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Hätten wir es wirklich noch aufhalten können? Schwer zu sagen. Ich hätte Richard auf unserer Fahrt nach Edinburgh unbedingt beiseitenehmen und ihm von meiner Befürchtung erzählen müssen, dass die Detektei SC & D zugegen gewesen war, als er und Finley sich, vermutlich nicht schweigend, die Kalteneck-Akten in Finleys Ordner anschauten, in denen sich der Name eines Mannes befand, der damals in der Wasserburg Türen anstrich.

Aber es war eben nicht so leicht, Richard beiseitezunehmen, in diesen drei Stunden, die unsere Fahrt noch dauerte.

Bob hatte das Radio laufen. Die Nachrichten beschäftigten sich aufgeregt mit der Polizeiaktion auf Iona. Was uns so gefährlich machte, begriff ich nicht ganz. Offenbar stand eine Drohung mit Anschlägen auf technische Einrichtungen mit Hilfe mentaler Kräfte im Raum. Obgleich so ungefähr alles, was unsere Drohung an Fantasien hervorbrachte, durch vernünftige Menschen in Interviews sofort widerlegt wurde, hörte es sich über eine Stunde lang so an, als hätten Extraterrestrische die Herrschaft übernommen und Maschinen, Vulkane und Menschen manipuliert, um Katastrophen zu erzeugen. Auch mit der These der Gang of Four, die von den Edinburgh Evening News aufgebracht worden war – dabei stellte Bob das Radio noch lauter –, befassten sich die Radiomoderatoren, um sie unverzüglich als wenig glaubhaft zu widerlegen. Nicht einmal für den Leichenfund in den South Bridge Vaults habe man eine polizeiliche Bestätigung bekommen.

»Da!«, rief Derya. »Da hören Sie’s!«

»Natürlich sagt die Polizei denen nichts«, antwortete Emma mit Augenaufschlag.

Derya schnaubte. »Sie leiden unter Paranoia, mein Kind.«

»Nein.« Emma lachte offen. »Es ist nur so: Der Sender hat kein Geld.«

»Was?«, entfuhr es Richard. »Sie bezahlen die Polizei für Informationen?«

»Wir nicht, dass das klar ist. Aber die Redaktionen, die tun es. Sie bezahlen die Polizei für Exklusivinfos. Das ist ein Geschäft.«

»Aber ein Leichenfund in den Vaults ist keine Exklusivinformation«, widersprach Richard. »Leichen werden offiziell dem Coroner überstellt. Ich kann bei ihm anrufen, und er sagt mir, ob es sie gibt oder nicht. Der Guardian hat das gemacht. Da steht, in dem Brunnen sei stark verwestes biologisches Material gefunden worden, vermutlich der Kadaver eines sehr großen Hundes.«

Derya schnaubte erleichtert. Und ich hatte an den Hound of Baskerville gedacht, in dem Moment, als Cipión vor Angst zitternd stehen blieb! Zufall?

»Glauben Sie wirklich, dass die Offiziellen immer die Wahrheit sagen?«

»Und Sie?«, fragte Derya streng über die Sitzlehne hinweg. »Sagen Sie immer die Wahrheit? Zumindest tragen Sie doch entscheidend dazu bei, dass sie öffentlich nicht gesagt wird.«

»Wer behauptet, er sage immer die Wahrheit, der lügt«, erwiderte das Mädchen. »Ich für meinen Teil liefere nur das, von dem ich glaube, dass es die Wahrheit ist. Wenn wir nicht sagen, was abgeht in der Welt, wenn die Presse es nicht schreibt, wer dann?«

Derya klappte den Mund zu und sagte nichts mehr.

Richard suchte, vermutlich aus alter Gewohnheit, Augenkontakt mit mir. Versteht die das denn nicht?, klagte sein Blick. Merkt die gar nicht, dass sie und ihre Auftraggeber selbst alles tun, um den Eindruck zu verstärken, dass man nichts glauben kann?

»Raststätten gibt es hier wohl keine«, bemerkte Derya mit dem gewissen Druck in der Stimme. Ich war auch für eine Pinkelpause. Die grandiose Landschaft mit ihren Oh-Ausblicken nahm quälende Gestalt an, wenn man nur noch Ausschau nach Erleichterung hielt.

Im Radio war die Explosion des Fahrzeugs von Prof. McPierson auf dem Parkplatz von Fionnphort dran. Spuren einer Bombe hatte die Polizei entgegen ersten Meldungen nicht gefunden. Vielmehr sei der offenbar bereits vorgeschädigte Benzintank durch den Aufprall des anderen Fahrzeugs gerissen, ein Reibungsfunke habe die Explosion verursacht. Und auf einmal lebte Finley McPierson wieder. Unbekannt sei allerdings, wo er und seine Begleiter sich aufhielten. Sie hätten die Nacht in einer Pension in Fionnphort verbracht, den Ort am späten Vormittag verlassen und seien seitdem nirgendwo wieder aufgetaucht.

»Na siehst du, Finley!«, rief ich nach vorn. »Alles wird gut. Man muss nur Geduld haben.«

Allerdings erfuhren wir nun, dass die Räume der Koestler Parapsychology Unit in Edinburgh gestern Nacht durchsucht und verwüstet worden waren. Wonach die Eindringlinge gesucht hatten, sei nicht bekannt.

Aber mir! Zumindest konnte ich es mir denken.

»Da!«, rief Derya. »Da könnten wir doch mal eine Pause machen.«

Es war ein weiß getünchtes Cottage mit dem erlösenden Namen Old Drover’s Inn. Es bildete den Ort namens Luib. Bob fuhr den Van auf den Parkplatz.

»Übrigens«, raunte ich Richard zu, als wir ausstiegen, »Héctor Quicio ist verschollen.«

Er kramte nach den Zigaretten.

»Seine Freunde haben seit längerem nichts mehr von ihm gehört. Letzter bekannter Aufenthaltsort war Jávea. Aber jetzt muss ich erst einmal … Kannst du solange?« Ich drückte ihm Cipións Leine in die Hand und eilte Derya hinterher, überholte sie im urigen Pub und stürmte die Damentoilette.

Die Anlage hatte einen Vorraum mit Waschbecken, aber nur eine Kabine. Ich winkte Derya generös durch, lehnte mich irgendwo an und lauschte dem ureigentlich weiblichen und nur an solchem Ort vernehmbaren knistrigen Rascheln von Röcken und dem Reiben von zartem Stoff auf der Haut. Der in mir herrschende Überdruck verstärkte den Reiz angenehm in meine Lustorgane. Und wenn ich schon so allein stand, konnte ich ja auch mal kurz bei mir nachfassen.

Ich hörte, wie sie sich setzte. Die Klobrille knirschte. Ich wartete auf den erlösenden Dammbruch und das befreite Geplitschel in der Schüssel, doch drinnen blieb es still. Scham-Kontinenz, diagnostizierte ich. Frau Dr. Barzani war im Intimbereich unentspannt, zumindest, wenn sie mich vor der Tür wusste.

»Übrigens, Derya«, sagte ich, um die hochnotlauschige Stille zu durchbrechen. »Es tut mir leid, dass ich gestern … nun ja, so ruppig war.«

Sie ächzte. »Schon gut.« Noch immer kein Strullen.

»Ich hatte da was missverstanden.«

Endlich. Es war mir gelungen, sie abzulenken. Was gab es da misszuverstehen?, fragte sie sich. Ich hörte es förmlich.

»Ich dachte nämlich, bei ihm sei es was Ernstes, aber …«

Drinnen ratzte ein Absatz, und sie stieß hervor: »Ah, jetzt kommt das!« Sie konnte sogar kurz lachen. »Du willst mir sagen, er benutzt mich nur. Richard hat mir schon gesagt, dass du es damit versuchen wirst. Du hättest generell Probleme, Veränderungen zu adaptieren.«

Meine übervolle Blase bekam Beulen. Ich stotterte: »Ach, das … das hat er … wirklich gesagt?«

»Ja, du nimmst für dich in Anspruch, was du ihm nicht zugestehst.«

»So? Was denn?«

Wie lange dauerte das eigentlich noch da drinnen? Sie wusste doch, dass ich es schier nicht mehr verheben konnte, und drückte sich noch das letzte Tröpfchen aus der eingeschrumpelten Blase.

»Freiheit!«, rief sie und zog Klopapier von der Rolle, viel Papier. »Du beharrst auf deiner Freiheit, aber er soll absolut treu sein. Du schickst ihn nach Belieben fort, aber wehe, er bleibt mal weg. In all den Jahren, sagt er, ist dir anscheinend nie der Hauch des Gedankens gekommen, dass er für dich gerne mehr gewesen wäre als ein gelegentlicher Gast für die Nacht in deiner Wohnung.«

Nee, der Gedanke war mir wirklich nicht gekommen. Schon weil Richard eine viel schönere Wohnung in teurer Halbhöhenlage hatte. Außerdem konnte er kochen, er war Workaholic und exzessiver Freizeitsportler, und wenn er dann mal für ein oder zwei Stunden vor dem Zubettgehen oder am Sonntag zu Hause war, setzte er sich an den Bechstein-Flügel. Als Frau brauchte er mich nicht. Warum sollte er für mich mehr sein wollen als ein Nachtkrabb in meiner Wohnung?

Die Spülung toste. Derya gehörte zu denen, die erst spülten und sich dann den Schlüpfer hochzogen und zum Schluss die Nylons, falls sie welche trugen. Sie trug keine, denn Heather war nicht auf den Gedanken gekommen, dass es Frauen vom Kontinent im schottischen Mai etwas frisch fanden. Auch mir bobbelten Gänsehautnoppen auf den Schenkeln, was allerdings auch an der inneren Sprengung liegen mochte.

»Normalerweise«, der Schlüssel drehte sich und Derya erschien in hellblauem Chiffon in der Tür, »sind es die Männer, die nicht merken, wenn die Beziehung schon lange im Eimer ist. Aber in diesem Fall spielst du offensichtlich diesen Part.«

Ich stieß sie im Reinrammeln mit der Schulter an und griff ihr an die Arschbacken. »Wenn du dich da mal nicht auf dem Holzwurmweg befindest, meine Schöne!«

Sie hopste zur Seite. »Und außerdem bist du ihm viel zu ordinär.«

Ich schloss mich ein, zog das Kleid hoch und den Schlüpfer runter und setzte mich. Draußen rauschte das Wasser. Aus mir lief heiß der Zorn.

»Dann pass du mal auf«, rief ich von meinem Leibhocker aus, »dass er sich mit dir nicht langweilt. Wie ist das bei dir? Bist du schon jenseits?«

Stille. Dann das Klappern des Handtuchspenders.

»Ich meine«, legte ich nach, »bist du schon mit der Altweiberhitze durch? Ist deine Scheide schon trocken gefallen?«

Keine Antwort.

»Oder kommt da noch was?«

Stille. Ich raufte Klopapier von der Rolle.

»Aber keine Sorge. Es gibt ja Gleitgels. Das törnt mächtig an!«

Ich zog mir den Slip hoch, knickte auf den hohen Absätzen um und zog das Kleid so weit hinunter, wie es ging. Als ich die Tür aufriss, schaute ich in Emmas große müde Augen.

Hoffentlich konnte sie kein Deutsch.