20

Kurz vor zehn rollten wir in einer Boeing 737 der Kim Royal Dutch Airways hinaus aufs Feld und dröhnten uns ein für den Start. Die Flugbegleiterin führte ihr Sauerstoffmaskenballett auf. Wieder hatte Richard mich ans Fenster gescheucht. Den Rucksack mit Cipión hatte ich zwischen meine Füße geklemmt. Er schaute vorwurfsvoll.

Und wieder kippte die Welt unter mir weg und wurde kleiner. Gleich darauf umhüllte uns weißes Nichts. Die Flugbegleiterinnen begannen damit, Wagen durch den Mittelgang zu schieben. Ein Flug ist nur echt mit Tomatensaft.

Der Pilot rechnete mit einer Flugzeit von einer Stunde und siebenundzwanzig Minuten und machte uns keine Hoffnung, dass wir den Kanal, die Kreidefelsen von Dover oder irgendeinen anderen Schnipsel der Insel sehen würden.

Ich studierte die Karte mit den Notausgängen und Hinweisen zur Kotztüte, las das Hochglanzmagazin, das über Cipións Kopf im Netz des Sitzes vor mir steckte, und ließ den Blick über die Haarbüschel schweifen, die über die Lehnen hinausragten. Mir war langweilig.

»Holt McPierson uns vom Flughafen ab?« Richard gab meine Frage per Blick an Derya weiter.

»Er erwartet uns um halb zwölf im Institut«, antwortete sie.

Auch sie hatte sich vorgebeugt, um an Richard vorbeizuschauen. Ihr Blick weitete sich plötzlich. Ich schaute hinter mich. Im Fenster waberte grünliches Licht. Auf lange Flugerfahrung konnte ich nicht zurückgreifen, aber der Nebel draußen sah komisch aus. Von der Spitze der Tragfläche rissen bläuliche Blitze ab. »Richard! Schau mal! Ist das normal?«

Er beugte sich vor. Selten zeigte er echte Überraschung. Furcht nie. Aber jetzt nahm sein Gesicht mit dem markanten Kinn und den asymmetrischen Augen einen Ausdruck feierlichen Erstaunens an. »Das ist ein Elmsfeuer. So etwas habe ich auch noch nie gesehen!« Und er war oft geflogen. »Eigentlich kommt es nur in Gewitterfronten vor, wenn die Spannung die Luft ionisiert.«

»Eine Gewitterfront?«, rief Derya von der anderen Seite.

Ich hatte mir darunter ein kotztütenaffines Auf und Ab vorgestellt. Aber wir flogen ziemlich ruhig. Ein bisschen wie gegen einen Widerstand, aber das war schon die ganze Zeit so. Luft und Wolken waren wohl objektiv ein Widerstand. Mit einem Pling gingen nun die Anschnallzeichen an. Immerhin hatten sie im Cockpit auch etwas bemerkt.

»Stürzen wir jetzt ab?«

Richard antwortete nicht. Er sah nicht erfreut aus, eher fasziniert, dabei grüblerisch. Das beruhigte mich nicht.

Ein Klacken ging durchs Flugzeug. Die Geschäftsreisenden schlossen routiniert die Sicherheitsgurte. Ich hatte meinen nie abgemacht. Cipión zu meinen Füßen versuchte zum wiederholten Mal aus dem Rucksack heraus auf meine Knie zu klettern. Diesmal ließ ich es zu.

»Halten Sie das für eine gute Idee?«, fragte Derya an Richard vorbei.

Ich musste das nicht gehört haben. Ohnehin war es eine Party für die Augen. Bläuliche Blitze zündelten nun auch über die Tragfläche. Im Triebwerk, in das ich schräg hineinsehen konnte, leuchtete unter dem Propeller der Kühlung ein blau umrandetes glühend weißes Feuer.

Dann gab es einen kleinen Ruck. Das Flugzeug korrigierte sich kurz. Aber mein Hirn sprang auf Alarmmodus. Es stellte sich auf Zeitlupe. Mein Physiotherapeut hatte mir mal erklärt, dass wir in einer Gefahrensituation oder bei extremen sportlichen Leistungen tatsächlich die Hirnnerven auf maximalen Input stellen können. Dann verarbeiten wir gleichzeitig ein Hundertfaches an Informationen wie sonst und können in Sekundenbruchteilen komplexe Entscheidungen treffen. Dabei scheint alles wie in Zeitlupe abzulaufen.

Es roch nach heißer Asche. Nach Elektrizität. Es gab ein zweites kurzes Schwanken, die zweite Autopilotkorrektur, und irgendwas stoppte uns, bremste. Genauer, der Schub war weg. Nein!, dachte ich. Nicht jetzt! Das passt jetzt nicht!

»Flammabriss«, hörte ich Richard murmeln. »Triebwerke ausgefallen.«

»Aber …«, sagte ich. Es pfiff und rauschte immer noch, es dröhnte fast.

»Das ist die Innenturbine, die wir hören, für Luftdruck und Versorgung in der Kabine«, erklärte Richard.

Das Flugzeug knackte und ächzte. Aber das hatte es vorher auch getan. Und trotzdem war alles anders. Die Haarbüschel über den Lehnen drehten sich hektisch hin und her. Ich spürte die besorgte Unruhe, aber es blieb relativ still.

»Was ist denn los?«, rief Derya.

»Wir gleiten«, sagte Richard. »Keine Sorge, eine Boeing 737 kann viele Kilometer weit gleiten.«

Und dann?, fragte ich mich im Stillen. Von wem muss ich mich jetzt noch schnell verabschieden? Von Sally, die auf Mallorca am Pool saß, von Oma Scheible, für die telefonieren noch ein Staatsakt war? Von Barbara und Maxi und … o Gott … von meiner Mutter! Der würde es nicht gefallen, wenn die Tochter vor ihr starb. Kind, wie kannst du mir das antun!

Wer zuerst? Wie viel Zeit hatte ich dafür? Was sagte ich? Ich hatte schon mein Handy in der Hand. Aber dann steckte ich es wieder weg. Ich verabschiede mich nicht. Ich habe nicht letzten Herbst den Schuss überlebt, um jetzt zu sterben. Das wäre sinnlos. Jaja, ich weiß, den Sinn suchen immer nur wir, der Zufall hat keinen. Aber es passt jetzt einfach nicht. Ich habe noch was vor. Ich brauche mich noch.

»Ladies and Gentlemen«, meldete sich nun der Kapitän, »this is the Captain speaking.«

Wir lauschten atemlos, als werde uns der Mann gleich schulfrei geben und wir dürften in Jubelgeschrei ausbrechen. Ich glaube, er sprach Englisch, aber ich erinnere mich nicht mehr. Niederländisch wird’s wohl nicht gewesen sein.

»Wir haben ein kleines Problem«, sagte der Pilot. »Unsere Triebwerke sind ausgefallen. Wir tun unser Bestes, um sie wieder zum Laufen zu kriegen. Bitte beunruhigen Sie sich nicht unnötig und haben Sie Verständnis, dass wir jetzt den Service unterbrechen.«

Jemand lachte. Das war ich.

Wir segelten weiter wie durch Watte. Am Knacken in meinen Ohren merkte ich, dass wir sanken. Wie dick sind eigentlich solche Wolken? Und was war das überhaupt für eine Wolke? Ich sah Deryas Lippen sich bewegen. Beten war eine Möglichkeit.

Springt schon an, ihr dämlichen Motoren!, dachte ich.

Cipión schmiegte sich an mich. Er zitterte. Und etwas sauste mir vors Gesicht. Überall von den Decken hingen auf einmal wie Seegras im Kopfstand orangefarbene Gewächse. Ich erinnerte mich an die Pantomime der Stewardess: Notausgänge, Schwimmwesten und Sauerstoffmasken. Richard langte nach einem Gewächs, zog sich die Maske aber nicht über. Es gab genug Luft. Sein Blick traf mich. Seine milchkaffeebraunen Augen leuchteten. Endlich Ende mit dem irdischen Jammertal. Ich glaube, er war in seinem Leben nur noch auf das Ende wirklich neugierig, auf den Tunnel und was danach kam. Im Gegensatz zu mir beunruhigte es ihn nicht, dass er nicht zurückkehren würde, um sich zu erinnern und allen andern vom Abenteuer des Sterbens zu erzählen. Ja, die Erinnerung, dachte ich, die ist unser Schatz. Die unterscheidet uns vom Tier. Dass wir Momente sammeln und uns kennen, als ob es die Zeit nicht gäbe.

Richard strich Cipión über den Kopf und umfasste meine Hand. Sein Blick wurde ruhig. Ich spürte seine Lippen auf meinen, roch noch einmal seinen Pflegeduft nach Zeder und Zibet. Er hatte in all den Jahren, die ich ihn kannte, kein Jota seines Seins geändert. Der Gute! Ganz Konvention, selbst im Tod dachte er noch an andere, an mich, und vollzog eine Geste, deren Unterlassung ich ihm nur dann hätte vorwerfen können, wenn wir überlebten.

Da fielen wir aus den Wolken. Unter uns Felder und Ortschaften, ab und zu ein von Wegen beschnittenes Wäldchen.

»Da ist Lockerbie«, hörte ich Richard sagen.

Ich sah eine Autobahn, auf der fuhren Autos. »Springt an! Los!«

»Er kann auf der Autobahn notlanden!«, rief hinter mir erleichtert ein Mann. Keine Ahnung in welcher Sprache. Richards Profil sah nicht so aus, als teile er die Ansicht unseres Hintermanns.

Derya betete. Vermutlich in ihrer Muttersprache, vermutlich Kurdisch.

»Jetzt springt schon an, ihr Triebwerke. Das ist euer Job!«, dachte ich oder sagte ich. Die Katastrophe entfaltete sich sehr langsam. Wir flogen ja. Wir ließen die felderreiche Gegend hinter uns. Der Grund wurde grün und wellig. Schwärzliche Häuser versammelten sich zu Dörfern. Gehöfte standen in Bauminseln, vereinzelt Zedern im sehr weitmaschigen Netz von Straßen mit Hecken, Pferde galoppierten auf einer Weide davon.

»Er will tatsächlich auf der Autobahn landen«, bemerkte Richard verwundert.

Ich sah ein Schloss sich aus dem Grün erheben, umgeben von finsteren Bäumen, gekrönt von Dutzenden von Kaminröhren. Wir schrammten ein Dorf, ich sah entsetzte Menschen auf der Straße, die nach oben schauten. Auf der Autobahn stockten die Fahrzeuge. Wir glitten schräg darüber hinweg. Aber in die grünen Hügel zu schlittern glich einem Absturz.

Da wackelte das Flugzeug. Jemand schrie.

»Was passiert?«, fragte ich.

»Ich glaube, die Triebwerke laufen wieder, zumindest eines«, sagte Richard.

Man hörte es nicht, es rauschte und pfiff in der Kabine wie bisher auf dem ganzen Flug auch. Aber ich meinte einen leichten Schub zu spüren. Der Körper reagierte hypersensibel auf jede Bewegung, die Hoffnung machte oder umgekehrt, Angst. Die Autobahn schwenkte unter den Flugzeugleib. Ich sah sie nicht mehr. Und jetzt?

Der Pilot bellte irgendeinen Befehl über den Kabinenfunk. Eine Stewardess rannte den Gang entlang und rief uns zu: »Köpfe auf die Knie.« Der Pilot nahm sich sogar noch die Zeit zu sagen: »Ladies and Gentlemen, wir werden in wenigen Minuten auf der M 74 aufsetzen. Die Crew und der Kapitän haben versucht, Ihnen einen angenehmen Flug zu bereiten. Sorry, dass es uns nur partiell gelungen ist.«

Richard lehnte sich gegen mich, um aus dem Fenster zu schauen. Seine Hand, mit der er immer noch meine hielt, war nicht sonderlich angespannt. Auch ich starrte hinaus. Kein Haus war mehr zu sehen, grüne Hügel umgaben uns. Ich dachte noch: Er muss links landen, in England ist doch Linksverkehr. Ein Strommast sauste unter mir vorbei. O Gott! Das hätte noch gefehlt, dass wir den gestreift hätten. Die Landschaft kippte von der Draufsicht zum Drinsein.

Eine Sekunde später setzten wir auf. Die Mittelleitplanke raste unter meinem Fenster entlang, der Flügel wippte. Es drückte mich nach vorn. Vielleicht wusste ich es in diesem Moment schon oder erst später: Ein Flugzeug kann auch nur mit Bremsklappen und Bremsbacken bremsen. Wir rasten erst, dann rollten wir. Ich sah das Entsetzen in den Augen der Autofahrer auf der Gegenfahrbahn, die sich aufstauten und die wir in der nächsten Sekunde schon hinter uns gelassen und vergessen hatten. Dann tat es unter dem Fahrwerk einen Schlag, die Maschine ruckte nach rechts, Metall kreischte die Leitplanke entlang, und plötzlich standen wir.

»Sauber«, murmelte Richard.

Die Stewardessen sprangen aus ihren Verstecken, hebelten die Notausgänge auf und winkten uns die Notrutschen hinunter, schneller, als wir überhaupt Angst haben konnten. Unten schickte uns eine Flugbegleiterin weiter. »Run away!«, rief sie. »Laufen Sie!«

Sie selber blieb dort, mit nur noch einem Schuh an den Füßen.

Richard packte Derya an der Hand, die ihre Pumps oben an der Rutsche hatte ausziehen müssen oder verloren hatte. Wir rannten die leere Autobahn entlang, links, darum in Fahrtrichtung, während sich auf der Gegenfahrbahn die Autos stauten. Wenn das Flugzeug explodierte, würde es sie alle wegfegen.

Uns aber auch.