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»Ja, leben wir denn in einem Tollhaus?«, polterte Meisner. »Kann man das denn gar nicht stoppen! Sind denn alle irre geworden? Dich laden sie auch nicht mehr zu ihren Talkshows ein.«

Richard lächelte zufrieden. »Ich habe die Regeln verletzt. Jetzt gelte ich als unberechenbar.«

»Aber es war doch sehr eindrucksvoll.«

»Eben. Ich habe der Moderatorin die Schau gestohlen. Das geht gar nicht.«

»Waren die Würfel eigentlich manipuliert?«

»Nein«, sagte Richard. »Und eigentlich hatte ich gehofft, dass dies klar geworden wäre. Wie übrigens auch, dass dieser Strohberg gar nicht an Telekinese glaubt. Er benutzt Katzenjacob nur, um sich als Volkstribun zu etablieren.«

Wir saßen tief unten im Stuttgarter Kessel im Tauben Spitz und hielten Kriegsrat. Sally versorgte uns mit Maultaschen, Rostbraten und Salat und mehr oder weniger alkoholischen Getränken. Wenn ich Meisners knappe und etwas konspirative Einladung, »Kommen Sie heute Abend zum üblichen Treffpunkt, Richard ist auch da«, richtig deutete, dann hatte er das Treffen vorgeschlagen. Mit mir direkt kommunizierte er immer noch nicht wieder, jedenfalls nicht mit technischen Hilfsmitteln wie Telefon oder Computer. Wobei ich ihm zugutehielt, dass es eine reine Vorsichtsmaßnahme sein mochte. Schließlich wurde meine biologisch-soziologische Existenz derzeit lückenlos überwacht, um daraus Informationen für die Fabulationswelt zu ziehen.

Mein Wanzendetektor, von dem ich nie geglaubt hatte, dass ich ihn so oft ernsthaft brauchen würde, hatte im Tauben Spitz übrigens nicht ausgeschlagen. Darum berichtete ich, was ich in Berlin von Pio Janssen erfahren hatte. Bei der Darstellung meines Interviews mit Ingmar Neuner ließ ich die Aktivitäten des Poltergeistes weg.

»Das hilft uns nicht weiter«, sagte Meisner, »Neuner ist sicher klug genug, seine Aussage nicht vor der Polizei zu wiederholen. Und die Spur zum Auftraggeber endet an der Leiche eines Russen aus dem Mafiamilieu. Die russischen Behörden schreiben seinen Tod einem Bandenkrieg zu.«

»Und leider ist auch der mitteilsame Kronzeuge tot. Wie der Zufall so spielt. Jetzt sind es sieben außer Rosenfeld. Desirée, Angela K., drei Rumänen, Pio Janssen und Héctor. Zählt man den Russen dazu und Rosenfelds Steuerberater, wären es neun.«

Richard runzelte die Stirn.

Meisner seufzte. »Man mag nicht an Zufall glauben, gell?«

»Gibt es denn neue Erkenntnisse?«, fragte Richard.

Sie schüttelte den Kopf. »Einzig Héctor Quicio gibt Spielraum für Spekulationen. Juri war, wie wir inzwischen wissen, tatsächlich in Dénia. Aber eine Gewalttat ist nicht nachzuweisen. Als Angela K. und Desirée starben, saß Katzenjacob längst in U-Haft. Desirée ist zudem definitiv allein in ihrer Wohnung verstorben. Angela K. kam bei einem tragischen Unfall ums Leben. Der Fahrer des Wagens war ein Siebzehnjähriger, der keinerlei Verbindung zum Fall Rosenfeld hat.«

»Dann müssen wir wohl mit dem unheimlichen Gespenst namens Zufall leben«, bemerkte Richard.

Sally brachte eine zweite Runde Getränke.

»Ich habe gehört, Sie wollen nach Neuschwanstein fahren«, sagte Meisner gemütlich. »Richard hat so was angedeutet.«

»Tatsächlich? Er will aber nicht. Und die Fahrt hat nur Sinn, wenn alle mitkommen, die bei unserem Tischrücken an Ihrem Geburtstag dabei waren. Außerdem möchte ich Finley McPierson mitnehmen. Er ist Spezialist für Zauberkunststücke und Betrug. Und mich belämmert seit Monaten Kitty zu Salm-Kyrburg, dass wir fahren, denn ihr Medium spürt große Gefahren.«

»Klingt interessant. Also ich käme mit. Ich war noch nie in Neuschwanstein. Los, Richard, hab dich nicht so! Schadet doch nicht. Ob allerdings Krautter mitkommt, da habe ich so meine Zweifel.«

Richard lächelte. »Er wird. Ich werde ihn erpressen.«

»Was?« Meisner lachte. »Womit denn?«

»Er war Ende letzten Jahres mit einem Gast aus den USA in Neuschwanstein. Krautter hat sich die vollen Fahrtkosten erstatten lassen, obgleich seine beiden Nichten mit dabei waren.«

»Was du so alles weißt!«

Ich verkniff mir meine Verwunderung. Was hatte sich verändert seit unserer Fahrt von Hamburg nach Stuttgart?

»Ich weiß sogar«, sagte Richard, »dass Krautter Generalbundesanwalt werden soll. Die jetzige geht Ende September in Pension. Es heißt, unsere Bundesjustizministerin will Krautter vorschlagen. Unser Generalstaatsanwalt betreibt das.«

»Ach!« Meisner schnaubte. »Wegloben ist auch eine Möglichkeit.«

»Aber eine schlechte«, antwortete Richard grimmig. »Schwache Männer sind gefährlich. Wenn ich Krautter zwingen kann, mit uns zu fahren, weil er sich fürchtet, dass ich andernfalls seinen kleinen Spesenbetrug offenlege, dann hat er verloren.«

»Willst den Posten wohl selber haben«, spöttelte Meisner. »Aber dann musst du dich mit dem Fall Katzenjacob herumschlagen.«

»Ich würde ihn an die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zurückgeben.«

»Bloß nicht!«, schrie Meisner.

Richard lächelte. Er hatte sich irgendwie verändert. Schwer zu fassen. Er wirkte entspannter als sonst. Trennungen sollen ja zuweilen guttun. Sie befreien schlafende Talente. Seit er sich nicht mehr von mir aufknöpfen ließ, war Richard bereits als Magier in einer Talkshow aufgetreten und hatte mich nebenbei dem öffentlichen Medieninteresse ausgeliefert. Undenkbar, dass er sich der Folgen seiner Behauptung, ich hätte die Lottozahlen beeinflusst, nicht bewusst gewesen war. Verfolgte er einen Plan oder hatte er die Peilung verloren? Siegessicher wirkte er eigentlich immer. Und er war seit jeher am besten, wenn er auf verlorenem Posten stand. Er war im Herzen ein Hasardeur. Er konnte alles aufs Spiel setzen, um einen Gegner zu vernichten. Nur, wer war hier eigentlich sein Gegner? Wirklich Oiger Groschenkamp? Oder doch vielleicht LOStA Krautter? Das war jetzt nicht zu klären.

Ich schlug erst einmal einen Tag für unsere Fahrt nach Neuschwanstein vor und erbot mich, zehn Karten für die letzte Führung um halb sechs zu bestellen.

»Und diese Geisterjäger hätten nichts dagegen«, fragte Meisner, »dass McPierson uns begleitet? Der hustet denen doch was.«

»Die sind dermaßen von ihrer Sache überzeugt, dass sie sich von Professionalität nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil, Kitty erhofft sich, dass Finley ihre parapsychologischen Untersuchungen adelt. Dann kann sie damit werben: Von Professor Finley McPierson zertifiziert. Garantiert echt.«

»Das wird sicher lustig«, sagte Meisner. Sie zog ihren immer noch papiernen Terminkalender.

Richard griff sich ebenfalls ins Jackett, zog aber weder Terminplaner noch Zigarettenschachtel heraus, sondern einen Briefumschlag, dem er einen Brief entnahm. Er entfaltete ihn und reichte ihn mir über den Holztisch.

Zuerst fiel mir das kleine Quadrat ins Auge, das Gnomon, das Zeichen der Kuldeer. Es prangte rechts oben. Darunter stand: »Wartegg-Konferenz, Schloss Wartegg, Von Blaarer Weg, CH- 9404 Rorschach«, dabei eine Telefonnummer.

Der Brief lautete: »Sehr geehrter Herr Dr. Weber, im Namen des Lenkungskreises erlaube ich mir, Sie zur diesjährigen Konferenz vom 16. –18. September nach Schloss Wartegg einzuladen. Falls Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit telefonisch zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen, Reto Federer, Generalsekretär.«

»Hä? Was ist das?«

»Die Wartegg-Konferenz, Lisa, ist eine Tagung, die einmal im Jahr abgehalten wird. Die erste dieser Art fand Anfang der sechziger Jahre in Rorschach statt, das liegt auf der schweizerischen Seite des Bodensees, damals in der Zehntscheuer. Seit das Schloss Wartegg renoviert ist, findet sie dort statt und heißt Wartegg-Konferenz.«

»Dann ist es wahr? Den Weltlenkungsausschuss, von dem Pio Janssen gesprochen hat, den gibt es wirklich?«

»Allerdings ist er nicht so geheim. Es gibt nur keine Erklärung am Schluss, deshalb ignorieren ihn die Medien weitgehend. Aber es stimmt, zu dieser Konferenz kommen hohe Staatsmänner, Wirtschaftsbosse und Wissenschaftler, um einen Gedankenaustausch über ein jeweils aktuelles weltpolitisches Thema zu pflegen. Während des Kalten Kriegs sollen dort sowjetische Führer mit amerikanischen Präsidenten zusammengekommen sein. Sicher ist, dass die Konferenz die Annäherung der USA an China auf den Weg gebracht hat. Man beschloss, dass ein Tischtennisspieler aus den USA die Tischtennis-Weltmeisterschaft 1971 nutzen sollte, um eine Freundschaft zu einem chinesischen Spieler aufzubauen. Ein Jahr später besuchte Nixon China. Daher der Begriff Pingpong-Diplomatie.«

Meisner lachte, obgleich sie es wusste. Aber vielleicht doch auch nicht so genau.

»Und … äh …« Ich wusste nicht einmal mehr, was ich fragen sollte. Doch: »Du … du hast also von Anfang an gewusst, dass das Gnomon ihr Zeichen ist!«

»Nein. Ich wusste es nicht, bis ich vor ein paar Tagen diesen Brief bekam. Ich habe mich aber nach unserer Schottlandreise bei einem Wappenkundler erkundigt. Nach seinen Angaben ist dieses Gnomon ein altes römisches Steinmetzzeichen, wie man es an der Porta Nigra in Trier findet. Zweites Jahrhundert nach Christus. Es ist mit der Christianisierung nach Schottland gekommen und im neunzehnten Jahrhundert zum Zeichen der Kuldeer geworden.«

»Und was haben diese Wartegger mit den Kuldeern zu tun?«

»Vermutlich besteht die Verbindung nur noch in der Symbolik. Tagesordnung und Gästeliste werden beispielsweise von einem zehnköpfigen Lenkungsausschuss und einem Generalsekretär ausgearbeitet.«

»Die Elfmänner! Die Hendeka! Scheiße!«

»Sicher auch ein gewollter Bezug zur Athener Demokratie.«

»Die ja so demokratisch gar nicht war«, bemerkte Meisner. »Sondern ziemlich elitär.«

»Und worum geht es dieses Jahr?«, fragte ich. »Im Brief steht ja nicht viel drin.«

»Ich habe gestern Reto Federer angerufen. Es soll um Katzenjacob und das Kalteneck-Experiment gehen. Denn …« Er zögerte. »Ich weiß es nicht sicher, aber ich vermute stark, dass es die Wartegg-Konferenz selbst war, die es angestoßen hat.«

»Richard, ich bitte dich!«, rief Meisner. »Es ist so schon kompliziert genug!«

»Rosenfeld und Groschenkamp müssen jedenfalls mal eingeladen gewesen sein«, stellte ich fest. »Sie besitzen beide die Nadel.«

»Ja, aber vor allem trägt die Datensammlung der Kalteneck-Experimente, die ich in Edinburgh in Finleys Aktenordner gesehen habe, das Gnomon.«

Ich konnte nicht einmal mehr »Was?« ausstoßen. Das also war die eigentliche Brisanz des Dokuments gewesen. Richard hatte sie mir verheimlicht, während er mich mit der Bestätigung zufrieden stellte, dass Katzenjacob auf der Liste stand.

»Und die haben jetzt dich eingeladen?«, konstatierte ich etwas wurmstichig in der Seele.

Er deutete ein Lächeln an. »Sie haben auch Derya und Finley eingeladen – und … dich.«

»Aber ich habe keinen solchen Brief bekommen!«, rief ich.

»Wann haben Sie denn zuletzt Ihre Post gesichtet?«, fragte Meisner.

Ich bedachte, dass ich seit Tagen die Post direkt aus meinem Briefkasten in die Papiertonne warf.

Aber das war nicht der Punkt. Richard drehte seinen Umschlag um und sagte: »Es ist keine Briefmarke darauf, wie du siehst. Die Einladungen werden per Boten zugestellt. Du bekommst deine demnächst. Ich habe Reto Federer den Hinweis gegeben, dass du dem Boten die Tür öffnen wirst, wenn er zweimal kurz, einmal lang und dann wieder kurz klingelt.«

Ich atmete aus. Es wurde langsam Zeit, dass ich das Nerz’sche Minderwertigkeits-Protest-Geschrei aufgab. »Und was sollen wir dort?«

»Berichten«, antwortete Richard.

»Wie, berichten?«

»Wie wir das machen, wird uns nicht vorgeschrieben. Alle Diskussionen sind offen. Wir haben am Samstagvormittag anderthalb Stunden Zeit, die wir gestalten können, wie wir wollen. Und ich denke, zu erzählen hast du genug.«

»Ich? Nee!«

Meisner grinste. »Dass ich das noch erlebte. Lisa Nerz lässt sich einschüchtern. Tja, Staatsmänner sind eben doch was anderes als Staatsanwälte, gell?«

Ich fand das gar nicht komisch. Und selbstverständlich war ich zu stolz, auch nur zu erwägen, Richard bei der Ausgestaltung meines Vortrags um Hilfe zu bitten. Ich erkundigte mich stattdessen bei Karin Becker im Archiv des Stuttgarter Anzeigers. Sie wusste, dass Präsentationen vor gemischtem Publikum nie länger als eine halbe Stunde dauern durften. Oberstes Limit. Es sollte doch eine Diskussion entstehen.

Worüber wollen die diskutieren?, fragte ich mich seitdem.