8.
Am Samstagmorgen um halb fünf piepste die Weckfunktion des iPhones, das auf dem Nachttischschränkchen lag. Kaum jemand wäre von diesen leisen Tönen aufgewacht, aber Corrigan löste sich aus den Schleiern des Halbschlafs. Sein nimmermüder Geist ließ ihn nie wirklich zur Ruhe kommen. Missmutig griff er nach dem iPhone und stellte es ab, ehe er sich vergewisserte, ob das Piepen Kate geweckt hatte. Er strampelte sich unter der warmen Decke frei, während die kühle Luft des Schlafzimmers über seine Haut strich. Dann hockte er auf der Bettkante und rieb sich den Nacken. Langsam bewegte er die Schultern und spürte, wie sein verspannter Körper allmählich zum Leben erwachte. Corrigan war noch immer in erstaunlich guter körperlicher Verfassung und besaß die Physis eines Mittelgewichtsboxers.
Nachdem er sich bewusst gemacht hatte, wo er sich befand und warum er so früh wach war, stand er langsam auf und schlurfte ins Bad. Müde klappte er den Toilettendeckel hoch und wollte urinieren, aber es dauerte ewig, bis sich etwas tat. Es kam nicht viel. Er ahnte, dass er wieder einmal zu wenig getrunken hatte und ohnehin viel zu wenig Schlaf bekam. Die Spülung betätigte er vorsichtshalber nicht, weil er Kate und die Mädchen nicht wecken wollte.
Im Bad stellte er sich unter den Duschkopf, stellte das Wasser auf lauwarm und zwang sich, den ersten kalten Schwall über sich ergehen zu lassen. Allmählich kam Leben in ihn. Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, ging er nach unten und kam sich wieder halbwegs wie ein Mensch vor. Aber er ahnte, dass dieses Gefühl nur ein paar Stunden anhalten würde. Der Rest des Tages war ein Kampf mit dem Ziel, Körper und Geist zusammenzuhalten, das wusste er schon jetzt. Einmal mehr würde er bis an die Schmerzgrenze gehen müssen.
Während Corrigan in der stillen Küche saß, schwarzen Kaffee trank und eine Scheibe Toast vor sich auf dem Teller hin und her schob, spürte er, dass Kate im Anflug war, obwohl er sie weder sah noch hörte. Tatsächlich betrat sie Augenblicke später die Küche in seinem alten Morgenmantel und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Die Augen in ihrem hübschen Gesicht waren aufgequollen, die Wangen leicht gerötet. Corrigan brachte ein Lächeln zustande, obwohl er immer noch müde war, und schob Kate die Kaffeetasse hin.
Sie nahm sie und trank einen Schluck. »Danke.«
»Gern geschehen. Warum bist du so früh auf?«
»Ich wollte dich sehen.«
»Oh, ich fühle mich geehrt.«
»Solltest du auch. Wie geht es mit dem Fall voran?«
»Nicht besonders«, erwiderte er schmallippig und sah, dass sie vom Kaffee aufschaute, der eigentlich ihm gehörte.
Er hörte die unterschwellige Anspannung in ihrer Stimme, als sie fragte: »Wie kommt’s?«
»Ich weiß es nicht. Ich schaffe es nicht, mich in ihn hineinzudenken, in seinen Kopf zu kommen.«
»Wer möchte schon in so einem Kopf sein?«, fragte sie.
»Na ja, wenn ich ihn schnell fassen will, ist es gar nicht schlecht, in seinem Kopf zu sein.«
Sie schwiegen einen Moment, ehe Kate bemerkte: »Du siehst echt müde aus.«
»Bin ich auch.«
Kates Stimme klang gelassen, obwohl sie jedes Mal besorgt war, wenn er morgens das Haus verließ. »Glaubst du, du hast ihn bald?«
»Innerhalb einer Woche, ja.«
»Du traust dir ja einiges zu.«
»Ich bin ihm auf den Fersen«, bekannte er, »aber ich muss mir noch über seine Motive klar werden … sein ursprüngliches Motiv. Ich bin nahe dran, aber die Antwort entgleitet mir immer wieder. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich alles rechtzeitig zusammenfügt. Und dann finde ich ihn.«
»Was verstehst du denn nicht an seinen Beweggründen?«
»Ich frage mich die ganze Zeit, warum er die Frauen festhält.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Natürlich habe ich meine Theorien, aber ich weiß es eben nicht sicher. Ich kann es mir aber nicht leisten, zu raten. Wenn du eine schnelle Antwort willst … ich würde sagen, er hält die Frauen fest, weil sie ihn an eine alte Freundin erinnern, mit der er früher möglicherweise eine feste Beziehung hatte. Weiter bin ich noch nicht gekommen. Irgendwas fehlt noch. Ich weiß nur nicht, was es ist. Irgendetwas stimmt nicht, wenn du mich fragst.«
»Genau, es stimmt nicht«, sagte Kate nüchtern.
»Wieso nicht?«
»Frauen bewahren Dinge auf, um sich an das zu erinnern, was sie einst hatten oder was sie früher waren: Fotos, alte Kleider, die Sachen der Kinder, die Morgenmäntel ihrer Männer.« Sie fasste sich an den Kragen des Bademantels, um ihre Theorie zu verdeutlichen. »Männer sind da anders. Männer sammeln Dinge, um sich vor Augen zu führen, was sie haben wollen, sich aber nicht leisten können: Modellflugzeuge, Kennzeichen von alten Sportwagen, Bilder von den Girls auf Seite drei«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Corrigan blieb ernst, ahnte er doch, dass er soeben ein wichtiges Puzzleteil zugespielt bekommen hatte. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wohin dieses Teil gehörte.
Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken. »Verdammt, natürlich. Natürlich!«
»Alles in Ordnung?«, fragte Kate besorgt.
»Du hast ganz recht«, meinte er. »Ja, das ist es. Er versucht, etwas zu erschaffen, das er nie hatte, sich aber immer ersehnt hat. Vielleicht glaubt er, es besessen zu haben, obwohl das gar nicht stimmt. Ich muss los.« Er nahm seinen Mantel und vergewisserte sich, dass er alles für den Tag dabeihatte. Schon war er an der Haustür. »Ich ruf dich an«, versprach er.
»Nein, tust du nicht«, flüsterte Kate, als er fort war. Das vertraute Flattern in der Brust meldete sich wieder. »Tust du nie.«
*
Donnelly traf kurz nach halb sechs im Büro ein. Abgesehen von der Reinigungskraft, die einen lauten Staubsauger über den Boden zog und die Papierkörbe leerte, war niemand da. Donnelly nickte dem Mann zu und ärgerte sich, dass er nicht allein war. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und tat so, als würde er in den Unterlagen lesen. In Wirklichkeit wartete er nur darauf, dass der Reinigungsmann endlich das Großraumbüro verließ. »Und ich dachte schon, ich hätte einen Scheißjob«, murmelte er vor sich hin und drückte sich vom alten Holzstuhl hoch. Der ehemals grüne Sitzbezug war verschlissen und an den Ecken ausgefranst, und die Polsterung – falls man überhaupt noch davon sprechen konnte – war schon lange flach gesessen.
Gemächlich schlenderte Donnelly durch den großen Raum, warf hier und da einen prüfenden Blick auf die Schreibtische der Kollegen, ging die Unterlagen durch, die in der Ablage warteten, und überflog die Notizzettel, die an den Bildschirmen klebten. Manchmal lagen Notizbücher herrenlos herum. Schamlos blätterte Donnelly darin, bis er zu wissen glaubte, was im Kopf des jeweiligen Kollegen vor sich ging. Auf diese Weise erfuhr er, wie viel Arbeit jeder aufgebürdet bekommen hatte, wie weit jeder Einzelne hinterherhinkte und, am allerwichtigsten, ob ihm jemand etwas vorenthielt, geschäftlich oder privat. Soweit er es übersehen konnte, war dies hier nicht nur Corrigans Mordkommission, sondern auch seine. Deshalb war es seine Pflicht, stets auf der Höhe zu sein. Donnelly war überzeugt, dass jeder Detective Sergeant, der etwas auf sich hielt, genauso denken würde.
Schließlich trat er an Sallys Schreibtisch. Auf den ersten Blick sah alles geordnet aus, aber Donnelly wusste, dass seine Kollegin seit dem Vorfall mit Sebastian Gibran neben sich stand. Und da sie der einzige andere Detective Sergeant im Team war, hatte er ein Recht darauf, sich zu vergewissern, ob Sally zurechtkam. Nur ein einziger grober Schnitzer eines Mitarbeiters, schon gingen die Ermittlungen den Bach runter.
Als Erstes blätterte er Sallys Tagesplaner durch; es war die Standardausführung in Schwarz, die jeder Beamte der Metropolitan Police jedes Jahr bekam. Doch sosehr Donnelly auch blätterte, sein Blick fiel nur auf leere Seiten – keine Notizen, keine Termine für Besprechungen, nichts. Mochte die Technik sich rasant weiterentwickeln, Detectives waren Gewohnheitstiere und würden auch noch in hundert Jahren irgendwelche Notizen in ihre kleinen Bücher kritzeln. Das war immer noch schneller als das Herumtippen auf Smartphones oder Tablets – daher verhieß ein leeres Notizbüchlein nichts Gutes. Auch in Sallys Ablagesystem herrschte gähnende Leere. Am Bildschirm klebten uralte Zettel oder Anweisungen, die sie vermutlich allesamt ignoriert hatte. Nichts deutete auf den aktuellen Fall hin.
Das ließ nur einen Schluss zu: Corrigan hatte ihr Arbeit vom Hals gehalten, um sie zu schonen und ihr noch mehr Zeit zur Regenerierung einzuräumen. Donnelly war enttäuscht, als er spürte, dass Sally sich ihm nicht anvertraut hatte, doch er schüttelte den Frust ab. Stattdessen nahm er sich vor, in Zukunft ein Auge auf sie zu haben, zu Sallys Wohl und zum Wohl des ganzen Teams. Nachdem er das Büchlein exakt an den alten Platz zurückgelegt hatte, ging er schnurstracks in Corrigans Büro.
Donnelly schlüpfte durch die Tür und stöberte in den Stapeln Unterlagen, die sich inzwischen auf zwei Tische verteilten. Aber dieser Papierkram hielt nichts Neues bereit. Corrigan war zu lange im Dienst; nie würde er etwas Wichtiges oder sensible Daten herumliegen lassen.
Donnelly zog an der obersten von drei Schubladen des Rollcontainers, den alle Kollegen unter ihrem Schreibtisch stehen hatten, aber die Schublade war abgeschlossen, wie Donnelly es nicht anders erwartet hatte. Auch die anderen Schubladen ließen sich nicht öffnen. »Kein Problem«, murmelte er und zog ein Schlüsselbund aus der Hosentasche. Schließlich fand er den Generalschlüssel, der ihm Zugang zu sämtlichen Schubladen an jedem Schreibtisch der Metropolitan Police verschaffte. Leise vor sich hin pfeifend, schob Donnelly den langen Schlüssel in das Loch der obersten Schublade. Nach kurzem Ausprobieren ließ sie sich tatsächlich mühelos öffnen. Die anderen Schubladen brauchte er gar nicht erst zu durchsuchen. Donnelly wusste, dass da nur Büroartikel und Papier lagerten.
Als er die oberste Schublade aufzog, fiel sein Blick auf den Hauptgewinn, den er sich erhofft hatte – Corrigans ledergebundenes Notizbuch. Genau das Geschenk für Weihnachten, wenn einem nichts anderes einfiel. Aber Corrigan machte sich dieses Buch zunutze, das wusste Donnelly. »Und was für Geheimnisse wirst du mir heute verraten, mein alter Freund?«, sprach er zu dem Buch, das er auf den Schreibtisch legte und aufklappte. Rasch blätterte er darin und stieß auf Seiten, die er längst kannte, bis er gekritzelte Passagen entdeckte, die er noch nicht gesehen hatte.
»Na, was haben wir denn hier?« Donnelly glaubte, zumindest teilweise Zugang zu Corrigans Geist zu erhalten, Einblicke in seine geheimsten Theorien und innersten Gedankengänge über diesen Fall und ältere Ermittlungen. Sein Blick fiel auf eine verblüffende Anordnung von Namen. Einige waren rot eingekreist, andere durchgestrichen. Die rasch hingeworfenen Notizen unterschieden sich in Schriftgröße und sogar Schriftart, als hätte ein gutes Dutzend Leute in das Buch geschrieben. Stark emotional behaftete Begriffe hatte jemand in unterschiedlichen Farben auf eine Seite gekritzelt: Liebe, Zorn, Hass, Eifersucht, Habgier, Besitzdenken, Leidenschaft, Furcht. Auch hier waren einige Schlagworte eingekreist, und dünne Linien, die zwischen den Worten gezogen waren, deuteten eine thematische Verbindung an.
»Entweder sind Sie ein Genie oder ein Irrer«, sagte Donnelly zum imaginären Corrigan, während er weiterblätterte und auf die Namen der aktuellen Opfer stieß, Louise Russell und Karen Green. Eine lebte nicht mehr, die andere wurde immer noch vermisst. Greens Name war blau und rot eingekreist, Russells Name nur blau. Alles in allem ein Sammelsurium an Wörtern – Namen und Orte – und ein Meer aus farbigen Markierungen. Corrigan hatte jeden Quadratmillimeter der Seiten ausgenutzt und Gedanken hingekritzelt, die oft kaum zu entziffern waren. Kurze, prägnante Fragen zogen sich über die Seiten: Warum sechs/sieben Tage? Warum hält er sie fest? Wieso die Vergewaltigung? Warum Gewalt? Wieso ähneln sich die Opfer? Wieso auch die Häuser? Warum mordet er? Wieso lässt er Tote nackt zurück? Warum weder Reue noch Mitgefühl? Warum ein Waldstück? Warum Parkplätze mit Baumbestand? Fühlt er sich wohler im Wald? Lebt er sogar dort? Hält er sich an ganz bestimmtem Rückzugsort auf? Zerbrochene Beziehungen? Begehrt er sie? Liebt er sie? Was sind die Beweggründe? Das Motiv? Was ist sein Motiv?
»Gott«, murmelte Donnelly, während er blätterte und blätterte und seitenweise Notizen eines Besessenen sah, der sich selbst bis an die Grenze der Belastbarkeit trieb. Zwischendurch kam Donnelly der Gedanke, ob Corrigan hiermit vielleicht die Grundlage für seine vorzeitige Pensionierung legte – das Gekritzel als Beweis für völlige Überarbeitung und erste Anzeichen eines Burnout-Syndroms. Aber Donnelly kannte seinen Vorgesetzten. Corrigan hatte schon früher seine Gedanken wie besessen hingeschmiert, und meistens hatten die Notizen genau dann ihren Höhepunkt erreicht, wenn Corrigan das Team zum Täter führte. Aber noch nie hatte Donnelly so viele vollgeschriebene Seiten gesehen, die sich nur auf einen Fall bezogen.
Er schreckte zusammen, als er ein Geräusch hinter der Tür zum Großraumbüro vernahm. Rasch ließ er das Notizbuch wieder in der Schublade verschwinden, schloss ab und huschte aus Corrigans Büro an den eigenen Schreibtisch.
Kaum war er dort angekommen, stieß Anna die Schwingtüren auf. Frisch und munter betrat sie das Büro, obwohl sie nicht viel mehr als drei oder vier Stunden geschlafen haben mochte. Donnelly begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, wobei sein Schnurrbart sich an den Spitzen nach oben wölbte. »Guten Morgen. Schön, dass man noch einen Frühaufsteher im Team hat.«
»Ich mag die frühen Stunden des Tages«, erwiderte Anna. »Dann ist alles noch so still und friedlich. Genau das, was ich brauche, um in Ruhe nachdenken zu können.«
»Und ich dachte, Sie kommen nur rein, weil Sie mich beeindrucken wollten«, scherzte Donnelly.
»Mag sein«, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln.
»Oder wollten Sie vielleicht jemand anders beeindrucken? Jemanden, der einen höheren Dienstrang bekleidet?«, fragte er, doch sie ging nicht darauf ein. »Also«, fuhr er fort, »Sie sind was? Kriminalpsychiaterin?«
»Hoffentlich nicht. Hört sich ja fast an, als sähen Sie in mir eine kriminelle Psychiaterin«, erwiderte sie schmunzelnd. »Dann würden Sie mich bestimmt festnehmen.«
»Sie wissen, wie ich es meine.«
»Klar. Ich bin Psychiaterin und Kriminologin, spezialisiert auf die Erstellung von Täterprofilen. Das FBI hat schon seit Langem Fallanalytiker oder sogenannte Profiler, aber das ist hierzulande relativ neu bei der Polizei. Aus irgendeinem Grund hat man sich hier lange dagegen gesträubt.«
»Reden Sie von uns?«, sagte Donnelly und lächelte. »Also, schießen Sie los, beeindrucken Sie mich. Erzählen Sie mir, was Sie schon über den Mann wissen, den wir suchen.«
»Für präzise Aussagen ist es noch zu früh. Ich brauche mehr Informationen, mehr Zeit, um den Fall zu studieren. Womöglich ergeben sich Parallelen zu früheren Fällen. Erst dann kann man sich einem Täterprofil nähern.«
»Ach, kommen Sie«, ermunterte Donnelly sie, »das bleibt doch unter uns, ganz inoffiziell.«
Sie seufzte. »Also gut. Soweit ich es auf Grundlage der bisherigen Fakten beurteilen kann, ist er weiß und höchstwahrscheinlich klein und schmächtig. Ich komme zu diesem Schluss, weil er Betäubungsmittel einsetzt, um sich die Opfer gefügig zu machen. Vermutlich ist er nicht besonders kräftig. Er hat eine schwere Vergangenheit und wurde als Kind mit Sicherheit misshandelt oder von den Eltern verlassen, vielleicht beides. Wie ich hörte, ist dieser Mann nicht vorbestraft, aber ich bin davon überzeugt, dass er schon früher Einbrüche begangen und sich an Frauen vergriffen hat. Vielleicht ist er einfach nicht gefasst worden.«
»Durchaus möglich«, gab Donnelly ihr recht, zumindest in den meisten Punkten.
»Dieser Tätertyp nimmt für gewöhnlich Trophäen von seinen Opfern, aber in diesem Fall vermute ich, dass die entführten Frauen selbst diese Trophäen sind, allerdings vergängliche. Denn er wird ihrer überdrüssig und entsorgt sie sozusagen ohne Anzeichen von Reue, Mitgefühl oder Schuld. Ist dieser Punkt erreicht, sind die Frauen in seinen Augen nur noch Objekte.«
Sie machte eine kurze Pause. Als Donnelly keine Anstalten machte, einen Kommentar abzugeben, fuhr sie fort: »Ich vermute weiterhin, dass er am Rande der Gesellschaft steht und ein Außenseiter ist, der allein lebt. Ich glaube nicht, dass er imstande ist, eine dauerhafte Beziehung zu führen. Genauso wenig wird er zulassen, dass jemand in seine Privatsphäre eindringt, und der Mangel an Selbstbewusstsein bedeutet, dass er an einem sicheren Rückzugsort lebt, was wiederum den Schluss zulässt, dass er hier aus der Gegend stammt. Denn er kennt die Viertel gut. Er sieht sie jeden Tag. Diese Gegend ist seine Welt, und es würde ihm nie einfallen, außerhalb dieser vertrauten Umgebung zu operieren.«
Wieder legte sie eine kurze Pause ein. »Nur weiter«, sagte Donnelly.
»Der Umstand, dass die Opfer einander ähneln«, fuhr sie fort, »ist äußerst interessant. Ich denke, die Frauen erinnern ihn an jemanden, den er abgrundtief hasst, vielleicht die eigene Mutter. Möglicherweise war sie früher nicht in der Lage, ihn vor den Misshandlungen zu bewahren, unter denen er gelitten hat. Vielleicht wurde er von seinem Vater missbraucht oder geschlagen, vielleicht vom Lebensgefährten der Mutter.«
»Aber würde sein Hass sich dann nicht gegen den Mann richten, der ihn missbraucht hat?«, warf Donnelly ein. »Wieso die Mutter?«
»Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Hass auf andere Personen projiziert wird. Wahrscheinlich liebte er seine Mutter, aber zu anderen hatte er keine Beziehung aufgebaut, wahrscheinlich nur zu den Menschen, die ihn schlecht behandelt haben. Aus Sicht dieses Täters wäre es sinnlos, den Hass gegen den zu richten, der ihn misshandelt hat – ebenso wenig würden wir eine Wespe hassen, die uns gestochen hat. Der Grund dafür ist, dass keine emotionale Bindung besteht. Liebe und Hass liegen immer gefährlich nah beieinander.«
»Was ist mit der sexuellen Komponente?«, fragte Donnelly.
»Natürlich gibt es bei seinen Überfällen einen gewaltsamen sexuellen Aspekt«, erklärte sie. »In diesem Punkt unterscheidet der Täter sich nicht groß von anderen Sexualstraftätern, denn auch ihm verleiht die Vergewaltigung ein Gefühl von Macht und Kontrolle. Und genau das, nämlich Macht und Autorität, besitzt dieser Mann in seinem normalen Umfeld nicht. Sein normaler Alltag macht ihm zu schaffen. Er steht nicht auf der Sonnenseite des Lebens, wenn Sie so wollen.«
Donnelly deutete Applaus an. »Sehr eindrucksvoll. Erstaunlich, was man heutzutage aus Büchern lernen kann.«
»Tatsächlich basieren meine Erkenntnisse und Beobachtungen auf klinischen Studien von Schwerverbrechern. Ich habe viele Gespräche mit Sexualstraftätern und Mördern geführt. Einige von ihnen waren geistig normal, andere nicht.«
»Sie werden lachen, aber ich konnte da meine eigenen Erfahrungen machen.«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als Corrigan das Großraumbüro betrat. Erstaunt registrierte er, dass er an diesem Morgen nicht der Erste war, der zur Arbeit erschien. »Sie sind aber früh dran. Wollen Sie jemanden beeindrucken?«
Donnelly und Anna lächelten. Erneut schwang die Tür auf, und Sally kam herein, beladen mit Taschen und einem kleinen Papptablett mit Aussparungen, in denen Kaffeebecher steckten. Sie stellte die Taschen ab, balancierte das Tablett und schob es auf einen Schreibtisch in unmittelbarer Nähe der Kollegen.
»Ich wusste nicht, wer alles hier sein würde, also habe ich Kaffee aufs Geratewohl mitgebracht«, erklärte sie und ließ sich auf ihren Stuhl sinken.
»Danke, Sally«, sagte Donnelly.
»Ja, vielen Dank«, kam es von Anna.
»Sie sehen ein bisschen angezählt aus, Sally«, bemerkte Donnelly.
»Oh, danke, ich mag Sie auch«, gab sie zurück und verzog das Gesicht.
»War ja nicht böse gemeint«, versuchte er abzuwiegeln.
»Wir werden alle ziemlich zerrupft aussehen, wenn dieser Fall abgeschlossen ist«, erklärte Corrigan. »Also lassen wir solche Bemerkungen.« Er nahm sich einen Becher vom Tablett, ohne darauf zu achten, ob der Kaffee mit Milch war oder nicht. »Also dann, da alle anwesend sind, auf die es ankommt, können wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«
»Oh ja, schön«, warf Donnelly mit gespielter Freude ein.
»Wenn ich richtig liege, bleiben uns noch zwei, vielleicht drei Tage, ehe Louise Russell sterben muss.« Bei dieser kalten, nüchternen Feststellung wurde selbst Corrigan unbehaglich zumute. »Und wenn Louise tot ist, wird es nur eine Frage von Tagen sein, dass er sich ein neues Opfer sucht.«
»Einen Ersatz?«, fragte Anna.
»Ich glaube schon. Wir wissen bereits, dass er zwei Geiseln zugleich festhielt. Das scheint Teil seiner Vorgehensweise zu sein. Deshalb können wir davon ausgehen, dass er wieder so handelt.«
»Das ergibt Sinn«, pflichtete Anna ihm bei.
»Warten Sie mal …«, meldete Sally sich zu Wort. »Nehmen wir an, er ersetzt die Frau, die er tötet. Warum hat er dann niemanden entführt, um Karen Green zu ersetzen? Sie wurde vor fast sechsunddreißig Stunden ermordet.«
»Möglicherweise hat er sich ein weiteres Opfer ausgeguckt«, sagte Corrigan. »Sämtliche Polizeireviere haben die Order, vermisste Personen sofort zu melden, die auf die Beschreibung von Karen Green passen. Sollte er schon jemanden entführt haben, werden wir es bald erfahren.«
»Aber was ist, wenn die nächste Frau gar nicht als vermisst gemeldet wird?«, überlegte Donnelly.
»Dann warten wir auf die nächste Leiche«, antwortete Corrigan nüchtern – wieder eine kalte Wahrheit. »In der Zwischenzeit nutzen wir alle Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Featherstone hat zusätzliche Detectives angefordert, die von Haus zu Haus gehen sollen, um weitere Zeugen zu befragen. Wir dehnen das Gebiet aus. Polizisten sind in den Wohngebieten der Frauen und am Fundort der Leiche unterwegs und fragen etwaige Zeugen. Selbst Polizeihubschrauber sind im Einsatz. Darüber hinaus sind Beamte zu Fuß oder mit dem Wagen unterwegs und suchen nach Orten, an denen unser Täter seine Opfer möglicherweise festhält. Infrage kommen verfallene Industrieanlagen, abgelegene Gehöfte und alles, was unterirdisch verläuft – alte Kohlenbunker, Kellergewölbe, Schutzräume aus dem Krieg, also alles, was sich in einem Umkreis von mehreren Meilen um den Tatort befindet. Unser Mann legt keine großen Strecken zurück, da bin ich sicher.«
»Sie denken, er hält sie unterirdisch fest?«, fragte Anna, worauf alle Blicke auf Corrigan gerichtet waren.
»Ja. Dr. Canning hat Spuren von Kohlenstaub unter den Finger- und Fußnägeln des Opfers entdeckt.«
»Wie gern wäre ich ein paar Minuten mit diesem Schweinehund allein«, sagte Donnelly.
»Bewahren Sie sich Ihre Wut für den Moment auf, wenn wir ihn fassen«, sagte Corrigan. »Alle so weit zufrieden?«
»Ja, klar«, meinte Sally müde.
»Hört sich nach einem Plan an«, kommentierte Donnelly den Gesprächsverlauf gewohnt spöttisch.
»Eine Sache noch«, sagte Corrigan. »Ich glaube, dass er sich als Postbote verkleidet. Auf diese Weise verschafft er sich Zutritt zu den Häusern.«
»Wie kommen Sie darauf, Chef?«, fragte Sally. »Nichts weist darauf hin.«
»Wir hatten einen neuen Zeugen«, erklärte Corrigan ausweichend. Er wollte nicht zugeben, dass er dem alten Douglas Levy zugesetzt hatte. »Er sagte etwas in der Richtung.«
»Ein neuer Zeuge?« Sally war verblüfft.
»Ach, eine lange, uninteressante Geschichte. Glauben Sie mir, der Täter gibt sich als Postbote aus. Aber behalten wir das noch für uns. Ich möchte nicht, dass die Presse Wind davon bekommt. Und vergessen wir nicht, dass die Spurensicherung von einem Tatort zum nächsten hetzt und erst noch die DNA abgleichen muss. Erst dann können wir sicher sein, dass wir es mit ein und demselben Täter zu tun haben.«
»Es ist immer derselbe«, stellte Anna ein wenig zu laut fest.
»Klar«, stimmte Corrigan ungehalten zu, »aber das Gericht kann einem den letzten Nerv rauben, sobald es um die Frage geht, welche Beweise wir vorlegen können. Theorien sind schön, aber nicht, wenn die Anwälte sich einschalten.«
Donnelly und Sally schauten zur Decke und überließen Anna ihrer kleinen Zurechtweisung.
Corrigan setzte nach. »Da wir schon mal alle hier sind, möchte ich Ihnen noch Folgendes sagen: Diese Ermittlungen nehmen gewaltige Dimensionen an. Gott und die Welt ist auf den Beinen und sucht nach Louise Russell, aber davon bekommen wir nichts mit. Wir sind diejenigen, die hier festsitzen und uns durch Aktenberge kämpfen müssen. Wir telefonieren, bis uns die Ohren brennen, schicken die Spurensicherung los, belästigen mögliche Zeugen, quälen uns durch verdammte Berichte und versuchen nebenbei, die Chefetage davon zu überzeugen, dass wir nicht jeden ungelösten Mordfall der letzten zehn Jahre nachträglich aufklären können. Aber bedenken Sie, dass die Ermittlungen in diesem Fall im ganzen Land mit Interesse verfolgt werden. Und das bedeutet, dass alle ihr Bestes geben müssen. Also, keine Zigaretten am Tatort, keine Scherze, wenn die Presse oder das Fernsehen dabei ist. Und seien Sie vorsichtig, was Sie am Handy erzählen. Wenn wir Telefonate abhören können, sind die Medien bestimmt auch dazu in der Lage. Wird also ein Gespräch mit dem Labor plötzlich irgendwo in der Boulevardpresse abgedruckt, wissen Sie, wie die an die Infos gekommen sind. Haben das alle verstanden?« Seine kleine Zuhörerschaft nickte. »Gut.«
Corrigan wollte in sein Büro, als Sally ihn aufhielt.
»Worum geht es eigentlich? Warum tut unser Mann so etwas?«
»Es geht um Akzeptanz«, antwortete Corrigan. »Er will endlich das haben, was er sich immer schon ersehnt hat, aber bislang nicht bekommen konnte. Es geht um Liebe – er will sie lieben und von ihnen geliebt werden.«
»Liebe!«, rief Donnelly aus. »Also für mich sieht das nicht nach Liebe aus. Mitten in der Nacht schleppt er die Frau in ein verlassenes Waldstück und quetscht ihr die Luft aus dem Leib. Dann lässt er die nackte Leiche einfach liegen und schert sich nicht darum, ob ein Hund sie findet. Wie, bitte schön, soll das denn Liebe sein?«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass er vernünftig denkt«, betonte Corrigan. »Seine Auffassung von Liebe ist völlig anders als bei uns. Trotzdem geht es letzten Endes auch bei ihm um Liebe. Er ersehnt sie sich mehr als alles andere, denn Liebe und Wertschätzung hat er in seinem ganzen Leben nicht erfahren.«
»Soll er uns vielleicht auch noch leidtun?«, spöttelte Donnelly. »Der Typ ist doch nur einer dieser kranken Perversen, den man nur eine Nacht zu den normalen Gefangenen zu sperren braucht, ehe er in Sicherungsverwahrung kommt. Die anderen Knackis werden schon dafür sorgen, dass er seine gerechte Strafe bekommt.«
»Nein, er soll uns nicht leidtun«, erwiderte Corrigan, »aber wir sollten dennoch fragen, was ihm im Leben widerfahren ist und was dazu geführt hat, dass er heute so ist, wie er ist.«
»Und woher sollen wir wissen, was diesem Irren widerfahren ist?«, hakte Donnelly nach. »Was ist, wenn er einfach Spaß an seinen perversen Trieben hat?«
»Der Kerl ist kein Sebastian Gibran«, sagte Corrigan unbedacht und warf Sally einen verlegenen Blick zu. »Der Schlüssel zu seinen Taten liegt in der Vergangenheit. Er ist kein kühl berechnender Sadist wie Gibran.«
»Mag sein, aber dieser ganze Mist mit Liebe und so weiter, das glaube ich einfach nicht. Sie übrigens auch nicht.« Donnelly deutete auf Anna.
»Ach, wirklich?« Corrigan richtete den Blick auf Anna.
Sie räusperte sich. »Nun, ich sehe keinerlei Hinweise darauf, dass die Taten dieses Mannes mit Liebe zu tun haben. Ich sehe vielmehr den Drang, Macht auszuüben. Nicht zu vergessen Rachsucht, die auf die Opfer projiziert wird. Deshalb die sexuelle Gewalt und die Misshandlungen. Aber Anzeichen für Mitgefühl oder gar Zuneigung kann ich nirgends entdecken.«
»Wie erklären Sie sich dann die Bodylotion und die Spuren des Parfums an der Leiche? Die Spuren waren frisch. Karen Green kann sich nicht vor der Entführung damit eingecremt haben.«
»Es könnten die Kosmetika des Opfers gewesen sein«, rief Donnelly ihm in Erinnerung. »Das wissen wir nicht.«
»Selbst wenn sie Karen gehörten, hat er ihr die Lotion und das Parfum gegeben. Für mich sind das zumindest Ansätze von Zuneigung«, erklärte Corrigan.
»Ich glaube nicht, dass die Kosmetika dem Opfer gehörten«, meinte Anna. »Ich vermute eher, die Lotion und das Parfum sind die Marken, die jene Person benutzt hat, die der Mann abgrundtief hasst.«
»Also seine Mutter?«, schlug Donnelly vor.
»Vielleicht.« Anna wollte sich nicht festlegen.
»Da irren Sie sich«, sagte Corrigan. »In manchen Punkten mögen Sie recht haben, aber Sie haben diesen Mann noch nicht verstanden – Sie verstehen nicht, was ihn ursprünglich antreibt und warum er tut, was er tun muss.«
Die Atmosphäre im Büro war gespannt, bis Sally das Schweigen brach, indem sie fragte: »Und was unternehmen wir als Nächstes?«
»Uns bleibt vorerst nichts anderes übrig, als die Spurensicherung auf Trab zu halten und weitere Hausbefragungen durchzuführen. Warten wir ab, welche Informationen dabei ans Tageslicht kommen. Ich bin in meinem Büro, falls jemand Fragen hat.« Corrigan nahm seinen Regenmantel und eilte in sein eigenes kleines Reich.
Donnelly schüttelte den Kopf, ehe er sich einen Stapel Ermittlungsergebnisse vorknöpfte.
»Ich mag es nicht, aus diesen Bechern zu trinken«, meinte Sally und blickte düster auf den Coffee-to-go-Becher. »Kommen Sie, gehen wir in die Kantine. Ich gebe Ihnen einen frischen Kaffee aus.«
Anna zuckte die Schultern. »Keine schlechte Idee.«
Die beiden Frauen verließen das Großraumbüro und sprachen erst weiter, als sie sicher waren, außer Hörweite zu sein.
»Und?«, wollte Sally wissen. »Wie denken Sie über Corrigan? Er ist angespannt, nicht wahr?«
»Ich würde ihn eher als arrogant und schroff bezeichnen«, entgegnete Anna.
»Er tut es nicht mit Absicht«, versicherte Sally ihr. »Manchmal kann er nicht aus seiner Haut. Er ist zu sehr von den Ermittlungen vereinnahmt.«
Sie schwiegen eine Zeit lang und trafen auf uniformierte Kollegen, die nach dem Frühstück die Kantine verließen. »Ich habe nie jemanden erlebt, der so an die Ermittlungen herangeht wie Corrigan«, griff Sally dann den Faden wieder auf. »Er verlässt sich nicht gern ausschließlich auf Beweise, selbst dann nicht, wenn man sie ihm auf einem silbernen Tablett serviert. Er verlässt sich lieber auf seine Intuition, auf seinen Instinkt.« Sie betraten die Kantine, in der bereits um diese Uhrzeit reger Betrieb herrschte, und suchten sich zwei freie Plätze am Ende eines langen Tisches. Anna setzte sich, während Sally zur Theke ging, Kaffee bestellte und mit zwei Porzellantassen zurück an den Tisch kam. »Wo waren wir gerade?«
»Sie haben mir die Vorgehensweise Ihres Chefs beschrieben«, sagte Anna.
»Genau, Detective Inspector Sean Corrigan.«
»Arbeiten Sie gern mit ihm zusammen?«
»Gern ist vielleicht nicht das passende Wort. Aber es ist interessant, mit ihm zu arbeiten.«
»Weil er sich auf seine Intuition verlässt?«, fragte Anna.
»Corrigan ist in der Lage, so zu denken wie die Täter. Fragen Sie mich nicht, wie er das anstellt oder wie so etwas überhaupt möglich ist. Er gibt sich nicht mit dem Wie und Wann ab, sondern versucht, sich in den Täter hineinzuversetzen, bis in die letzte Gehirnwindung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er scheint tatsächlich begreifen zu können, warum die Täter tun, was sie tun. Manchmal kann das ganz schön unheimlich sein. Mal ist Corrigan in der Rolle des Täters, im nächsten Moment ist er wieder er selbst.«
»Ist er an einen Ort gebunden, um sich in die Rolle des Täters versetzen zu können?«, fragte Anna. »Den Tatort, beispielsweise?«
»Nein, ich glaube nicht, dass er an irgendeinen Ort gebunden ist. Aber er hält sich oft lange an den Tatorten auf. Offenbar kann er am Ort eines Verbrechens Informationen für sich herausholen, die anderen nicht einmal auffallen. Details, die sonst keiner sieht.«
»Spricht er mit sich selbst, wenn er einen Tatort untersucht?«
»Das habe ich noch nicht erlebt, aber wenn man bei ihm ist, erzählt er einem, was er sieht und fühlt. Wie ein Kommentar eines Dokumentarfilmers.«
»Er fühlt es, sagten Sie gerade?«
»Ja, er versucht, nachzuempfinden, was der Täter gefühlt hat.«
»Interessant.«
»Stellen Sie deshalb so viele Fragen? Weil Sie ihn interessant finden?«
»Ich nehme es an.«
»Finden Sie ihn nur interessant oder auch attraktiv?«
Anna lachte. »Interessant, aus rein wissenschaftlicher Perspektive. Ich bin verheiratet. Er übrigens auch.«
»Ja, er ist verheiratet, aber voller Vitalität«, scherzte Sally. »Und er sieht gut aus, finden Sie nicht? Er hält sich fit, achtet auf die Linie. Jetzt sagen Sie nicht, das ist Ihnen noch nicht aufgefallen. Das würde ich Ihnen nicht abnehmen.«
»Er ist nicht mein Typ. Ich stehe nicht auf Männer, die sich ihre Stimmungsschwankungen so deutlich anmerken lassen.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Sally. »Aber es gab mal eine Zeit, da hatte ich mich ein bisschen in ihn verguckt, muss ich zugeben. Ich fand die Intensität seiner Gefühle sehr anziehend.«
Anna hatte für dieses Thema offenbar nicht viel übrig. »Hatte er kürzlich ein traumatisches Erlebnis? Vielleicht eine schwere Verletzung, die er sich im Dienst zugezogen hat? Oder war da etwas in seinem Privatleben?«
Sallys Lächeln erstarb. »Nicht dass ich wüsste.«
»Das erstaunt mich.«
»Wenn Sie an Verletzungen und posttraumatischen Stresssymptomen interessiert sind, bin ich die richtige Ansprechpartnerin.«
»Wie bitte?« Anna schien mit Verzögerung zu begreifen, worauf Sally anspielte. Schlagartig wurde sie ernst. »Oh, ja, tut mir leid, ich habe gehört, was Sie durchgemacht haben. Das muss furchtbar gewesen sein.« Natürlich verschwieg Anna, welche Rolle sie bei der Beurteilung von Sebastian Gibran gespielt hatte, denn sie ahnte, dass sie dadurch jegliches Vertrauen zerstören würde. »Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Die Wunden sind ganz gut verheilt …« Sally hielt inne, da sie selbst nicht wusste, ob sie von ihren körperlichen oder den seelischen Wunden sprach. »Ab und zu bin ich ein bisschen kurzatmig, aber das wird schon.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß.« Sally senkte die Stimme und schaute sich rasch um, weil sie sichergehen wollte, dass niemand mithörte.
»Haben Sie sich in psychologische Behandlung begeben?«, wollte Anna wissen.
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich Cop bin. Wir konsultieren keine Psychiater. Das wäre ein Eingeständnis, dass wir nicht klarkommen, und wenn man nicht mehr klarkommt, hat man in diesem Job nichts verloren. Das heißt, man hat versagt. Versagen gibt es hier aber nicht. Die meisten Kollegen sind Männer, und die wenigen Frauen, mit denen ich zusammenarbeite, arbeiten schon so lange mit Männern zusammen, dass sie denken wie Männer. Ich schätze, ich war auch so, bis … na, Sie wissen schon.«
»Niemand würde schlecht von Ihnen denken, wenn Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.«
»Das würde hier aber keiner verstehen, glauben Sie mir. Wäre ich ein Mann, würde ich meine Narben wahrscheinlich cool finden. Am Strand oder am Pool würde ich sie mit breiter Brust präsentieren – Sie wissen ja, wie dämlich Männer sein können. Männer brauchen keine Hilfe. Es würde ihnen reichen, im Büro im Mittelpunkt zu stehen, ein richtiger Held eben. Sie würden es genießen. Bei Frauen ist das anders. Diese Narben machen mich hässlich. Sie brandmarken mich als Opfer.«
»Sie sind weder hässlich noch ein Opfer. Sie …«
»Doch, bin ich«, unterbrach Sally sie kalt. »Ich bin beides.«
Anna musterte sie, ehe sie noch einmal ihre Fühler ausstreckte. »Glauben Sie mir, Sally, Sie sollten mit jemandem über Ihre Gefühle sprechen. Ich wäre gern dieser Jemand, wenn Sie möchten. Lassen Sie es langsam angehen, bestimmen Sie Ihr Tempo selbst. Ich bin eine gute Zuhörerin.«
»Ich werde darüber nachdenken.« Sally stand auf. »Tja, ich muss zurück ins Büro.« Sie nahm die Kaffeetasse mit und ging zur Kantinentür.
Anna starrte in ihre Kaffeetasse, als suche sie dort nach Antworten. Wie es aussah, hatte sie jetzt zwei neue Fälle, nicht nur einen.
*
Als Corrigan allein in seinem Büro saß, schottete er sich gegen sämtliche äußeren Eindrücke ab. Inzwischen trudelten die anderen Mitarbeiter des Teams ein, scherzten, lachten oder unterhielten sich. Corrigan hatte bereits gerötete Augen, weil er die ganze Zeit auf den Bildschirm starrte und sich durch jede Verbrechensmeldung oder Stalker-Beschwerde scrollte, die im Verlauf der letzten zwei Jahre in das System eingespeist worden war.
Als Donnelly mit ein paar Akten unter dem Arm ins Büro kam, schaute Corrigan nicht einmal auf.
»Sie gehen die Verbrecherdatenbanken durch, Chef?«, fragte Donnelly und schaute Corrigan über die Schulter. »Glauben Sie, Sie finden dort etwas?«
»Was?« Corrigan schien wie aus einer Trance zu erwachen.
Der Detective zeigte auf den Monitor. »Ich frage mich gerade, wonach Sie suchen.«
»Ist nur so eine Idee«, erwiderte Corrigan. »Ein bestimmter Blickwinkel.«
»Können Sie mir mehr verraten?«
»Wenn es stimmt, dass unser Mann die Opfer als Ersatz für etwas benutzt, das er haben will, aber nicht bekommt, muss das, was er will, eine Frau sein.«
»Klingt logisch.«
»Und wenn diese Frau ihm so wichtig ist, muss er sie vorher beobachtet haben. Vielleicht hat er sogar versucht, sich ihr zu nähern, sie anzusprechen. Das heißt, er könnte sie belästigt haben.«
»Ein Stalker?«
»Möglich. Sogar ziemlich wahrscheinlich. Und vielleicht hat sie das mitbekommen, hatte irgendwann die Nase voll und hat es der Polizei gemeldet …«
»Wie weit gehen Sie bei der Recherche zurück?«
»Ein paar Jahre. Wenn ich mich grob an die Personenbeschreibungen halte, die auf unsere Opfer zutreffen, werde ich wohl nicht viele Treffer haben. Die genaue Beschreibung kann ich nicht in die Maske eingeben, für den Fall, dass die Frau sich äußerlich verändert hat.«
»Junge, attraktive Frauen, die einen Stalker am Hals haben.« Donnelly zog eine Braue hoch. »Da haben Sie eine Menge zu tun, Chef.«
»Trotzdem, ich glaube, es lohnt sich.«
»Nehmen wir an, Sie haben recht«, fuhr Donnelly fort. »Er braucht diese Frauen als Ersatz für jemanden, für eine Person, die er …«
»Haben will, aber nicht bekommt«, führte Corrigan den Satz zu Ende.
»Okay. Was ich nicht kapiere – warum schnappt er sich nicht einfach die Frau, die er haben will? Warum macht er mit ihr nicht das, was er mit den anderen anstellt?«
Corrigan wirkte verwirrt. Er schien nicht glauben zu können, dass sein Detective Sergeant diese Sache nicht durchschaute. »Weil sie seine Göttin ist«, erklärte er geduldig. »Und die Frau, die man vergöttert, bringt man nicht um.«
»Verstehe.« In Wirklichkeit war Donnelly nicht überzeugt von dem, was Corrigan dachte. Aber er tat so, als ergäben die Mutmaßungen Sinn. »Dann werde ich Sie mal mit Ihrer Arbeit allein lassen.«
Corrigan antwortete nicht, als Donnelly das Büro verließ, da er mit den Gedanken bereits woanders war. Einen Moment lang schwebten seine Finger über dem Keyboard, während er sich zu konzentrieren versuchte. Dann tippte er die Kriterien in die Suchmaske des Programms. Als er die Suche-Taste drückte, lehnte er sich zurück und wartete. Das Kribbeln im Bauch verriet ihm, wie aufgeregt er war.
Nach ein paar Sekunden veränderte sich die Farbe des Bildschirmhintergrunds, und die Zahl in der rechten oberen Ecke zeigte mehr als 250 registrierte Fälle von Belästigung an. Frauen, die vom Alter und vom Aussehen her Karen Green ähnelten, hatten sich über Zudringlichkeiten von Stalkern beschwert und Anzeige erstattet. Corrigan merkte, wie seine Aufregung abnahm und Enttäuschung wich.
»Das sind zu viele«, flüsterte er. Er würde Tage brauchen, um sich durch diese Berichte zu arbeiten. Und damit wäre es nicht getan: Er müsste Opfer und Zeugen anrufen und die Beamten der jeweiligen Wache befragen. So viel Zeit hatte er nicht. Also musste er die Suchkriterien einschränken, wobei allerdings die Gefahr bestand, genau das entscheidende Merkmal auszulassen, das ihn auf die richtige Spur geführt hätte.
Plötzlich sah er in der Reflexion im Monitor nicht mehr sein eigenes Gesicht, sondern die Züge von Karen Green. Sie starrte ihn aus großen Augen an, die ihr ohnehin leichenblasses Gesicht noch bleicher wirken ließen. Dann verblasste ihr Anblick, bis Corrigan das markante Gesicht von Louise Russell vor Augen stand. Stumm warf sie ihm einen flehenden Blick zu, sie endlich zu befreien. Als ihre Gesichtszüge festere Konturen annahmen, sah Corrigan, dass es zu spät war: Ihre Haut war fahl, das feuchte Haar klebte ihr im Gesicht, und Laub wehte um ihr Haupt.
»Es sind die Augen«, flüsterte Corrigan, als auch Louise Russells Gesicht verblasste und schließlich verschwand. »Ihr habt beide grüne Augen. Die Augen sind wichtig für ihn. Die würde er niemals vergessen.«
Schnell tippte er die Augenfarbe in die Suchmaske und drückte erneut auf »Search«. Wieder überkam ihn gespannte Erwartung, bis die neue Zahl in der rechten oberen Ecke erschien: dreiundvierzig Treffer. Mehr, als Corrigan erwartet hatte, aber immerhin, das war zu schaffen.
Er holte sich den ersten Polizeibericht auf den Schirm und begann zu lesen.
*
Thomas Keller wartete oben am Treppenabsatz und starrte in die Dunkelheit des Gewölbes. Da er nicht wusste, wie er seine Erregung unter Kontrolle bekommen sollte, blieb er zunächst in der offenen Tür stehen und lauschte auf mögliche Gefahren. Unterbewusst rechnete er damit, dort unten Schatten über den Boden huschen zu sehen. Untrügliche Anzeichen dafür, dass eine der beiden aus ihrem Käfig ausgebrochen war. Denn sie waren kräftige, athletische junge Frauen – wenn sie ihn aus dem Hinterhalt anfielen, könnten sie ihn verletzen, das wusste er, und er fürchtete sich davor.
Als er sich vergewissert hatte, dass alles zu seiner Zufriedenheit war, stieg er langsam die Stufen hinunter, wobei er darauf achtete, dass die Speisen auf dem Tablett nicht verrutschten. Die saubere, gebügelte Wäsche hatte er sich über den Unterarm gelegt.
Als er das Gewölbe betrat, hatte er nur Augen für den Käfig, in dem Deborah Thomson saß. Ein glückseliges Lächeln huschte über seine Züge. Angestrengt spähte er durch das Halbdunkel hinüber zu der zitternden Gestalt, die sich unter die schmutzige Decke gekauert hatte. Den Schmerz und die Angst der Frau nahm er nicht wahr; er sah nur Sam, die sich jetzt in Sicherheit befand. In seiner Obhut.
Vorsichtig stellte er das Tablett auf dem Tisch hinter dem Wandschirm ab und legte die Kleidungsstücke über den Rand des Paravents. »Guten Morgen«, begrüßte er Deborah. »Macht es dir etwas aus, wenn ich das Licht einschalte?« Keine Antwort. »Gut«, sprach er weiter. »Ich kann sonst nämlich schlecht sehen, was ich mache.«
Er streckte die Hand aus und zog an der Kordel. Helles gelbliches Licht erfüllte das Gewölbe. Langsam ging er zu Deborahs Käfig und bedeutete ihr mit offenen Händen, dass sie nichts zu befürchten habe. Neben ihrem Käfig ging er in die Hocke und lächelte beseelt, während sie sich in den hintersten Winkel ihres Gefängnisses zurückzog. Die Decke bis unter das Kinn gezogen, starrte sie ihn aus großen Augen an wie ein Reh, das auf der Straße von Scheinwerfern geblendet wird.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er. »Ich hoffe, dir ist vom Chloroform nicht allzu schlecht gewesen. Tut mir leid, dass ich das Zeug benutzen musste, aber es war die einzige Möglichkeit, dich sicher hierherzubringen. Ich weiß, dass du mir bald verzeihen wirst.« Nervös rieb er die Hände aneinander. »Aber egal, du willst dich wahrscheinlich frisch machen und vielleicht etwas essen. Danach wirst du dich besser fühlen. Okay, dann wollen wir dich mal da rausholen.«
Er sprach so unbeholfen wie bei einem ersten Date, aber die Worte erschreckten Deborah bis ins Mark. Unwillkürlich versuchte sie, noch weiter von ihm abzurücken, bis das Gitter ihres Käfigs einen Abdruck auf ihrer Haut hinterließ.
»Alles okay, alles okay«, versuchte er sie zu beruhigen, »du brauchst nicht lange hier zu sein, versprochen. Ich tue das doch nur, damit du in Sicherheit bist und wieder zu Kräften kommst. Bis du alles verstehst. Wir müssen vorsichtig sein, weil die nach dir suchen und alles tun werden, um dich zurückzuholen. Sie werden dir weismachen, jemand anders zu sein, der du natürlich nicht bist. Bald wirst du verstehen, was ich für dich getan habe … für uns.«
Die Adern an ihrem Hals zuckten, als Deborah immer wieder versuchte, Speichel herunterzuschlucken, der nicht da war. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Übelkeit erfasste sie. In ihrer Todesangst verkrampfte sie, bis sie merkte, dass sie unkontrolliert zu zittern begann. Erste Schocksymptome setzten ein: Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, und der Körper begann, nur noch die lebenswichtigen Organe und das Hirn mit Blut zu versorgen, damit sie bei Bewusstsein blieb. Ihre Lippen wurden bleich, ihre Haut nahm eine gräuliche Färbung an.
Thomas Keller bemerkte nichts von alledem. Er öffnete bereits den Käfig. Langsam schwang er die Tür auf, um die Frau nicht zu erschrecken. Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht, so aufgeregt war er in diesem Augenblick. Seine wulstigen Lippen nahmen eine tiefere Färbung an, während er den Blick über die Gestalt gleiten ließ, die ihre Rundungen unter der alten Decke verbarg. Auch diesmal spürte er die Regungen in der Lendengegend. Sein Glied richtete sich auf, als er an die nackte Frau dachte … wie weich und warm ihre Haut sich angefühlt hatte! Ohne nachzudenken kroch er in den Käfig. Seine Augen wurden groß, während er eine gewaltige Erektion bekam und seine sexuelle Gier mit jeder Sekunde unerträglicher wurde.
Plötzlich erwachte er wie aus einem Delirium und zuckte zusammen, als ihm klar wurde, dass er sich in Gefahr begab. Wieder hatte er sich zu etwas Verbotenem verleiten lassen. Als er auf seine Hände starrte, sah er, dass er unbewaffnet war. Voller Panik kletterte er aus dem Käfig, griff in die Tasche seiner Jogginghose und riss den Elektroschocker heraus, der sich in einer aufgerissenen Naht verfangen hatte. Keuchend starrte er in den Käfig und lächelte erleichtert. Er sah an ihrem Blick, dass sie wusste, was er in der Hand hielt. Der Druck in seinen Lenden schwand. Mit einem Mal hatte er sich selbst und die Frau wieder unter Kontrolle.
Kurz schaute er auf den Elektroschocker, ehe den Blick wieder auf die Frau richtete. »Keine Angst«, sagte er. »Ich will dir nicht wehtun. Damit schütze ich dich nur.«
»Ich möchte nicht, dass Sie mich beschützen. Ich will, dass Sie mich gehen lassen.«
Er hatte nicht damit gerechnet, ihre Stimme zu hören. Einen Moment lang war er so erschrocken, dass er schwieg. Das Lächeln in seinem Gesicht war maskenhaft starr wie bei einer Puppe. »So was solltest du nicht sagen, Sam. Ich bin doch hier, weil ich mich um dich kümmern will.«
»Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert!«, rief sie ungewohnt heftig. »Ich will nur, dass Sie mich freilassen und endlich aufhören, mich Sam zu nennen. Ich heiße Deborah! Deborah Thomson!«
»Nein«, behauptete er und versuchte, seine aufwallende Wut im Zaum zu halten. »Das wollen die dich nur glauben machen. Das sind alles Lügen. Du heißt Sam. Weißt du denn nicht mehr? Ich bin’s, Tommy. Ich habe dir doch gesagt, dass ich wiederkomme. Damit wir zusammen sein können, wie es immer hätte sein sollen.«
»Ich kenne Sie nicht!«, schrie sie, und Tränen des Zorns und der Angst liefen ihr über die Wangen. »Ich heiße Deborah Thomson, und ich will nach Hause.«
»Halt’s Maul!« Seine Miene verzerrte sich vor Wut, als er sich dem Käfig näherte, den Elektroschocker vor sich ausgestreckt. »Halt’s Maul, verdammt! Das sind Lügen. Du musst dich von ihren Lügen befreien, dann wirst du dich an alles erinnern.«
Louise Russell hatte alles aus ihrem Käfig heraus verfolgt. Furchtsam blickte sie vom Entführer zu der anderen Frau und hoffte inständig, dass Deborah ihren Ratschlag beherzigen würde, ahnte sie doch, dass sie, Louise, anderenfalls den Zorn des Irren zu spüren bekam. Genauso war es auch Karen Green ergangen. Louise führte sich vor Augen, wie unbedacht sie mit Karens Sicherheit gespielt hatte; sie hatte die Gefahr unterschätzt, die von diesem Wahnsinnigen ausging. Und jetzt war es Deborah, die nicht ahnen konnte, in welche Gefahr sie ihre Mitgefangene brachte. Denn jeden Augenblick könnte der Verrückte seine Wut an ihr, Louise, auslassen.
Stumm betete sie, dass Deborah ihren Widerstand aufgab. Angsterfüllt starrte sie auf den Irren, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Ein dumpfes Dröhnen breitete sich in ihrem Kopf aus. »Bitte hör auf! Sei still!«, flehte sie Deborah an und merkte gar nicht, dass sie unbewusst viel zu laut sprach. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass Deborah schwieg. Erleichtert sank sie an die Gitterstäbe ihres Käfigs und atmete zittrig die Luft ein. Dann lauschte sie in die Stille, die sich in dem unterirdischen Gewölbe ausgebreitet hatte.
Schließlich sprach der Verrückte wieder. »Es tut mir leid«, sagte er zu Deborah. »Ich habe nicht daran gedacht, was du durchgemacht hast. Du wirst müde sein.« Er ging zum Wandschirm, ließ Deborah jedoch keinen Moment aus den Augen, als er das Tablett nahm. Dann kam er zurück, stellte das Essen in den offenen Käfig und ging wieder zum Paravent. Vorsichtig nahm er die Kleidung und legte die Sachen ebenfalls vorn in den Käfig, unmittelbar an der Tür. Schweigend schloss er ab. »Ist wahrscheinlich besser, wenn du dich später frisch machst«, meinte er. »Aber die Kleidung solltest du trotzdem anziehen. Es sind ja deine Sachen. Deine Kleider, nicht die Lumpen, die dir die anderen aufzwingen.« Er suchte in ihrer Miene nach Anzeichen von Zustimmung, aber Deborah starrte ihn nur aus ihren grünen Augen an. »Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich ausruhen kannst.«
An der Käfigtür zögerte er und wartete, dass sie sich bei ihm bedankte und zum Ausdruck brachte, wie sehr sie sich auf ein Wiedersehen freute. Umso bitterer war die Enttäuschung für ihn.
»Okay, also … dann«, sagte er stockend und versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen. »Bis später.«
Müde, vornübergebeugt schlurfte er zur Lampe, knipste sie aus und stieg die Stufen hinauf. Schwer fiel oben die Tür ins Schloss. Der Widerhall brach sich dumpf am Mauerwerk des Gewölbes.
Eine ganze Weile sagte keine der Frauen etwas. Sie warteten mit angehaltenem Atem, lauschten. Als die Stille des unterirdischen Gewölbes anhielt, atmete Louise auf. Inzwischen kannte sie die Angewohnheiten ihres Entführers – wenn er nicht sofort zurückkam, blieb er Stunden fort.
»Deborah, du musst mir zuhören …«, sagte sie dann eindringlich.
»Der Typ ist ein verdammter Psycho«, schimpfte Deborah leise vor sich hin.
»Ja, das ist er«, gab Louise ihr recht. »Er ist irre und wird uns beide umbringen, wenn wir uns nicht überlegen, wie wir hier rauskommen.«
»Das hast du mir alles schon erzählt. Ich soll ihn angreifen, wenn er mich aus diesem scheiß Käfig lässt. Dann soll ich mir die Schlüssel schnappen, ehe wir ihn gemeinsam überwältigen, richtig?«
»Ja, das ist unsere einzige Chance.«
»Das klappt nicht! Und dann muss ich es ausbaden!«
Louise schwieg und suchte verzweifelt nach einer Strategie, Deborahs Abwehrhaltung zu durchbrechen.
»Ich war wie du«, sagte sie schließlich. »Vor ein paar Tagen war ich wie du. Er gab mir eine Matratze und eine Decke … er ließ mich raus, damit ich zur Toilette konnte, mich waschen konnte. Ich bekam zu essen, zu trinken. Und genau die Kleider, die jetzt bei dir liegen, hat er mir gegeben, Deborah. Ich musste sie anziehen …«
Deborah starrte auf die Wäsche, die am Eingang des Käfigs lag. »Genau diese Sachen?«, fragte sie ungläubig.
»Wenn ich’s dir sage.«
Zögernd nahm Deborah die gebügelten und gefalteten Kleidungsstücke und schleuderte sie dann voller Wut gegen das Gitter, trat mit den Füßen danach und fluchte. »Wenn dieser kranke Scheißkerl glaubt, ich mache bei seinen dreckigen Fantasien mit, täuscht er sich!«, schimpfte sie laut. Es kümmerte sie nicht, ob er sie hören konnte.
»Nein!«, versuchte Louise sie zu beruhigen. »Hör auf damit. Wir brauchen die Kleidung. Du musst sie anziehen.«
»Vergiss es, verdammt noch mal!«
»Kapierst du denn nicht, dass wir uns auf sein Spielchen einlassen müssen! Er muss das Gefühl haben, dass alles so läuft, wie er es sich vorstellt. Erst dann wird er unvorsichtig. Und erst dann können wir ihn überrumpeln.«
»Du meinst, dass ich ihn überrumpeln soll, nicht wahr? Ich bin es, die den Hals riskieren soll!«
»Wir haben keine andere Wahl.«
»Doch«, sagte Deborah und drehte den Kopf zur Seite. Für sie schien die Diskussion beendet zu sein.
Louise schwieg eine Weile, ehe sie einen neuerlichen Versuch unternahm.
»Wenn er wiederkommt, Deborah, wird er zu mir in den Käfig klettern, mich schlagen und vergewaltigen, und du musst es mit ansehen und wirst mich schreien hören. Später kommt er wieder und bringt mich weg, um mich zu töten. Und bin ich erst verschwunden, bist du an der Reihe …«
»Sei still, bitte sei still«, bettelte Deborah, den Tränen nah. »Ich will das nicht hören.«
»Er kommt zu dir und nimmt dir die Kleider weg. Auch die Matratze und die Decke. Und wenn er dann eine andere Frau anschleppt und in diesen Käfig steckt, wirst du so wie ich, Deborah. Du nimmst meinen Platz ein.«
Louise hörte, wie Deborah leise schluchzte. »Also gut«, schniefte sie schließlich. »Was sollen wir machen?«
Zum ersten Mal seit Tagen schöpfte Louise Hoffnung. Vielleicht gab es doch noch eine winzige Chance, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein Prickeln durchrieselte sie bei dieser Aussicht. Schon stellte sie sich vor, diesem dunklen Verlies endlich entfliehen zu können, hinauf zum Licht – ein Licht, das die Rückkehr nach Hause verhieß, zu ihrem Mann. Sie würden wieder ein glückliches Leben führen, zusammen mit den Kindern, die Louise sich so sehr wünschte. »Wenn er das nächste Mal kommt, lässt er dich raus«, sagte sie, »damit du dich waschen kannst. Dann musst du die Kleider tragen, sonst wird er sauer und lässt dich im Käfig. Er bringt wieder Essen auf dem Tablett mit. Das stellt er auf dem Tisch hinter dem Paravent ab. Nachdem du dich frisch gemacht hast, sagst du ihm, du nimmst das Tablett mit in den Käfig, weil du dort sicher bist. Genau in dem Moment musst du es tun.«
»Was tun?«, fragte Deborah ängstlich.
»Schlag mit dem Tablett zu! Schmeiß ihm das Essen ins Gesicht. Dann schlägst du so oft zu, wie du kannst, und schnappst dir den Elektroschocker. Verpass ihm damit Strömschläge, bis er nicht mehr kann. Wenn er nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, schnappst du dir die Schlüssel. Er hat sie immer in der linken Hosentasche. Wenn er sich wehrt, bevor du den Schlüssel hast, trittst du ihn und schlägst weiter auf ihn ein. Du schaffst das, ich weiß es!«
»Ich war auf der Schule in New Cross«, sagte Deborah. »Da lernt man, wie man tritt und zuschlägt.«
»Gut!«, rief Louise. »Sobald du den Schlüssel hast, wirfst du ihn zu meinem Käfig. Ich greife durch die Gitterstäbe und mache das Schloss auf. An das Schloss komme ich heran, ich hab’s schon ausprobiert. Wenn ich raus bin, komme ich zu dir und helfe dir. Dann prügeln wir so lange auf den Scheißkerl ein, bis er halb tot ist, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Wir schleifen ihn in einen dieser stinkenden Käfige und sperren ihn ein.«
»Nichts leichter als das«, meinte Deborah ironisch.
»Ich weiß, es hört sich einfacher an, als es vielleicht ist«, sagte Louise, »aber wenn ich schon sterben muss und meinen Mann nicht wiedersehe, will ich zumindest um mein Leben kämpfen. Wenn dieser ganze Horror hier an die Öffentlichkeit kommt, sollen die Leute sagen, dass ich es versucht habe, dass ich mich gewehrt habe. Ich lasse mich nicht einfach abschlachten wie Vieh. Ich will, dass mein Mann stolz auf mich ist.«
»Okay«, sagte Deborah. »Und wenn wir ihn in einem der Käfige haben, was dann?«
»Wir lassen ihn hier. Für immer. Wir lassen den Bastard verhungern.«
»Aber die Polizei. Was sagen wir der?«
»Nichts. Wir erzählen einfach, dass er uns an irgendeinem dunklen Ort festgehalten hat. Mehr wissen wir nicht. Wir sagen, er hätte uns die Augen verbunden und uns wieder nach Hause gebracht. Bei der Suche nach ihm können wir der Polizei nicht helfen, weil wir ja nichts wissen. Und die ganze Zeit hockt er hier unten und verrottet in diesem Gewölbe. Er schreit um Hilfe, aber niemand wird ihn hören.«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Deborah. »Wir sollten es besser der Polizei erzählen.«
»Damit er ein paar Jahre gemütlich in irgendeinem Knast sitzt und dann wieder auf freien Fuß kommt? Nein, er hat etwas anderes verdient.«
»Aber dann sind wir Mörder.«
»Nein. Wir töten ihn ja nicht. Wir sorgen nur dafür, dass er nicht am Leben bleibt.«
»Das haut nicht hin. Irgendjemand wird ihn vermissen, vielleicht bei der Arbeit … oder er hat Familie. Dann finden sie ihn, ehe er tot ist, und keiner erfährt, was er getan hat. Er wird wieder frei sein. Und er weiß, wo wir wohnen. Er wird mir auflauern … dir auch.«
Louise dachte nach, konnte ihre Rachegedanken aber nicht verdrängen. »Du hast recht. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen.«
»Wie meinst du das?«
»Nachdem er dir die Kleidung weggenommen hatte, habe ich kurz darauf Rauch gerochen.«
»Das heißt?«
»Ich vermute, er hat deine Sachen irgendwo in der Nähe verbrannt.«
»Ja, und?«
»Also hat er irgendwo Benzin.«
Sie schwiegen beide. In der Stille malten sie sich aus, wie das Feuer wütete und die Schreie ihres Peinigers von den Mauern des Gewölbes widerhallten. Der Gestank von verbranntem Fleisch stach in der Nase, der beißende Qualm suchte sich einen Weg nach draußen. Louise schluckte, überwältigt vom Ausmaß ihrer Rachsucht.
»Ich kann das nicht«, sagte Deborah und schauerte.
»Du brauchst es ja nicht zu tun«, lautete Louises Kommentar. »Ich mache das. Ich will es. Ich will ihn schreien hören. Zuerst sorge ich dafür, dass das Feuer gut brennt, dann mach ich die Tür zu. Wenn die Flammen ihn nicht umbringen, dann der Rauch.«
»Und wenn sie ihn finden?«
»Wir erzählen der Polizei, dass er sich umbringen wollte. Als er uns freigelassen hat, sagte er zu uns, er würde sich selbst bestrafen, indem er sich das Leben nimmt. Deshalb hat er sich im Käfig eingesperrt. Um sich selbst zu richten. Er war auf der Suche nach Vergebung.«
»Das glauben die uns nie.«
»Deborah, dieser Irre ist ein Mörder und Vergewaltiger. Glaubst du, es interessiert die Polizei, was hier wirklich vorgefallen ist?«
»Ich weiß nicht …«
»Das interessiert keinen. Und wir können ihn eines Tages vergessen. Nie wieder müssen wir Angst haben, dass er uns irgendwo auflauert. Wir wachen nachts nicht mehr auf, weil wir meinen, er steht neben unserem Bett. Wir denken irgendwann nicht mehr an ihn, sehen seine Visage nicht mehr, wenn wir die Augen zumachen. Wir können wieder unser altes Leben führen und alles tun, was wir immer schon tun wollten, bevor dieser Scheißkerl alles zerstört hat. Glaubst du, ich überlasse es ihm, über unser Leben zu bestimmen?«
»Aber die werden jede Menge Fragen stellen«, sagte Deborah. »Sollten wir nicht doch alles der Polizei erzählen?«
»Nein!«, schrie Louise. »Ich will kein Opfer sein! Seit Tagen stecke ich in diesem stinkenden Loch und hatte alle Zeit der Welt, über mich nachzudenken. Und eines weiß ich: Ich will kein Opfer sein. Ich will nicht, dass irgendwelche Leute mich mitleidig anschauen und mich mit ihrer Fürsorge erdrücken. Ich will nicht, dass mich dauernd jemand fragt, wie es mir geht. Cops und Reporter werden mein Haus belagern. Glaubst du, ich will vor Gericht in der Zeugenbank stehen und alles noch einmal haarklein beschreiben, während dieser Hurensohn grinsend neben seinem Verteidiger sitzt und in seinen perversen Fantasien schwelgt? Und was, wenn er freigesprochen wird? Was tun wir dann? Nein, dazu werde ich es nicht kommen lassen. Lieber schaue ich zu, wie er bei lebendigem Leibe verbrennt. Ja, ich will ihn brennen sehen!«
Schweigen senkte sich herab. Louise hatte die Finger um die Gitterstäbe gekrallt, neigte den Kopf zur Seite und wartete auf Deborahs Antwort.
»Okay, okay, ich mache es. Ich versuch’s. Es wird so sein wie damals mit meinen Brüdern, als wir miteinander gerauft haben. Aber ich helfe dir nicht dabei, ihn zu verbrennen. Wenn alles klappt, helfe ich dir, ihn in den Käfig zu ziehen, aber mehr nicht. Ich kann ihn nicht anstecken, das schaffe ich nicht …«
»Das brauchst du auch gar nicht«, versicherte Louise ihr.
»Und sobald wie hier raus sind, trennen sich unsere Wege. Wir sehen uns nie wieder und sprechen nie mehr über das, was wir hier erlebt haben. Wir halten uns an die Story, die wir erzählen. Ganz gleich, wie sehr man uns mit Fragen löchert, wir bleiben bei dieser Version. Er hat sich selbst umgebracht, wie er es angekündigt hat. Einverstanden?«
»So machen wir es.« Louise lockerte den Griff um die Gitterstäbe. Dann lachte sie bitter auf. Es waren fremdartige Laute, die die düstere Atmosphäre des unterirdischen Gewölbes durchdrangen und Deborah aufrüttelten. Zweifel nagten an ihr.
»Ist alles okay bei dir?«, fragte sie ängstlich.
»Ja.« Louise hatte Mühe, ihr Lachen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich musste nur daran denken, wie irre das Ganze ist. Ich sitze mit einer völlig fremden Frau in einem dunklen Kellerloch, in einem verdammten Käfig, und wir unterhalten uns über Dinge, die uns im Lebtag nicht eingefallen wären. Das ist so abgedreht, dass ich lachen muss.«
Deborah wurde von einer neuerlichen Woge der Angst erfasst. Doch es war nicht die panische Angst, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie hörte, dass oben die Metalltür aufging. Jetzt befürchtete sie vielmehr, dass die einzige Person, die ihr bei der Flucht helfen konnte, den Verstand verlor. Wenn das der Fall war, hätten sie beide keine Chance. »Louise?«, fragte sie. »Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«
»Ich bin nicht wahnsinnig, wenn du das meinst«, sagte Louise nüchtern.
»Natürlich nicht, ich dachte nur … du steckst seit Tagen hier unten. Hast so viel mitgemacht. All die Dinge, die dieser Bastard der anderen Frau …«
»Karen. Sie hieß Karen.«
»Ja, sorry, was er Karen angetan hat, wollte ich sagen. Du hast es mit ansehen müssen. Da ist es bestimmt schwer, nicht den Verstand zu verlieren. Ich glaube, ich hätte das nicht ausgehalten …«
»Wir werden ja sehen, ob es klappt«, sagte Louise mit kalter Stimme. »Aber jetzt musst du die Sachen anziehen, sonst schöpft er Verdacht.«
Deborah beugte sich vor und griff zögernd nach der Wäsche, die vorher Louise getragen hatte. Als sie den Rock berührte, durchzuckte es sie heiß. Irgendwie fühlte sie sich schuldig an dem Schicksal, das die andere Gefangene hatte erleiden müssen.
Sie brauchte lange, bis sie sich überwand und die Kleidungsstücke anzog.