23

Die zehn Stock hohen Steinhäuser Edinburghs tauchten grau und gespenstisch vor uns auf. Die Stadt war tonnenschwer und steinern wie Gothic City. Der Himmel hing tief, es regnete.

Der Bus hatte uns ohne Gepäck in die Stadt gebracht. Es bestand auch keine Aussicht, dass wir es heute noch bekommen würden. Deryas erster Gedanke galt darum angemessenem Schuhwerk. Außerdem brauchte sie ein paar Sachen für die Nacht. Richard kaufte sich einen Rasierapparat. Alles andere trug er im Jackett am Leib, Zigaretten, Geld, Telefon, Kreditkarten, Ausweis. Meine Bikerjacke diente demselben Zweck, fehlte nur ein Dreierpack Slips. Davon abgesehen setzte ich darauf, dass es Zahnpaste und Seife im Hotel gab. Aber ich spielte mit dem Gedanken, mir, falls morgen Zeit war, einen Kilt zu kaufen. Den echten nur für den Mann, dessen Saum beim Knien zum Ritterschlag den Boden nicht berührte.

Die Psychologische Fakultät der Universität von Edinburgh lag unweit der Altstadt am mit Kopfstein gepflasterten George Square Nummer 7 einer Grünanlage gegenüber, die ein Zaun mit Speerspitzen umfriedete. Es war halb fünf, als wir das Portal einer klassizistischen Fassade durchschritten und eine Welt betraten, die nach Earl Grey-Tee, Computergebläse und Büchern roch. Prof. Dr. Finley McPierson war ein kamelbeiniger Mensch von Anfang sechzig mit blitzblauen Augen hinter einer dicken Brille, wilden weißen Locken und in einer zu weiten Hose. Er begrüßte uns lachend auf Deutsch.

»Freut mich, dass Sie mich einmal wieder besuchen, Derya. How do you do, Richard. Sie sind der Staatsanwalt? Hoffentlich habe ich nichts verbrochen. Ich bin Finley. Ah, und Lisa heißen Sie? Freut mich. Bitte nehmen Sie Platz. Und der Hund, möchte der vielleicht Wasser?«

Wir installierten uns. Finleys Büro besaß einen Clubsessel und ein Tischchen mit Stühlen. Der Schreibtisch stand am Fenster, das auf Straße und Park hinausging. Nachdem unsere Reiseabenteuer angemessen gewürdigt worden waren, sagte Finley: »So, Sie möchten also die Kalteneck-Liste sehen.«

»Ich fürchte«, erwiderte Richard, »ich kann es nicht verlangen. Deshalb bin ich persönlich hier. Ich hoffe, dass Sie mir angesichts des Aufwands, den wir treiben, meine Bitte nicht abschlagen können.«

Finley lächelte. »Gabriels Tod ist ein großer Verlust für die Wissenschaft. Und auch für mich. Seine Arbeiten waren äußerst wertvoll. Aber ich muss Sie leider enttäuschen, Richard. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

Derya holte Luft. »Aber du hast doch das Passwort. Du hast mir am Telefon gesagt …«

»Ja, Derya. Aber wir haben Netzwerkprobleme. Unser Fachmann arbeitet daran. Aber«, er wandte sich an Richard, »haben Sie nicht bereits einen jungen Mann verhaftet?«

»Kennen Sie Juri Katzenjacob?«

»Klingt, als sollte ich ihn kennen.«

»Das ist der, der in Untersuchungshaft sitzt. Es steht außer Frage, dass er Rosenfelds Leiche posthum manipuliert hat.«

Finley guckte bestürzt und fragend.

»Er hat sie aufgeschnitten«, sagte ich, »und ausgenommen wie ein Stück Wild. Er hat das zuvor auch schon mit Tieren gemacht.«

»Scheußlich! Indeed! Und Sie glauben, Katzenjacob steht auf der Kalteneck-Liste. Aber Sie denken nicht, dass bei der Sache nicht alles mit natürlichen Dingen zugegangen ist, oder?«

»Zumindest ist ungeklärt, wie es dem Beschuldigten gelungen ist, den von innen verschlossenen Raum zu verlassen.«

»Da kann ich Ihnen wahrscheinlich helfen, Richard. Das ist mein Spezialgebiet, wie Derya Ihnen verraten haben dürfte. Ich habe in meiner Jugend bei einigen großen Illusionskünstlern gelernt. Der einstige Leiter des McDonnell Laboratory for Psychical Research in St. Louis, Missouri, ist mir heute noch böse, weil ich ihm zwei Amateur-Zauberkünstler als Testpersonen eingeschleust habe. Sie konnten Filme belichten und Objekte bewegen, aber eben nicht mit Psi. Ich selbst habe den Parapsychologen Tipps gegeben, wie sie Tricks verhindern und aufdecken können. Aber das wollte niemand wissen. Sie waren so begeistert von den scheinbar übernatürlichen Fähigkeiten meiner Freunde, dass sie eine Veröffentlichung vorbereiteten und Interviews gaben. Die Zahlungen an das Institut wurden eingestellt, das Labor geschlossen, nachdem ich die wahre Identität meiner Freunde enthüllt hatte. Ich bin ein Krieger der Klarheit und Entlarvung!« Er lachte kurz. Aber es war ihm ernst, sehr ernst.

»Ich werde«, antwortete Richard, »den ermittelnden Kollegen und der Polizei dringend ans Herz legen, dass man Sie hinzuzieht. Können Sie uns wenigstens etwas über die Kalteneck-Experimente erzählen?«

»Nein. Ich fürchte, das kann ich nicht. Ich war nicht involviert.«

»Warum sind die Daten dermaßen gesichert?«, fragte ich vorlaut hinterher.

Finleys wasserblaue Augen richteten sich interessiert auf mich. »Ja, das ist eine gute Frage. Es geht doch nur um ein paar Spinner, die glauben, sie hätten übernatürliche Fähigkeiten.«

Ich nickte, weil er das als Bestätigung haben zu wollen schien.

»Aber beim Kalteneck-Experiment geht es um mehr als die üblichen Tests, die man schon hundertfach gemacht hat. Es zielt darauf ab, jemanden zu finden, der mehr kann, als die Schmidt-Maschine zu Ausreißern zu bringen. Es geht um große paranormale Ereignisse.«

»Dass jemand einen Kronleuchter zum Schwingen bringt«, schlug ich vor.

»Zum Beispiel. Oder Wasser in Wein verwandelt.« Er lachte fröhlich. »Und nun stellen Sie sich mal vor, Lisa, dieser Mann – oder diese Frau – wäre tatsächlich gefunden worden …«

»Ist das der Fall?«, unterbrach Richard knapp.

»Das möchten Sie gern wissen. Jeder möchte das wissen. Stellen Sie sich vor, wir hätten einen, der aus Wasser Wein macht. Als Wissenschaftler würden wir das noch weiter überprüfen wollen. Aber ein Assistent oder die Sekretärin erzählt es schon mal im Bekanntenkreis herum. Und irgendeiner ist bei der Zeitung. Was glauben Sie, was dann für ein Rummel losbricht? Und die Ängste, die das schürt! Wer einen Teppich fliegen lässt, kann vielleicht auch ein Flugzeug zum Absturz bringen.« Er lachte verlegen. »Oh, das ist ein schlechter Scherz, nach dem, was Sie gerade überstanden haben. Aber es würde allen so gehen. Kann er einen GAU in einem Atomkraftwerk auslösen, einen Bankencrash? Ist der Gedanke erst einmal in der Welt, können wir ihn nicht mehr zurückholen. Egal, wie viele Aufsätze wir publizieren, in denen wir nachweisen, dass alles Betrug war. Denken Sie an Uri Geller.«

Ich erinnerte mich dunkel, dass er in der Kuriositätensammlung Karin Beckers auch vorgekommen war. Ein Israeli, der in einer deutschen Fernsehshow eine Gabel an der Biegung zwischen Daumen und Zeigefinger gerieben hatte, bis sie brach.

»Sehen Sie, was der kann, kann ich auch«, sagte Finley. »Ich nehme eine Quecksilberverbindung und verreibe sie auf Daumen und Zeigefinger. Oder noch viel einfacher: Ich biege die Gabel vor der Show ein paarmal und schaffe auf diese Weise eine Sollbruchstelle. Dann bricht sie bei geringstem Druck in der Show.«

»Man muss nicht notwendig von Betrug ausgehen«, wandte Derya ein, »nur weil man ein Phänomen mit einem Trick reproduzieren kann.«

»Ja, Derya, das ist unser alter Streit.«

Sie lächelte streng. »Ich habe Wohnungen gesehen, die von umherfliegenden Steinen verwüstet waren. Man hat Steine aus der Wand kommen und quer durch den Raum fliegen sehen. Für die Polizei war der Fall erledigt, wenn man jemanden in der Familie, beispielsweise ein Kind, bei einer Manipulation ertappt hat. Aber ich frage Sie, Finley: Warum sollte ein Kind so etwas tun?«

»Weil es Aufmerksamkeit bekommt.«

»Ja, die Theorien von Hans Bender sind uns allen bekannt. Labile Jugendliche, die Aufmerksamkeit wollen. Und leider enden solche Geschichten immer im Betrug, sobald die Medien mit Fernsehkameras anrücken und was sehen wollen. Oder wenn wir Parapsychologen endlich gerufen werden. Dann ist der Erwartungsdruck so groß, dass der Spuk in Betrug umschlägt. Das Geschrei über den ertappten Betrüger verdeckt bald völlig die ersten Erscheinungen, die womöglich tatsächlich paranormalen Charakter hatten.«

»Aber Geller konnte niemals Gabeln per Geisteskraft verbiegen! In einer amerikanischen Show ist er gescheitert. Er musste sich weigern, seine Kunst an Gegenständen zu beweisen, die er vorher nicht gesehen hatte. Auch bei den Tests im Stanford Research Institute hat er so viele Bedingungen gestellt, und gleichzeitig waren die Experimentatoren so wild darauf, etwas zu sehen, dass er ihnen schnell die Kontrolle über die Versuche aus der Hand genommen hat. Als Illusionskünstler hat Geller meine volle Hochachtung. Aber bis heute gilt er als Medium. Das Gerücht hält sich hartnäckig, er habe die Ölquelle, mit der er sein Vermögen gemacht hat, mit einer Wünschelrute aufgespürt.«

Derya lächelte. »Auch der Glaube, dass es keine paranormalen Ereignisse gibt, ist ein Glaube.«

Finley lachte freundlich und wandte sich wieder an uns Laien. »Was ich damit nur sagen will: Ist der Name eines Menschen im Zusammenhang mit Psi erst einmal gefallen, kann der Betreffende nur noch beschädigt aus der Sache herauskommen. Er wird durch Shows geschleift, muss mehr produzieren, als er kann, und wird am Ende unweigerlich als Betrüger entlarvt.«

»Oder jemand reißt ihn sich unter den Nagel«, fiel ich ihm ins Wort.

»Wie meinen Sie das?«

»Jemand, der meint, die Fähigkeiten des Übersinnigen würden ihm nützen, nimmt ihn unter Exklusivvertrag.«

»Inwiefern?«

Ich zuckte mit den Schultern und lächelte dümmlich. Aber ich sah, dass er mich verstanden hatte.

»Ja, auch das ist möglich, Lisa. So ein Mensch könnte den falschen Personen in die Hände fallen. Nur stellt sich mir die Frage, wozu er wirklich nützen sollte. Ich habe noch keinen Psi-Begabten getroffen, der zuverlässig große paranormale Ereignisse hervorrufen konnte. Und dieser Juri Katzenjacob, den ihr da verhaftet habt, der kann es höchstwahrscheinlich auch nicht.«

»Warum schließen Sie das so kategorisch aus?«, erkundigte sich Richard erfreut.

»Weil es noch nie vorgekommen ist. Und weil alle Menschen, die sich auf dem Gebiet der Parapsychologie betätigt haben, starke Charaktere waren, Menschen, die im Leben standen, durchaus geschäftstüchtig, mindestens aber gute Verteidiger ihrer Fähigkeiten und darauf aus, sie zu zeigen.«

Ich dachte an das, was Derya mir nach meinem PK-Test gesagt hatte: »Extrovertierte, aktive, kommunikative Menschen mit starker Maskulinität.«

»So ist es, Lisa.« Er lächelte mir in die Augen. »Ist dieser Juri Katzenjacob so eine Persönlichkeit?«, fragte er rein rhetorisch. »Wenn er Tiere aufschneidet, um sich daran zu delektieren, würde ich sagen: Nein. Er gehört in eine andere Kategorie von Charaktertypen, welche die Kriminalisten vermutlich besser beschreiben als ich. Oder irre ich mich?«

»Ich kenne ihn nicht«, antwortete Richard. »Ich bin nicht der ermittelnde Staatsanwalt, ich war bei keiner Vernehmung dabei.«

»So?« Finley schlitzte die Augen.

»Frau Dr. Barzani ist die Einzige von uns, die ihn kennt«, sagte ich.

»O nein! Wer achtet schon auf Malergesellen«, rief sie. »Ich jedenfalls nicht. Mit Müh und Not habe ich ihn auf den Zeitungsfotos im Nachhinein wiedererkannt. Aber eine sonderlich einnehmende und offene Person war er demnach wohl nicht.«

»Er ist eher verdruckt«, bestätigte Richard. »Das haben mir die Kollegen erzählt. Er macht keinerlei Einlassung zum Tathergang. Er schweigt.«

Finley wandte sich ihm zu, mit einer raumbeherrschenden und zugleich charmanten Geste, die es mir leicht machte, ihn mir als Magier im wallenden Gewand vorzustellen. »Was meinen Sie, Richard, ist es unter diesen Umständen notwendig, dass wir Einblick in die Klarnamen der Kalteneck-Akten nehmen?«

Richard reagierte grundsätzlich langsam. Er ließ Pulverdampf und Staubfahnen stets Zeit, sich zu verziehen. »Doch, ja«, sagte er nach einer Weile fingierten Nachdenkens. »Ich würde die Namen gern sehen. Ich kann nicht sagen, was ich erwarte, aber ich habe das Gefühl, es könnte nützlich sein.«

»Aber sagten Sie nicht, Sie ermitteln in diesem Fall gar nicht?«

Gut aufgepasst, Finley. Aber das war sein Job.

Richard lächelte entwaffnend. »Mir graust es bei Mord und Totschlag. Ich bin Wirtschaftsstaatsanwalt. Ich kann gut mit Zahlen. Darum hat man mich geschickt. Psi-Experimente haben viel mit Statistik zu tun. Oder gibt es da noch ein anderes Problem? Dürfen Sie mir die Namen nicht zeigen? Hat ein Sponsor da seinen Daumen drauf?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Finley wachsam.

»Wenn Sie wollen, sichere ich Ihnen an Eides statt meine absolute Verschwiegenheit zu.«

»Oh, I love the Germans! Immer so korrekt.« Grinsend setzte Finley sich an seinen Schreibtisch. »Dann schauen wir mal, ob die Computer inzwischen wieder … Nein. Vielleicht haben wir später mehr Glück. Alternativ schlage ich vor, ich zeige euch das Institut. Und anschließend statten wir den berühmten South Bridge Vaults einen Besuch ab.«

Derya lachte resigniert. »Da kommen wir nicht drum herum, fürchte ich. Finley führt alle dorthin, die ihn zum ersten Mal besuchen.«

»Was ist das denn?«, fragte ich. Vaults sind Gewölbe, lieferte mir meine alte Erziehung zur Fremdsprachensekretärin immerhin zu.

»Es wird Ihnen gefallen, Lisa«, sagte Finley. »Es ist the most haunted place in Edinburgh. Sehr spooky. Wir können zu Fuß hingehen. Es ist nur eine knappe Meile von hier. Ich verspreche Ihnen, Sie werden jede Menge Geister treffen.«