig erschienen ist? Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«

»Ich verbringe meine Zeit doch nicht am Fenster!«, empörte sich Levy.

»Aber wenn Sie ein Auto kommen hören, schauen Sie schon nach draußen?« Corrigan blieb hartnäckig.

Levys Verunsicherung nahm zu. »Manchmal, ja, vielleicht … ich weiß nicht.«

»Vorhin haben Sie uns gehört, als wir unten geparkt haben, nicht wahr? Sie haben uns vom Fenster aus beobachtet. Es stimmt also, dass Sie immer genau wissen, wer unten kommt und geht, ja?«

»Verdammt, was soll das alles?«, platzte Levy heraus. »Ich weiß nichts über die Frau von gegenüber, die verschwunden sein soll! Ich habe nichts gehört und nichts gesehen!«

Corrigan schwieg und musterte Levy, bis er das Gefühl hatte, den Mann lange genug mit Blicken verunsichert zu haben. »Okay«, meinte er dann. »Da wäre nur noch eine Sache. Haben Sie zufällig mitbekommen, ob jemand zum Haus der Russells gegangen ist, nachdem Mr. Russell zur Arbeit war und bevor seine Frau losgefahren ist?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Levy hatte einen Moment die Augen geschlossen, als wollte er Corrigan aus seinem Bewusstsein löschen.

»Haben die beiden sich jemals gestritten?«, bohrte Corrigan nach.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Levy. »Die Russells sind ein nettes, unauffälliges Paar, das zurückgezogen lebt. Aber ich habe noch zu tun. Ich denke, dass ich Ihnen alles gesagt habe, was ich weiß, deshalb …«

»Sicher«, sagte Corrigan.

Levy ging ein wenig zu hastig zur Haustür und trat beiseite, damit die ungebetenen Gäste endlich aus seinem Haus verschwanden.

»Danke, dass Sie Zeit für uns hatten«, sagte Corrigan und trat mit Sally hinaus in die einsetzende Dämmerung. Um diese Uhrzeit war es leise auf der Straße. Da Corrigan befürchtete, jemand könnte sie hören, schwieg er, bis er und Sally wieder im Auto saßen.

»Hätten Sie die Güte, mir zu sagen, was das jetzt sollte?«, kam Sally ihm zuvor. »Ich gehe mal davon aus, dass auch Sie diesen Levy nicht für einen Verdächtigen halten.«

»Wieso nicht? Er lebt allein. Er langweilt sich zu Tode. Er hat nichts zu tun. Es gibt nichts, worauf er sich freuen kann. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Stellen Sie sich vor, er beobachtet die Frau schon seit Längerem und gibt sich Fantasien hin, bis er es nicht mehr aushält. Er wartet, dass der Ehemann das Haus verlässt. Dann beschließt er, Louise Russell einen Besuch abzustatten. Aber er übertreibt es, und ehe er weiß, wie ihm geschieht, wird er zum Mörder. Tun Sie nicht so, als hätten wir so was nicht schon gehabt.«

»Verdammt!«, entfuhr es Sally. »Selbst wenn er sich irgendwelchen sexuellen Träumereien hingegeben hat, was ich bezweifle … er ist nicht der Typ, der seine Fantasien auslebt. Wenn es etwas gibt, das Männer wie Levy abschreckt, dann ist es Veränderung. Er würde es nie riskieren, sein langweiliges Leben aufs Spiel zu setzen.«

Corrigan spürte, dass Sally die Nase voll hatte. »Punkt für Sie. Ich schätze, ich mochte den Kerl einfach nicht. Ich mag keinen, der so ist wie er.«

»Wie ist er denn?«, wollte Sally wissen.

»Der typische Langeweiler von der Nachbarschaftswache, der nichts lieber tut, als harmlose Falschparker anzuschwärzen. Auf Leute wie die können wir gut verzichten. Aufkleber an den Fenstern, monatliche Vereinssitzungen … verdammt, was glauben diese Penner eigentlich, wer sie sind? Ein Wahnsinniger ist hier in dieser Straße aufgetaucht, hat eine Frau ermordet oder gekidnappt, am helllichten Tag, und keiner will etwas gesehen haben. Nachbarschaftswache! Das ist eine Bande von heuchlerischen Versagern!« Müdigkeit erfasste ihn und rief ihm in Erinnerung, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Schon nach acht. Corrigan verdrehte die Augen. Bis sie zurück in Peckham waren und die Ermittlungen des ersten Tages ausgewertet hatten, war es elf. Mit viel Glück würde er es bis Mitternacht nach Hause schaffen.

»Sie sind sich also sicher?«, fragte Sally. »Entweder ist die Frau längst tot, oder ein Irrer hat sie entführt, und sie lebt nicht mehr lange.«

»Ich bin mir überhaupt nicht sicher«, log Corrigan. »Fahren wir zurück zur Wache. Es ist schon spät. Heute Abend können wir sowieso nicht mehr viel tun. Morgen fahren Sie zu Louises Eltern, während ich mich mit ihren Kollegen unterhalte. Nur für den Fall, dass wir irgendwas übersehen haben.«

»Gut.« Mehr sagte Sally nicht.

Corrigan zwang sich, ihr die unausweichliche Frage zu stellen, befürchtete aber gleichzeitig, Sally würde wahrheitsgemäß antworten. Vielleicht müsste er sich dann ihre Ängste und ihren Seelenschmerz anhören. Doch wie sich herausstellte, war sie noch nicht so weit, sich einer anderen Person anzuvertrauen. »Ich bin müde und erschöpft«, sagte sie nur. »Ich brauche Tramadol gegen die Schmerzen. Vor allem Schlaf.«

»Fahren Sie nach Hause, Sally. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als die Spurensicherung in das Haus der Russells zu schicken und zu überprüfen, dass die Beschreibung von Louises Wagen raus ist.« Er sah, wie sie sich wieder über die Stelle an der Brust strich, wo das Messer ihr die Wunde geschlagen hatte. Corrigan malte sich die Narben unter Sallys Kleidung aus. Wahrscheinlich waren sie immer noch rot und boten einen hässlichen Anblick – ein Einstich oberhalb der rechten Brust, einer direkt darunter. Es würde Jahre dauern, bis die Narben verblassten, und auch dann würden sie noch deutlich zu sehen sein.

»Mach ich«, versprach sie. »Und danke.«

»Nichts zu danken«, erwiderte Corrigan. »Passen Sie auf sich auf.«

*

Louise Russell hockte in ihrem düsteren Käfig, die Knie angezogen, die Arme um die Unterschenkel geschlungen. Die dünne Decke hatte sie sich um die Schultern gelegt und pendelte leicht vor und zurück, unsicher, wie viel Zeit verstrichen sein mochte. Sie konnte bloß vermuten, dass es früh am Morgen war, aber genauso gut konnte es zehn Uhr abends sein. Mehrmals hatte sie versucht, Kontakt zu ihrer Mitgefangenen aufzunehmen, aber Karen lag reglos auf dem Boden ihres Käfigs.

Louise ahnte, dass es nur eine Möglichkeit gab, jemals wieder das Licht der Sonne zu sehen: Sie und Karen mussten sich zusammentun. Es musste ihr irgendwie gelingen, zu Karen vorzudringen und sie dazu zu bringen, endlich mit ihr zu reden.

Als plötzlich die typischen klirrenden Geräusche zu hören waren, schrak Louise zusammen und riss die Augen auf. Von einer Sekunde auf die andere schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hörte, dass Karen sich in ihrem Käfig regte und über den Boden kratzte, auf der Suche nach einer Versteckmöglichkeit. Doch es gab kein Entrinnen. Bei den scharrenden Geräuschen dachte Louise unweigerlich an eine weiße Maus, die sie als Kind in einem Drahtkäfig in ihrem Zimmer gehabt hatte: Immerzu hatte das Tier nach einem Fluchtweg aus dem Gefängnis gesucht.

Gelähmt vor Angst, lauschte Louise auf weitere Geräusche. Schließlich hörte sie, wie die schwere Metalltür aufschwang. Sie rechnete bereits mit dem hereinflutenden grellen Licht, brauchte die Augen diesmal aber nicht zusammenzukneifen: Es war Nacht. Ein dünner Lichtstrahl zeichnete einen Kreis am unteren Treppenabsatz. Dann waren leise Schritte auf den Stufen zu hören. Bei jeder Bewegung schien der Lichtstrahl auf und ab zu wippen.

Als der Mann das Gewölbe erreichte, schwenkte er die Taschenlampe langsam von rechts nach links, als wollte er sich überzeugen, dass alles so war, wie er es zurückgelassen hatte. Da Louise kurzzeitig vom Licht der Lampe geblendet war, konnte sie die Silhouette des Mannes nicht mehr sehen. Als sie schließlich vom hellen Strahl erfasst wurde, erschauderte sie, als hätte der Irre sie angefasst. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber sie war sicher, dass er grinste.

Augenblicke später flammte das Licht hinter dem Wandschirm auf; die kleine Kordel der Lampe pendelte noch Sekunden hin und her. Louise kniff einen Moment die Augen zu und wünschte sich zum x-ten Mal, dies alles wäre nur ein Albtraum … ein ungewöhnlich langer und realistischer Albtraum, der bald enden würde. Sie brauchte nur den Schlaf zu vertreiben und aufzuwachen, und alles war vorüber. Zwar würde sie den ganzen Morgen unter den Nachwirkungen des scheußlichen Traumes leiden, aber schon gegen Mittag würden die schrecklichen Bilder sich auflösen wie Wasserfarben im Regen.

Doch als sie die Augen aufriss, stand er da und starrte bis auf den Grund ihrer Seele. In der einen Hand hielt er die Taschenlampe, in der anderen ein Tablett. Ein glückliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Er stellte das Tablett vorsichtig hinter dem Wandschirm ab, offenbar auf eine Art Tisch. Dann kam er sichtlich nervös zu Louises Käfig, mit zögerlichen Schritten; die rechte Hand hatte er ausgestreckt und die Handfläche nach oben gedreht, als würde er sich einem fremden Hund nähern. »Es ist okay, Sam«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ich bin’s. Ich hab dich doch nicht geweckt? Ich wollte dich nicht stören. Ich wollte nur nach dir schauen, weil ich wissen möchte, wie es dir geht.« Er verstummte, schien auf eine Antwort zu warten. Doch Louise wusste nicht, was sie sagen sollte. »Du fühlst dich bestimmt schon viel besser. Die Nachwirkungen des Chloroforms müssten jetzt nachgelassen haben.« Sie sagte immer noch nichts, aber sie beobachtete ihn, jede seiner Bewegungen. Er deutete auf das Tablett, das hinter dem Wandschirm stand. »Ich hab dir noch etwas zu essen und zu trinken mitgebracht, eine Diätcola – ich weiß ja, wie gern du die trinkst.«

Irgendein Instinkt riet Louise, ihm zu antworten, sonst würde es ihr bald so ergehen wie Karen Green. War das Karens Fehler gewesen? Hatte sie selbst ihr Todesurteil unterschrieben, weil sie nicht fähig gewesen war, ihrem Entführer zu antworten?

»Danke.« Mühsam rang Louise sich dieses eine Wort ab, doch ihre Stimme klang matt und brüchig.

Ein erleichtertes Lächeln hellte seine Miene auf. Mit neuem Selbstvertrauen machte er einen schnellen Schritt zum Käfig, erschreckte Louise aber mit dieser ungestümen Bewegung. Er erstarrte, denn er spürte, dass er sie mit seiner Ungeduld verängstigt hatte.

»Hab keine Angst, Sam«, sagte er. »Ich würde dir niemals wehtun, das weißt du doch. Deshalb habe ich dich ja hergebracht. Damit ich mich um dich kümmern kann, dich beschützen kann vor diesen Lügnern. Diese Schwindler, die all diese Dinge über mich erzählt haben, um dich von mir fernzuhalten. Ich wusste immer, dass du denen nicht glaubst, Sam. Und jetzt können sie uns nichts mehr anhaben. Jetzt können wir zusammen sein.« Wieder Schweigen, während er auf ihre Antwort wartete.

»Ich muss mal zur Toilette«, sagte sie. Die Worte schienen aus dem Nichts zu kommen.

Sekundenlang starrte er sie an, noch immer ein dünnes Lächeln auf den Lippen. Dann, plötzlich, huschte sein Blick von einer Seite des Gewölbes zur anderen, als fürchtete er sich vor irgendetwas. »Natürlich«, sagte er schließlich. »Dachte ich mir schon.« Louise stutzte. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. »Ich müsste dich rauslassen«, fuhr er fort. »Aber dann wärst du nicht mehr sicher vor denen, Sam. Denn sie sind noch in deinem Kopf, verstehst du? All die Dinge, die sie dir angetan haben, sind noch in deinem Kopf. Sie könnten versuchen, dich auszutricksen. Sie könnten dich dazu bringen, dass du etwas tust, was du gar nicht willst. Vielleicht wollen sie, dass du mir wehtust.«

»Das würde ich niemals tun«, zwang sie sich zu antworten. »Versprochen.«

Er griff in die Tasche des Trainingsanzugs und kramte umständlich darin, bis er das schwarze Gerät hervorholte und es ihr zeigte. Natürlich erkannte Louise sofort den Elektroschocker, mit dem er zuletzt Karen gepeinigt hatte, um sie anschließend brutal zu vergewaltigen. »Keine Sorge«, versicherte er. »Wenn die versuchen, dich zu irgendwas zu überreden, das du nicht tun darfst, benutze ich das hier.« Der Ausdruck von Angst in ihren Augen schien ihn zu verwirren. »Ich tue dir nichts«, versprach er. »Ich sorge nur dafür, dass sie die Finger von dir lassen und dich zu nichts überreden. Hiermit halte ich sie uns vom Leib.«

»Ich muss mich nur ein bisschen waschen«, sagte Louise.

Wieder betrachtete er sie lange. »Okay«, sagte er dann und bewegte sich langsam in Richtung Käfig, wobei er den Blick keine Sekunde von Louise nahm. Nach wenigen Schritten stand er vor den Gitterstäben; er war ihr so nah wie an dem Morgen, als er sie überwältigt hatte. Deutlich sah sie seine blässliche Haut, die fleckigen, schiefen Zähne, die dünnen Arme, die jedoch sehnig und kräftig wirkten; bläulich schimmerten die Adern unter der Haut.

Vorsichtig holte er einen Schlüssel aus der anderen Hosentasche und hielt ihn vor das Schloss. Dann musterte er sie wieder, lächelte breit, drückte den Schlüssel ins Vorhängeschloss und drehte ihn. Nach kurzem Zögern öffnete er die Käfigtür. Die Angeln quietschten, das Gittergeflecht vibrierte. Er machte einen Satz zurück; dabei hielt er den Elektroschocker wie ein Revolverheld seitlich am Körper, jederzeit bereit zum Schuss. »Bitte«, sagte er. »Hier entlang.« Er zeigte auf den alten Krankenhaus-Wandschirm.

In gebückter Haltung kroch Louise zur Käfigtür. Der Schmerz in ihren verkrampften Muskeln wurde nur von ihrer Angst übertroffen, die Herzrasen bei ihr auslöste. Unmittelbar an der Käfigtür zögerte sie, wartete darauf, dass er noch einen Schritt weiter zurückwich, doch er dachte gar nicht daran. Schließlich zwängte Louise sich durch die Öffnung und betrat das düstere Gewölbe. Zum ersten Mal seit endlosen Stunden reckte sie sich. Erst jetzt spürte sie, wie verspannt und steif ihre Muskulatur war. Doch sie achtete peinlich darauf, dass ihr nicht die Decke von den Schultern rutschte, weil sie nicht nackt vor ihm stehen wollte.

»Hinter dem Wandschirm«, erklärte er. »Da kannst du dich waschen. Da ist auch eine Toilette. Ist nur eine chemische, aber das muss reichen.«

Sie rang sich ein »Danke« ab, doch am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt, denn sie wusste, dass Karen in der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft kein einziges Mal zur Toilette gedurft hatte. Schaudernd dachte sie daran, dass ihr womöglich das Gleiche bevorstand.

Als sie hinter den Schirm trat, fiel ihr Blick auf die behelfsmäßigen sanitären Anlagen – auf ein altes, gelblich-braun angelaufenes Waschbecken, das kaum noch mit dem Mauerwerk verbunden war, und auf rostige, mit Kalk überzogene Hähne. Daneben auf dem Boden stand eine relativ neue Chemietoilette. Louise vermutete, dass der Irre diese Toilette erst vor Kurzem besorgt hatte, aber bestimmt hatte er das alles schon länger geplant.

Verzweifelt schaute sie sich nach etwas um, das sich als Waffe benutzen ließ, konnte aber nichts entdecken. Schließlich schluckte sie ihre Enttäuschung herunter. Sie spürte, dass er auf der anderen Seite unmittelbar hinter dem Schirm stand und sie durch den dünnen Stoff beobachtete. Wartete er darauf, dass sie die Decke fallen ließ? Malte er sich bereits aus, ihren nackten Körper mit lüsternen Blicken zu verschlingen, um dann über sie herzufallen wie über Karen?

»Alles in Ordnung bei dir da drin, Sam?«, fragte er, als wäre sie in einem Badezimmer.

»J … ja«, stammelte sie. »Muss mich nur kurz … zurechtfinden.«

»Der Hahn für heißes Wasser ist links.«

Sie drehte den Hahn auf und ließ das Wasser laufen, bevor sie den Stöpsel in den Ausfluss drückte und beobachtete, wie das alte Becken sich langsam füllte. Ängstlich schaute sie über die Schulter und erahnte die Silhouette des Mannes hinter dem Schirm. Da sie sich nicht anders zu helfen wusste, ließ sie die Decke zu Boden gleiten und stand schließlich nackt vor dem Waschbecken. Sie fühlte sich so verletzlich wie noch nie im Leben.

Rasch wusch sie sich, wobei sie das kleine Stückchen Seife benutzte, das er auf dem Waschbecken liegen gelassen hatte. Verzweifelt versuchte sie, so viel wie möglich von ihrer Haut zu schrubben – von ihrem Gefängnis, von den letzten Tagen, von ihm. Und die ganze Zeit wusste sie, dass er sie beobachtete und genau verfolgte, wie sie sich mit den Händen über die nackte, vor Nässe glänzende Haut fuhr.

Schließlich wusch sie sich die Seifenreste vom Körper und schaute sich nach einem Handtuch um. Sie erschrak, als sie sah, dass neben dem Waschbecken keines hing. Dann entdeckte sie ein Handtuch auf dem Tischchen neben dem Tablett mit Essen. Hastig trocknete sie sich ab, doch der modrige Geruch des kratzigen Handtuchs rief Übelkeit bei ihr hervor. Unwillkürlich würgte sie. Die Übelkeit nahm zu, als sie den Irren hörte, seine Atemzüge, die immer schneller zu werden schienen, je länger er sein nacktes Opfer beobachtete. Es kostete Louise alle Überwindung, zum Schluss noch die Toilette zu benutzen, wobei sie fest die Augen zusammenkniff. Dann streifte sie sich hastig die Decke über die Schultern und trat hinter dem Schirm hervor.

»Nimm das Tablett mit«, forderte er sie auf. »Ist alles für dich.«

Argwöhnisch ließ Louise den Blick über das Tablett schweifen: ein Sandwich aus Weißbrot, ein paar Kartoffelchips in einer Plastikschale, ein paar Kekse, eine Dose Cola. Da ihr Magen leer und ihre Kehle wie ausgedörrt waren, griff sie nach dem Tablett.

»Du musst es in deinem Zimmer essen«, sagte er, wobei er zum Käfig schaute. »Das Tablett hole ich dann später.«

Louise tat, was er von ihr verlangte, und ging so schnell sie konnte zurück zu ihrem Gefängnis. Sie war beinahe erleichtert, als sie wieder hinter den Gitterstäben kauerte, denn der Käfig war eine Barriere zwischen ihr und ihm, auch wenn ihr bewusst war, dass er die Kontrolle über diese Barriere hatte.

»Morgen früh bringe ich dir saubere Wäsche«, versprach er, als er die Tür zudrückte und den Schlüssel im Vorhängeschloss drehte. »Du brauchst Schlaf, Sam. Wir haben noch viel vor. Ich muss jetzt los.«

Er war auf halbem Weg zur Glühlampe hinter dem Wandschirm, als sich eine dünne Stimme aus dem Halbdunkel meldete. Karen hatte kaum merklich den Kopf gehoben. »Bitte«, flehte sie leise, voller Verzweiflung. »Ich brauche Wasser, und ich habe Hunger. Kann ich bitte auch was bekommen? Ich verspreche, dass ich mich benehme.«

Bedrückende Stille breitete sich aus. Louise ließ den Blick zwischen Karen und dem Verrückten hin und her gleiten und betete, dass er ihre Mitgefangene diesmal nicht missbrauchte. Sie war sicher, es nicht ertragen zu können, noch einmal Zeugin eines solchen Gewaltexzesses zu werden.

»Was?«, fauchte er. In seine zuvor verbindliche Stimme schlich sich ein aggressiver Unterton. »Du willst was, du Nutte?«

»Bitte …«, sagte Karen mit zitternder Stimme. Die Zunge schien ihr am Gaumen zu kleben. »Ich habe schrecklichen Durst …, und mir ist nicht gut. Ich brauche etwas zu essen. Bitte, irgendwas …«

»Lügnerische Huren kriegen nichts!«, spie er hervor.

»Nein, nein«, schluchzte Karen. »O Gott, bitte, ich weiß nicht, was du damit meinst. Ich verstehe nicht, warum ich hier bin. Bitte, lass mich gehen. Ich schwöre, ich erzähle keinem, was passiert ist …«

»Halt’s Maul!«, kreischte er und zitterte vor Erregung, als wäre er derjenige, der in der Klemme saß. »Du versuchst doch nur wieder, mich auszutricksen, du Miststück. Du willst mich durcheinanderbringen, mir Kopfschmerzen bereiten.« Anklagend zeigte er auf Karen; er schien den Tränen nahe zu sein. »Siehst du jetzt, was sie mit mir macht, Sam? Verstehst du jetzt, was die alle mit uns machen wollen?«

»Bitte, bitte, lass mich gehen«, kam es erneut aus Karens Richtung, noch lauter und kläglicher. »Lass mich frei.«

»Halt’s Maul, halt’s Maul, halt’s Maul! Mach, dass sie aufhört, Sam!«

Louise hielt sich die Ohren zu, presste sich die Handflächen so fest gegen den Kopf, dass das Rauschen in ihren Ohren schmerzte. Aber sie ertrug es nicht, diesen Irrsinn mit anhören zu müssen.

»Sie ist nichts als eine lügnerische Hure! Verstehst du, Sam?«, sagte er, wieder an Louise gewandt. »Sie hat mich ausgetrickst. Das Luder hat mich dazu gebracht, sie hierherzuschleppen, aber ich habe erkannt, was für eine Lügnerin sie ist. Sie ist eine von denen! Sie will alles verderben, was ich mir aufgebaut habe.«

»Das ist doch nicht wahr«, flehte Karen, die kaum noch Speichel hatte, um ihren Mund zu befeuchten. »Ich tue alles, was du verlangst, ich schwör’s.«

Er trat dicht an ihren Käfig heran. »Halt dein Maul, dreckige Nutte!«, schrie er ihr durch das Gitter ins Gesicht und drohte ihr mit dem Elektroschocker. »Ich weiß, was du vorhast und zu was du mich überreden willst. Es ist genau das, wozu alle Huren mich verleiten wollen! Aber das wirst du nicht schaffen!« Sein Lächeln wich einem Ausdruck von Angst. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Sam ist jetzt bei mir. Du kannst uns nicht aufhalten.« Er entfernte sich rückwärtsgehend vom Käfig, nahm den Blick keine Sekunde von Karen und drohte ihr mit erhobenem Finger.

Kurz darauf knipste er die Lampe aus, sodass das Gewölbe wieder in Düsternis versank. Einen Moment lang schien er in dem Bereich hinter den Treppenstufen verschwunden zu sein, doch Louise hörte ihn atmen – ein Keuchen wie bei einem Tier. Schließlich knipste er wieder die Taschenlampe an und erklomm mit leisen Schritten die Treppe. Die metallene Tür schwang auf und fiel sachte ins Schloss; noch einmal schlug das Vorhängeschloss klirrend gegen das Metall, dann war Stille.

Nur noch Dunkelheit und Stille.

*

Kurz nach zehn am Mittwochabend quetschte Sally ihre Fließhecklimousine in die letzte freie Parkbucht an der Straße. Nicht einmal die Hinweisschilder, die Parkausweise sichtbar auszulegen, hinderten die Leute daran, ihre Autos spätabends hier abzustellen. Sallys Nachbarn waren schon seit Stunden zu Hause, ehe die Dämmerung einen neuen Tag verhieß, der für sie genauso ablaufen würde wie der Tag zuvor. Fast beneidete Sally diese Leute.

Vorerst blieb sie noch im Auto sitzen, bei laufendem Motor und mit eingeschalteten Scheinwerfern, bis sie Anzeichen von Leben in der Straße bemerkte: Ein Pärchen tauchte im Innenspiegel auf. Die beiden schlenderten Arm in Arm über den Bürgersteig. Der Mann sagte irgendetwas, die Frau kicherte. Das genügte Sally für den Moment. Schnell machte sie Motor und Licht aus und sprang aus dem Wagen. Ohne hinzusehen drückte sie auf die elektronische Verriegelung und eilte zur Eingangstür des schicken, drei Stockwerke hohen Reihenhauses, in dem sich ihre Wohnung befand: zwei Zimmer, Küche und Bad in der obersten Etage.

Noch ehe sie an der Haustür war, hielt sie bereits den Schlüssel in der Hand und öffnete schnell und leise, wie schon unzählige Male zuvor. Niemand hatte ihr ins Haus folgen können.

Sally hörte, wie das junge Paar draußen vorüberging. Einmal mehr rief sie sich in Erinnerung, warum sie sich eine Wohnung in diesem Haus und in dieser Straße gesucht hatte: weil hier viele Leute vorbeikamen, selbst spät am Abend, und gleich am Ende der Straße begann die Putney High Street, auf der fast rund um die Uhr Betrieb war.

Auch wenn Sebastian Gibran sie nicht umgebracht hatte – er hatte vieles von dem vernichtet, was Sally wichtig gewesen war und was sie geliebt hatte. In ihrer alten Wohnung, in der Gibran sie beinahe getötet hätte, war Sally seither nicht mehr gewesen. Dort gab es nichts mehr für sie, nur noch albtraumhafte Erinnerungen aus Entsetzen und Schmerz. Seitdem sie vor Kurzem dort ausgezogen war, kümmerte sich ein Immobilienmakler um alles.

Genauso schnell, wie sie ins Haus geeilt war, rannte Sally nun die Treppenstufen hinauf und betrat ihre kleine Wohnung. Erst als sie die Tür fest hinter sich zudrückte, atmete sie auf und spürte, wie groß die Anspannung der zurückliegenden Stunden gewesen war. Mit dem Rücken an der Wohnungstür schaute sie sich in ihren vier Wänden um und sah, dass alle Lampen, die sie während des Tages angelassen hatte, noch brannten – wieder eine neue Angewohnheit, um Augenblicke der Panik in der Dunkelheit zu vermeiden. Kein umständliches Suchen nach Lichtschaltern.

Alles okay, sagte sich Sally, während sie den Blick über die wenigen Möbel und die Umzugskartons schweifen ließ. Sie hatte immer noch nicht alles ausgepackt. Sollte der neue Fall sich in die Richtung entwickeln, die Corrigan angedeutet hatte, würde sie die letzten Kartons auch weiterhin nicht anrühren.

Sally betrat den Bereich der Wohnung, der ihr als Flur und Wohnzimmer zugleich diente, und suchte die Fernbedienung. Sie lag auf dem Beistelltisch, unter einer ungelesenen Zeitung. Wahllos stellte sie ein Fernsehprogramm ein, damit es in der Wohnung nicht so still war. Langsam wagte sie sich weiter in ihr kleines Reich vor, drückte sich den Flur entlang und gelangte in die neue, blitzblanke Küche, die mit allem ausgestattet war, was sich ein Sternekoch wünschen konnte, doch Sally benutzte die Geräte kaum.

Als die Schmerzen sich dann pochend in ihrer Brust meldeten, nahm sie eine Schachtel Tramadol aus einem Hängeschrank und griff nach einem Glas auf der Anrichte. Sie ging zum Kühlschrank, riss die Tür auf und warf einen Blick in die übersichtlichen Fächer. Eine halbe Flasche Weißwein bot sich an. Krampfhaft versuchte sie, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, als sie sich Wein einschenkte, wobei ein paar Tropfen außen am Glas entlangliefen und auf die saubere Küchenanrichte tropften. Dann drückte sie drei Tabletten aus der Blisterverpackung – eine mehr, als der Arzt ihr verschrieben hatte – und spülte sie mit einem kräftigen Schluck Wein herunter.

Sie schloss die Augen, wartete auf die ersten Anzeichen von Entspannung, auf eine wahrnehmbare Veränderung von Geist und Körper, doch die Wirkung der Tabletten ließ auf sich warten. Schließlich nahm sie ein anderes Glas von der Spüle und ging zum Kühlfach. Einen Moment zögerte sie, gab dem Verlangen schließlich aber nach und öffnete die Tür. Ihr alter Freund, der Wodka, schaute sie an. Seit sie beim Morddezernat angefangen hatte, lag immer eine Flasche im Eisfach. Diese hier lag eingeklemmt zwischen gefrorenem Gemüse und einer halb geplünderten Packung Pommes frites.

In letzter Zeit hatte Wodka sich als äußerst nützlich erwiesen. Er war zu einem täglichen Bedarfsmittel geworden, war nicht mehr nur Belohnung nach einem anstrengenden Tag. Bereits gegen fünf Uhr nachmittags dachte Sally an den ersten Schluck Wodka – an eine Mischung aus hochprozentigem Alkohol, Tramadol und Ibuprofen. Der narkotisierende Cocktail stieg ihr sofort zu Kopf und blendete die Welt aus, wie bei einem Junkie, der sich mit einem Schuss in andere Sphären spritzt.

Zwei Daumen hoch füllte Sally den Wodka in das dickwandige Glas und nahm einen Schluck. Die eiskalte Flüssigkeit betäubte ihre Kehle und den leeren Magen und schickte dem Hirn bereits einen Vorgeschmack auf die Freuden, die diese Mischung verhieß.

Verzweifelt wartete sie auf den erlösenden Moment, in dem Schmerz und Angst verblassten. Doch während die schlimmste innere Unruhe langsam verebbte, drängten sich die leiseren Gespenster in den Vordergrund. Tränen schienen ihr die Kehle hinaufzusteigen, brannten ihr in den Augen, liefen ihr über die Wangen. Ein paar salzige Tropfen fielen ins Glas. Aus Erfahrung wusste Sally, dass es besser war, den Tränen freien Lauf zu lassen, anstatt dagegen anzukämpfen. Irgendwann war sie so ausgelaugt, dass die Tränen von selbst versiegten. Dann saß sie reglos da, hatte sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf verbannt und lauschte auf ihren flatternden Herzschlag, bis der Schlaf sie übermannte. Am Morgen fühlte sie sich meist ein wenig besser, hatte zwar einen Kater, sah sich aber trotzdem in der Lage, der Welt ins Gesicht zu blicken.

Seitdem sie wieder in den Job eingestiegen war, kam sie mit dem Arbeitsalltag ganz gut klar. Sie wollte keine Extrabehandlung seitens der Kollegen. Doch es gab Augenblicke, da stieg eine lähmende Angst in ihr hoch, sodass sie sich nicht traute, auch nur ein Wort zu sagen, weil sie befürchtete, ihre Stimme könnte brüchig klingen. Manchmal konnte sie keinen Stift in den Fingern halten, da die Hand zu stark zitterte. Und jeden Morgen vor dem Weg zur Arbeit stand sie zuerst wie erstarrt vor der Wohnungstür und war eine Zeit lang nicht in der Lage, die Hand auszustrecken und die Tür zu öffnen. Oft drohte sie zu hyperventilieren, so groß war ihre Furcht vor der Welt draußen.

Vor zwei Wochen hatte Sally eine der schlimmsten Panikattacken seit Langem gehabt. Über eine Stunde hatte sie vor der Tür gekauert und versucht, den Mut aufzubringen, ihren Rückzugsort zu verlassen. Selbst an den Tagen, an denen sie ihre Angst in den Griff bekam und es bis zum Auto schaffte, fuhr sie durch die Straßen und tat so, als wäre alles bestens. Später saß sie dann an ihrem Schreibtisch und redete sich ein, es gäbe keinen Grund, wieder einen Tag mit quälenden Erinnerungen und Panikschüben überstehen zu müssen.

Sally trank das Glas aus und griff nach ihrem alten Freund im Kühlfach, um sich nachzuschenken.

*

Es war Mitternacht, als Corrigan nach Hause kam. Die bescheidene Doppelhaushälfte aus der Edwardischen Epoche befand sich in einem der besseren Wohnviertel von Dulwich. Hier wohnte Corrigan zusammen mit seiner Frau Kate und seinen beiden kleinen Töchtern Mandy und Louise. Er wusste, dass Kate nicht lange vor ihm nach Hause gekommen war, denn sie arbeitete als leitende Ärztin in der Notaufnahme des Guy’s Hospital und hatte zurzeit Spätschicht. Vielleicht war sie ja noch wach und hatte genug Schwung, um von ihrem Arbeitstag oder den Kindern zu erzählen.

Für gewöhnlich freute Corrigan sich darauf, abends mit Kate zusammenzusitzen und zu plaudern, aber heute war es anders. Ihm schwirrten Bilder und Gedanken durch den Kopf, die er nicht mit Kate teilen wollte, von denen er sich aber nicht so einfach lösen konnte. Egal, was Kate ihm zu erzählen hatte – er würde sich nicht darauf konzentrieren können. Aber Frauen schwatzten nun mal gern, also würde er sich wohl oder übel auf ein Gespräch mit ihr einlassen müssen. Doch im Grunde hoffte er, dass sie schlief; dann könnte er sich einen Drink mixen und ein bisschen fernsehen. Und die ganze Zeit würde er so tun, als wäre er mit den Gedanken nicht bei Louise Russell.

Leise schloss Corrigan die Haustür auf und betrat die Wohnung. In der Küche brannte noch Licht. Er legte den Autoschlüssel auf dem Sideboard im Flur ab – nicht besonders leise, denn Kate sollte wissen, dass er endlich zu Hause war. Er hasste es, wenn sie erschrak, weil sie ihn nicht hatte kommen hören.

Zielstrebig ging er in die Küche.

Kate schaute von ihrem Laptop auf. »Du bist spät«, stellte sie nüchtern fest. »Eigentlich habe ich diese Woche Spätschicht, schon vergessen?«

»Tut mir leid«, sagte Corrigan. »Wir haben einen neuen Fall.«

»Heißt das, du bist die nächsten Tage kaum zu Hause?«

»Ja, tut mir leid«, wiederholte er. »Aber du weißt ja, wie das ist, wenn wir einen neuen Fall bekommen.«

»Ja, sicher.« Sie nickte. »Wir alle wissen, wie es ist, wenn du einen neuen Fall bekommst. Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten diese Woche das Geld fürs Babysitten sparen.«

»Kirsty macht das doch prima mit den Kindern, oder nicht?«, fragte er. »Und sie kann das Geld bestimmt gebrauchen.«

»Wir aber auch. Als du noch Sergeant warst, hat man dir sämtliche Überstunden bezahlt. Wäre das heute noch so, wären wir reiche Leute.«

»Da habe ich meine Zweifel«, erwiderte er lächelnd.

»Und, wie ist der neue Fall?«, fragte Kate. »Was für eine Horrorgeschichte musst du diesmal entwirren? Wieder mal Mord, schätze ich.«

»Selbst wenn es Mord wäre, würde ich nicht darüber reden, das weißt du doch. Die Arbeit bleibt im Büro.«

»Selbst wenn es Mord wäre … aha«, sagte Kate scharfsinnig. »Also ist es diesmal kein Mord. Aber wieso sollte die Mordkommission sich mit anderen Dingen als Mord beschäftigen?«

»Es geht um eine vermisste Person.«

»Ah«, sagte Kate, interessiert und besorgt zugleich. »Jemand wird vermisst, und du vermutest, dass er oder sie nicht mehr lebt. Diesmal haben sie dir den Job übertragen, noch ehe eine Leiche gefunden wurde. Hört sich gar nicht nach der Metropolitan Police an. Dort wird doch sonst nicht so brav im Voraus geplant.«

»Nein, das vermute ich nicht«, meinte er.

»Du vermutest was nicht?«

»Ich halte die Person nicht für tot. Ich glaube, jemand hat sie entführt.«

»Eine Entführung?«

»Aber ich rechne nicht mit einer Lösegeldforderung.«

»Womit dann?«

»Wie gesagt, keine Details.« Corrigan versuchte, das Thema zu wechseln. »Wie geht’s den Mädchen?«

Kate zögerte mit der Antwort. Sie wusste nicht recht, ob sie es wagen durfte, noch mehr Informationen aus ihm herauszukitzeln. Dann aber sagte sie sich, dass sie damit nur ihre Zeit vergeudete. »Als ich zuletzt nach ihnen gesehen habe, waren sie noch munter. Aber sie vermissen ihren Dad.«

»Das hört sich doch gut an.«

»Ich weiß, was du meinst.« Kate lächelte. »Wenn du das nächste Mal nach Hause kommst, mobben sie dich – du bist gewarnt.«

»Oh, ich freue mich schon darauf.« Corrigan ging zum Kühlschrank und suchte nach einer Flasche Bier. Kate hielt ihr leeres Weinglas hoch. »Da du gerade dabei bist, könntest du mir auch noch was nachschenken.« Corrigan nahm die Flasche und goss gerade so viel ein, dass er kein Murren hörte, wünschte er doch, Kate würde bald zu Bett gehen. Dann legte er die Weinflasche zurück in den Kühlschrank und griff nach dem Bier. Er holte sein Lieblingsglas, setzte sich zu Kate an den Tisch und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein.

»Das ist dann wohl das Ende unserer Unterhaltung für heute Abend«, seufzte Kate.

»Oh, sorry.« Corrigan wandte sich ihr mit einem durchtriebenen Grinsen zu. »Ich dachte, du machst auf deinem Rechner Ballerspiele.«

»Haha«, machte sie. »Arbeit, Sean. Immer nur Arbeit. Wir tun nichts anderes als arbeiten und Rechnungen bezahlen.«

»Gibt Schlimmeres«, hielt er dagegen und war mit einem Mal froh, dass Kate noch wach war, denn jetzt konnte er sich mit Plaudern ablenken.

»Wir sollten noch mal über Neuseeland nachdenken. Weißt du noch, was du gesagt hast, als es Sally so hart erwischte? Du hast gesagt, wir sollten schleunigst von hier verschwinden und ein neues Leben beginnen. Ein Leben, in dem wir uns zur Abwechslung mal länger sehen und auch was von den Kindern haben.«

»Also, ich weiß nicht«, meinte er kopfschüttelnd. »Klingt irgendwie nach Weglaufen.«

»Am Weglaufen ist nichts auszusetzen, wenn es bedeutet, dass man sich in ein besseres Leben flüchtet.«

»Wo gibt es schon eine Garantie für ein besseres Leben«, erwiderte er. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Neuseeland ist auch nicht nur grüne Weiten und blauer Himmel. Die haben da auch ihre Probleme. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die mich in ein gemütliches Büro mit Blick auf den Pazifik setzen, damit ich dort den lieben langen Tag Däumchen drehe und die tolle Aussicht genieße? Nein, die stecken mich in irgendein Drecksloch, und wir wären wieder genau da, wo wir aufgehört haben. Nur dass wir dann auf der anderen Seite der Welt versumpfen.«

»So schlecht wie hier kann es ja wohl kaum sein«, hielt Kate beharrlich dagegen. »Ich lebe lange genug mit dir zusammen, um zu wissen, wie dein Job aussieht. Würdest du im Büro auch nur die leiseste Andeutung machen, dass du früher nach Hause musst, weil du auch mal deine Familie sehen möchtest, würden dich alle für verrückt halten. Weil du dann ja das Team im Stich lassen würdest, nicht wahr?«

»Na ja …« Corrigan rutschte auf dem Stuhl hin und her.

»Und wir beide wissen, dass du den Job sowieso keinem anderen überlassen würdest. Dafür bist du viel zu gewissenhaft.«

»Aber ich kann doch nicht mitten in den Ermittlungen aussteigen. Wem soll ich den Fall denn auf die Schnelle übergeben? Ein neuer Fall kommt rein und landet auf meinem Schreibtisch. Punkt. Es ist mein Fall, bis er gelöst ist. Wenn ich es eine Woche lang nicht pünktlich nach Hause schaffe, dann schaffe ich es eben nicht. So sind die Dinge nun mal. Das gehört halt dazu. Das ist der Job. Das ist, was ich mache. Da kann ich nicht einfach nach Neuseeland abhauen. Ich kann nirgends hin. Ich bin, was ich bin, und tue, was ich tue. Du nimmst doch nicht ernsthaft an, dass ich in irgendeinem Büro in der City hocke, einen Papierstapel von links nach rechts schiebe und von Prämien lebe. Das würde mich umbringen. So ein Klon wäre nicht mehr ich. Ich wäre zu Tode gelangweilt und würde dich anöden.«

Kate ließ sich mit der Antwort Zeit. »Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, dass du Cop sein musst. In diesem Beruf gehst du auf. Es macht dich stolz – und so soll es auch sein. Aber die Mädchen werden älter. Und zumindest einer von uns beiden sollte mehr Zeit für sie haben.«

»Und das bedeutet?«

»Tatsache ist, dass ich mehr verdiene als du und mich dafür nicht so krumm machen muss.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte er argwöhnisch.

»Ich weiß es nicht«, räumte Kate ein. »Wir bräuchten zuerst einen vernünftigen Plan. Ich weiß selber nicht, wohin das alles führen würde.«

»Wer weiß das schon?«, meinte Corrigan. »Man kann nichts anderes tun, als seinen Job zu machen und zu versuchen, etwas für sich rauszuholen. All diese Ratgeber und Gurus, die einem erzählen, wie man sein Leben umkrempeln soll – das ist doch alles Quatsch. Man muss einfach versuchen, sein Leben zu leben, so gut es geht.«

Kate musterte ihn. »Ich bin glücklich«, sagte sie, »aber ich weiß, dass es irgendwo noch etwas anderes für mich gibt. Etwas Besseres.«

Corrigan suchte in ihren braunen Augen nach Anzeichen von Glück und Zufriedenheit. Er fand sie zwar nicht, entdeckte aber auch keine Anzeichen für Unzufriedenheit, und das sollte ihm genügen.

»Und ich liebe dich«, fuhr Kate fort. »Deshalb mache ich mir Sorgen um dich. Deshalb möchte ich dich nicht mit den Bösen teilen, den Drogendealern und den Wahnsinnigen. Ich möchte dich für mich und für unsere Kinder.«

Bei diesen Worten musste Corrigan lächeln. »Ich weiß«, sagte er. »Aber ich möchte, dass ihr stolz auf mich seid, du und die Mädchen. Ich möchte, dass sie wissen, was ich tue und was ich …«

»Um Himmels willen«, unterbrach sie ihn. »Du würdest sie zu Tode erschrecken mit deinen Geschichten.«

»Die Details erspare ich ihnen. Aber du verstehst, worauf ich hinauswill.«

»Also machen wir weiter wie bisher«, sagte Kate ein wenig traurig. »Schiffe, die in der Nacht aneinander vorbeifahren. Eltern, die kaum zu Hause sind.«

»Ich bin noch nicht so weit, um alles hinter mir zu lassen. Warten wir noch ein paar Jahre, dann schauen wir weiter.«

»Ich würde nie von dir verlangen, irgendwohin zu gehen, wenn du es nicht wirklich willst«, versicherte sie ihm.

»Lass uns noch ein bisschen warten.« Diesmal klang es beinahe schon wie ein Versprechen. »Dann sehen wir weiter.«

»Ich warne dich«, erwiderte Kate. »Ich werde dich an dieses Gespräch erinnern, wenn es an der Zeit ist.«

»Das glaub ich gern. Denn du bist eine Frau.«