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Als wir uns Edinburgh näherten, teilte mir die Fluggesellschaft am Telefon mit, wir könnten am Abend fliegen. Emma und Bob setzten uns am Flughafen ab. Wenn sie der Polizei oder den Zeitungsredaktionen, für die sie arbeiteten, umgehend mitteilten, wo wir uns befanden, dann würden wir das Land an diesem Abend nicht unbehelligt verlassen können. Das war uns klar und den beiden auch. Wir sprachen nicht darüber. Sie um Nachrichtenstille zu bitten hätte keinen Sinn gehabt. Wir besaßen kein Druckmittel. Wir konnten nur hoffen, harmlos gewirkt zu haben. Oder aber darauf, dass sie es interessanter fanden zu wissen, dass ich der Psi-Master war, als uns der Polizei oder Presse auszuliefern. Damit hielten sie sich auch die Möglichkeit offen, mich später – wenn alle wussten, was sie jetzt schon wussten – als Exklusivinformantin nutzen zu können.

Finley bestand darauf, uns zum Check-in zu begleiten, falls es doch noch irgendwelche Probleme geben sollte. Und so war es. Als wir einchecken wollten, gab es uns nicht mehr. Wir waren aus der Passagierliste der vor zwei Tagen notgelandeten KL-Maschine verschwunden. Als ob wir niemals darin gesessen hätten. Logischerweise war auch unser Gepäck nicht auffindbar. Wir brachen den Versuch, unsere Identitäten wiederzugewinnen, schnell ab, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Es genügte, dass Richard im Gewand des Highlanders mit uns zwei aufgebrezelten Schnepfen im Schlepptau allenthalben Blicke auf sich zog.

Denn mittlerweile hatten die Ereignisse einen Tick ins Irreale bekommen. Auf der digitalen Werbetafel neben den Abflugzeiten waren kilometerlange Staus auf den Ausfallstraßen von London, Manchester, Glasgow und anderen Großstädten zu sehen. Den Tickerbändern zufolge waren die Menschen auf der Flucht vor einem Erdbeben. Es hatte sich nicht ereignet, es war nur angekündigt worden. Und zwar auf Facebook und Twitter. Shinobi hatte sich wieder gemeldet und seine Erdbebendrohung erneuert: »London Tower will fall into Thames. Der Tower wird in die Themse stürzen.«

Zwischendurch sah man unsere Gesichter, wie sie von Bob am St. Martin’s Cross aufgenommen worden waren, alle vier grotesk vergrößert. Offenbar suchte uns die Polizei im Zusammenhang mit diesen Terrordrohungen. Offensichtlich waren Finley McPierson und Derya Barzani nun nicht mehr tot, sondern Teil der Gefolgschaft von El Tio, der den Shinobi in seiner Gewalt hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sie mir diese Rolle zuschrieben und ein Gesicht dazu produzierten. Womöglich meines.

Es war aussichtslos, für diesen Abend neue Flüge zu buchen. Finley schlug vor, dass wir uns ein Taxi in die Stadt nahmen und die Nacht bei ihm verbrachten. Aber Taxifahrer würden uns sofort erkennen. »Und ob du zu Hause sicher bist, würde ich auch bezweifeln«, bemerkte ich. »Mindestens ein paar Journalisten dürften auf der Lauer liegen.« Aber auch hier auf dem Flughafen war es nur eine Frage der Zeit, bis einer der Leute, die seit Stunden Löcher in die Luft glotzten, weil sie zwar gültige Flugtickets, aber keinen Flug hatten, Richard trotz des Schottenrocks und Derya oder mich hinter der Fassade von Make-up, rotem Lippenstift, extravaganten Kleidern, Hut und Lacklederstiefeln erkennen würde. Vor allem, wenn Emma diese Information an die Medien weitergab, für die sie arbeitete. Glücklicherweise war bisher wenigstens von einem Dackel in unserer Gesellschaft noch nicht die Rede gewesen.

»Dann rufe ich jetzt meinen Vater an«, sagte Derya. »Er soll uns sein Flugzeug schicken.«

Das klang supergut. Genial! Wie ein Märchen aus James Bond.

»Dafür müsste ich aber telefonieren.«

Ich gab ihr mein Handy.

Sie nahm es mit einem kleinen spöttischen Lächeln. Ich musste es ihr zugestehen. Es war nicht sonderlich souverän, dass ich kein Wort mit ihr sprach.

Während sie telefonierte, dirigierte Richard uns treppauf in die Halle mit den Sicherheitsschleusen zu den Flugsteigen, aber auch den Läden und Lounges. Immer in Bewegung bleiben. Alte Kriegstaktik. Finley schlenkerte seine Kamelbeine mit hinauf. Vorm Schaufenster eines Herrenausstatters, dessen Anzüge Richard sehnsüchtig musterte, beendete Derya ihr Telefongespräch und gab mir das Handy zurück.

»Er schickt sein Flugzeug. Aber ein paar Stunden wird das dauern.«

Die schwarz-weiß gewürfelten Schirmmützen zweier Polizisten blitzten zwischen den Leuten auf. Richard betrat mit wehendem Schottenrock den Laden. Wir folgten ihm und machten uns daran, die Verkäuferin ins Schwitzen zu bringen, der klar wurde, dass der schweigsame Schotte und seine beiden ausländischen Damen sich gänzlich neu einzukleiden wünschten, wobei eine – nämlich ich – sich für einen grauen Herrendreiteiler interessierte und Geld eine untergeordnete Rolle spielte. Cipión bekam ein Wasser hingestellt. Finley ließ sich, bevor wir alle in Umkleidekabinen verschwanden, mein Handy geben und rief in seinem Institut an. Er war blass, als ich ihn wieder sah. Und es lag nicht daran, dass die Einbrecher gestern Nacht alle Computer zerschlagen hatten.

»In London hat es ein Erdbeben gegeben.«

»Was ist los?«, fragte Richard, der gerade in einem braunen Harris-Tweed, oder auf Deutsch Twill-Sakko, dazu passenden Beinkleidern und beigefarbenem Hemd aus der Umkleide trat.

»Ein Erdbeben in London«, flüsterte Derya.

»Schlimm?«, fragte ich Finley.

Das hatten die Kollegen im Institut ihm nicht sagen können. Sie hätten es gerade im Radio gehört.

»Es gibt ihn also doch«, sagte Derya fast feierlich. »Es ist möglich! Es geschieht gerade. Wir erleben einen historischen Moment. Zum ersten Mal sind wir dabei, können beweisen, dass Vorhersage und ein Ereignis, das auszulösen schwerlich in der Macht eines Einzelnen steht, aufeinander folgen.«

Finley kratzte sich den Kopf. Es war nicht auszumachen, was ihn mehr entsetzte, ein Erdbeben, dessen zerstörerische Wucht noch nicht bekannt war, oder die Vorstellung, dabei müsse Psi im Spiel sein. »Das ist nicht möglich, Derya«, sagte er. »Niemand kann ein Erdbeben prophezeien. Es ist nicht möglich! Es geht nicht. Wir sind uns doch einig, dass Hellseherei unmöglich ist.«

Derya schien sich da mit ihm nicht mehr so einig zu sein.

»Warum bestreitet ihr Parapsychologen eigentlich immer so vehement, dass Hellseherei möglich ist?«, fragte ich. »Mir ist es schon oft passiert, dass ich an jemanden denke, und schwupp ruft er an.«

»Das sind Gedankenverbindungen zwischen zwei Menschen, Lisa«, sagte Finley erregt. »Das ist Telepathie. Warum kann niemand auf der Welt zuverlässig vorhersagen, welche Kugeln der Lottoapparat auswirft. Damit wäre der Beweis ganz einfach, nicht wahr? Deshalb hat die Wissenschaft schon vor hundert Jahren aufgehört, ernsthaft darüber zu diskutieren, ob Hellseherei möglich ist.«

»Das ist nicht ganz richtig, verehrter Kollege«, widersprach Derya. »Ich erinnere an die Versuche von Daryl Bem von der Cornell Universität in Ithaca, New York. In acht von neun Experimenten gab es statistisch signifikante Abweichungen vom Durchschnitt.«

»Aber wir haben seine Versuche nicht wiederholen können.«

»Was für Versuche?«, fragte ich.

»Zum Beispiel, eine Testperson sitzt vor einem Bildschirm, auf dem zwei Bilder mit zugezogenen Vorhängen zu sehen sind. Er soll nun entscheiden, hinter welchem der beiden sich ein erotisches Bild befindet …«

»Da scheinen doch nur Männer für Männer Versuche anzustellen«, bemerkte ich.

Finley lachte gehetzt. »Nachdem die Probanden sich für das eine oder andere Vorhangbild entschieden hatten, bestimmte der Zufallsgenerator, wo das erotische Bild zu sehen sein würde. In 53 Prozent der Fälle, berichtet Bem, lagen die Probanden mit ihrer Prognose richtig. Das scheint aber nur bei erotischen Bildern richtig zu funktionieren. Und bei uns im Institut hat es gar nicht funktioniert. Die Frage ist ja immer, welchen Einfluss der Versuchsleiter auf das Geschehen nimmt, vor allem, wenn er unbedingt ein Ergebnis haben möchte. Dass ein Zufallsgenerator per Telekinese beeinflusst werden kann, wissen wir. Gut möglich, dass der Proband auch den Bildergenerator beeinflusst.«

 Blieb also nur noch Telekinese. »Aber kann ein Telekinetiker ein Erdbeben auslösen?«

»Das wäre … wäre … absolutely outrageous, unerhört, incredible!« Finley schüttelte verzweifelt den Kopf. »Absolut unglaublich!«

Ich hatte bereits angefangen, über mein schlaues Telefon die Nachrichten-Seiten zu checken, und berichtete. Die Tagesschau wusste noch nichts von einem Erdbeben. Der SWR hatte jedoch eine Eilmeldung gepostet. Demnach hatte es östlich von London, bei Colchester, ein Beben der Stärke 3,0 auf der Richterskala gegeben. »In Großbritannien«, fügte der Sender hinzu, »ist eine Massenpanik ausgebrochen, weil es angeblich eine Vorhersage gegeben hat.«

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber die Farbe der Luft hatte sich verändert, plötzlich herrschte Spannung auf dem Flughafen, fast Panik. Oder war es nur meine eigene, die ich nach außen projizierte? Lag es daran, dass gerade eine Gruppe von Leuten draußen am Schaufenster vorbeieilte? Mir kam meine grundsätzlich skeptische Haltung zu übersinnlichen Machenschaften abhanden.

»Es gibt ständig kleinere Erdbeben«, sagte Richard. Aber auch er klang nicht so sicher wie sonst. »Nur jetzt haben halt alle darauf gewartet. Es ist reiner Zufall. Und 3,0 ist nichts, das spürt man kaum. Da klappern höchstens die Tassen im Schrank.«

»Aber es ist passiert!«, ereiferte sich Derya. »Es gibt eine schriftliche Vorhersage. Ein Unbekannter behauptet, es werde ein Erdbeben geben. Und es hat sich ereignet. Auch wenn es nicht so stark war, dass der London Tower zusammengebrochen wäre. Aber es ist messbar, Finley. Es ist passiert.« Sie wischte sich die Strähne hinters Ohr. Sie schwitzte vor Eifer. Oder aus anderen Gründen.

»Ja«, sagte Finley ebenso aufgeregt, »aber genauso gut könnte ein Telekinetiker – nehmen wir an, Juri Katzenjacob – dem unbekannten Verfasser des Tweets mitgeteilt haben, dass er vorhat, am Abend ein Erdbeben auszulösen.«

»Katzenjacob sitzt im Gefängnis«, bemerkte Richard. »Und aus der U-Haft heraus ist es sehr schwer, jemandem außerhalb etwas mitzuteilen.«

»Sein Anwalt könnte das übernommen haben«, sagte ich.

»Ja, zum Beispiel!«, rief Finley.

»Bedenkt bitte«, sagte Richard dämpfend, »dass das Beben nicht in London stattgefunden hat, sondern in Colchester, siebzig Meilen weiter östlich. Falls das ein Erdbebengebiet ist, wäre zu fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass innerhalb eines überschaubaren Zeitraums sich dort eine geringfügige Erdbewegung ereignet.«

»In Colchester hat es bereits heftige Erdbeben gegeben«, fiel Finley ein. »Vor gut hundert Jahren sind Häuser eingestürzt. Es war auch in London zu spüren.«

»Okay«, sagte Richard. »Dann schlage ich vor, wir verschieben die Frage und schauen, dass wir hier wegkommen.«

Die beiden Parapsychologen blickten sich dampfend an – Finleys Brille glitzerte, Derya zeigte Eckzähne hinter zum Aber geöffneten Lippen –, sahen aber ein, dass ein wissenschaftlicher Disput zwischen Umkleidekabinen und Kleiderstangen ungünstig verortet war, vor allem, wenn halb Großbritannien nach einem Mental-Terroristen fahndete.

Auf dem Flughafen war, als wir als drei Herren mit einer Dame und Dackel aus dem Laden traten, Unruhe ausgebrochen. Manche packten ihre Sachen und verschwanden. Viele konsultierten ihre Handys, telefonierten, andere standen beisammen und diskutierten, obgleich sie sich gar nicht kannten.

»Wir müssen zum GAT«, erklärte Richard.

»Zum was?«, fragte ich.

»Zum General Aviation Terminal, wo die Privatflieger abgefertigt werden. Finley, hast du eine Ahnung, wo der ist?«

Finley schaute sich um. Wir fragten uns dann hinaus aus dem Hauptgebäude und wanderten durch die Nacht. Auf dem Weg ließen wir unsere Waffen – Richard seinen schwarzen Dolch und ich das Anglermesser – in einem schönen finsteren Gebüsch zurück.

»Am besten, du kommst gleich mit, Finley«, sagte ich, als wir das Gebäude der Privatflieger betraten. »Wir brauchen jemanden, der erkennt, ob Juri Katzenjacob ein Parapsychopath ist oder nicht. Beispielsweise, ob er den Kronleuchter in Neuschwanstein zum Schwingen gebracht hat oder nicht.«

Finley überlegte tatsächlich. »Eine Reise im Privatjet sollte man sich nicht entgehen lassen. Einmal wie James Bond fühlen. Aber … ich habe morgen Vorlesung.«

Eine Stunde vor Mitternacht rollte die Maschine auf die Startbahn, die Triebwerke powerten, der Schub drückte uns in die Lehnen. Dann kippte der Flughafen von Edinburgh in die Tiefe. Geschafft! Ans Abstürzen dachte ich diesmal nicht. Es fühlte sich vielmehr an, als seien wir in letzter Minute dem schwarzen Gemäuer eines Spukschlosses entronnen. Der Blick zurück hatte vor allem Richard geschockt. Denn als der Stewart der Groschenkamp’schen Maschine im GAT auf uns zukam und wir aufstanden und uns von Finley verabschiedeten, erschien auf dem Fernsehbildschirm im Wartesaal auf einem Laufband die Nachricht: »Medien: Shinobi ist Juri Katzenjacob, 23 Jahre. Sitzt unter dem Verdacht, den deutschen Parapsychologen Rosenfeld getötet zu haben, in deutschem Gefängnis.«

Selten habe ich Richard so perplex gesehen. Derya musste ihn weiterziehen. Sein Blick sprang zu mir. Er wusste, er hatte mir nicht verraten, ob Katzenjacob auf der Liste stand. Wirklich nicht? Er zweifelte an seinem Verstand. Sprach er nachts im Schlaf? Hatte ich sein Hirn angezapft? War Telepathie möglich? Und wenn ja, hatte ich diese Information wirklich beispielsweise an Emma weitergegeben?

Es war die Stunde der Zweifel an allem und jedem. Wenn sogar die beiden Parapsychologen ins Schlingern kamen, weil sie sich den Zusammenhang zwischen Shinobis Twitter-Prognose und einem Erdbeben nicht erklären konnten. Niemand von uns konnte sich dem Gefühl entziehen, durch eine Geisterbahn zu rasen, von der wir niemals für möglich gehalten hätten, dass sie uns Angst machen würde.

»Finley und du, ihr seid ausspioniert worden von SC & D«, raunte ich Richard zu, als wir übers Flugfeld zur Maschine liefen und Derya zwei Schritte vor uns ging. »Falls ihr euch unterhalten habt, wurde es mitgehört.«

»Wir haben uns aber nicht über die Liste unterhalten. Keiner von uns beiden hat einen Namen ausgesprochen.«

»Aber die Liste befindet sich doch längst in der Hand der Presse. Ich bin absolut sicher, der Einbruch heute Nacht in Finleys Institut galt diesem Dokument. Und die Bastarde von der Zeitung haben die einzig möglichen Schlüsse daraus gezogen.«

»Aber auf der Liste stehen 169 Personen. Wieso kommen sie ausgerechnet auf Katzenjacob?«

»Richard, ich hätte auch nur einen Tag gebraucht. Dazu reicht Google. Vom Stichwort Kalteneck kommt man unbedingt auf Rosenfeld, auf seinen Tod und auf den Tatverdächtigen. Und wenn dieser Bursche auf der Liste der Kalteneck-Versuche steht, ist die Story rund.«

Der Journalist hatte nur des Deutschen mächtig sein müssen. Ach, nicht einmal das. Google übersetzte heutzutage zumindest Fakten leidlich zufriedenstellend. Und dann musste man nur alles zusammenbauen. Das Phantom der Gang of Four war schon da. Dazu kamen Anschläge per Geisteskraft auf zentrale technische Einrichtungen und Orte von Symbolkraft. Aus der Internethavarie gestern und einem kaum spürbaren Erdbeben heute ergab sich, dass alles Böse dieser Welt von einer Burg Kalteneck ausging, den gruseligen Namen Juri Katzenjacob trug und von deutschen Verbrechern nach Großbritannien getragen worden war. Ja, man hatte gar keinen anderen Schluss ziehen können. Es passte einfach gut. Zu gut.