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Im Fährhafen von Oban – auch so eine schwarze Stadt, die in den Himmel stachelte – sah ich den dunklen Transporter wieder. Er fuhr vor uns auf die Fähre nach Craignure. Als er dort die Fähre verließ, erkannte ich einen jungen Mann und eine junge Frau hinter der Frontscheibe. Obgleich der Hafen auf der Insel Mull nur aus einem Anleger und einer Straße bestand, verlor ich den Transporter sofort aus den Augen. Was mich aber nicht weiter kümmern musste.

Die Straße bestand aus einer Fahrspur mit Buchten zum Ausweichen und machte aus 34 Meilen quer über die Insel eine große Reise durch eine Wildnis grüner Wellen, aus denen gelegentlich ein Fels hervorlugte, für den die Moosdecke nicht mehr gereicht hatte. Die Wolken hingen tief und ließen befürchten, dass wir am Ende nicht mehr zwischen Himmel und Erde hindurchpassen würden. Finley schob eine CD mit Paul McCartneys Mull of Kintyre in den Player. Womit allerdings das Kap von Kintyre gemeint war, eine Halbinsel, die sich woanders gen Irland reckte. »Still take me back to where my memories remain.«

Am Spätnachmittag erreichten wir Fionnphort. Das war eine Ansiedlung aus weißen Häuschen entlang einer Straße mit Laden, Restaurant, Bed & Breakfast und einer unendlichen Menge von Parkplätzen. Die letzte Fähre nach Iona ging um 18 Uhr. Wir stellten Finleys Wagen am Ferry Terminal ab, wo auch der schwarze Van stand. Er wirkte vor allem deshalb so schwarz, weil die Seiten- und Rückscheiben getönt waren. Ich spickte vorn hinein.

Viel lag nicht herum. Eine Sonnenbrille, Kugelschreiber, Landkarten und eine Visitenkarte, auf der ich den Schriftzug Edinburgh Evening News erkennen konnte. Offenbar interessierte sich die Presse bereits für den Spuk auf Iona.

Der Anleger befand sich in einer felsigen Bucht, wo die Fähre schon lag. Möwen hingen im Wind, kreischten und blickten lauernd auf uns herab. Fressen Möwen Dackel? Cipión schien sich nicht sicher zu sein. Er trottete mit angelegten Ohren dicht neben mir her.

Auf der anderen Seite des schmalen Wasserstreifens sah man eine grüne Erhebung, die Finley uns als Iona vorstellte. Die Insel sei so klein, wie sie aussah, keine fünf Kilometer lang, vielleicht anderthalb breit. Die höchste Erhebung hieß Dùn Ì und war hundertundeinen Meter hoch. Davor stand, eigenartig fremd, verloren und zugleich gigantisch, eine mächtige alte Abtei mit viereckigem Turm und massiven Gebäuden.

Das hatte ich nicht erwartet.

Richard kannte Iona schon, wenn auch nur aus einem Reisebericht von Theodor Fontane mit dem Titel Jenseits des Tweeds, womit nicht der Stoff, sondern der Fluss gemeint war, der England und Schottland trennte. Als Fontane hier war, im Jahr 1858, war die alte Benediktinerabtei nur Ruine gewesen. »Ein Platz für Seeadler und Möwennester, dennoch ein Ort gewaltiger Geschichte«, zitierte Richard, was Finley großzügig belachte. »Geschichte allerdings, viel Geschichte!« Denn von Iona ging in der Mitte des sechsten Jahrhunderts die Christianisierung Schottlands aus, weil nämlich der irische Mönch Kolumban, Columba, Callum oder Malcolm mit zwölf Gefährten im offenen Boot nach Schottland gesegelt war und diese kleine Insel der Inneren Hebriden ausgewählt hatte, um eine Einsiedelei zu gründen. Sie nannten sich Culdees, was in frühen irischen Manuskripten als Cele De auftaucht und »Verschworene Verbündete Gottes« bedeutet und später zu Coli dei latinisiert wurde, was nun wiederum an die culdei erinnerte, die Mönche, Einsiedler. Ein irischer, norwegischer und schottischer König nach dem anderen war nach dem Tod dort hinüber verschifft und die Road of the Dead hinauf zum Reilig Odhráin, dem Heiligen Friedhof, getragen worden.

Doch heute schien selbst das nicht mehr ganz sicher. Die Kuldeer waren von katholischen Römern vertrieben und die alten keltischen Kreuze noch später von fanatischen Puritanern ins Meer geworfen worden. Geschichte wurde zur Legende.

Gut vierzig Jahre nach Fontanes Besuch, Anfang des 20. Jahrhunderts, ließ der Duke of Argyll die Benediktinerabtei wieder aufbauen, was sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg hinzog. In den Siebzigern geriet er in finanzielle Nöte und wollte die Insel verkaufen. Ein Aufschrei ging durch Schottland: Die Königsgräber aus zweihundert Jahren in Händen eines US-Amerikaners oder Australiers? Der National Trust for Scotland erwarb Iona dann für 1,5 Millionen Pfund. Mittlerweile ist die Anlage Zentrum einer reformierten christlichen Gemeinschaft, die Jugendliche, die Gott schon sehr nahe sind, noch näher bringen soll und sie darum aus allen Weltgegenden anzieht.

An diesem Mittwochabend waren es nur eine Busladung und gut ein Dutzend Insulaner, die das Schiff bestiegen. Das Pärchen von der Presse stand an der Bugreling. Sie war blond mit Pferdeschwanz und trug eine kurze rotbraune Lederjacke, er hatte dunkle Haare und eine Kameratasche über der Schulter. Eigentlich hätten sie Richard und mich ruhig erkennen können als die vom Loch Awe. Schon am Dackel. Aber sie schauten sich nicht um.

Die Überfahrt sollte zehn Minuten dauern. Möwen kreischten, das Wasser rollte klar unter uns hinweg. Es roch nach Öl, Sand, fauligen Muscheln und Urlaub. Derya hatte sich reingesetzt. Richard stand allein an der Reling und hatte den Blick auf die Insel geheftet. Was dachte er? Wer war er in diesem Moment? Staatsanwalt oder Reisender? War er gespannt, die Abtei von innen zu sehen? Erregte ihn der Anblick von Meer, Gischt und einer geschichtsschweren Insel unter launischem Wolkenhimmel? Oder klimperte er im Kopf eine Passage aus dem Wohltemperierten Klavier ? Warum hatte er diese Reise unternommen? Was hoffte er zu finden?

Finley entdeckte ich auf der anderen Seite des Schiffs. »Die Flugzeuge fliegen immer noch nicht wieder«, begrüßte er mich. »Ich habe mich gerade mit einem vom Schiff unterhalten. Das Internet ist jetzt auch auf dem Festland zusammengebrochen. Hunderttausende von Reisenden sitzen fest. What a shame, eine Schande, dass wir dermaßen abhängig vom Internet sind. Ist das hier nicht schön?«

»Sehr schön.«

Er musterte mich. »Wie macht man das, ohne dass man Bruderschaft trinken muss? Hier sagen wir einander unsere Vornamen, und dann ist alles klar. Aber bei euch muss man anschließend noch die Grammatik aushandeln.«

Ich lachte. »Das ist eine Generationenfrage. Facebook duzt alle. Und ich bin in Facebook.«

»Ah, very zeitgeistly!« Hinter dem Lausbubengrinsen lugte ein Mann hervor, der sich fragte, was er von dem anderen Mann im cognacfarbenen Anzug zu befürchten hatte, wenn er mich anbaggerte.

»Finley«, sagte ich. »Ich habe eine Frage zu deiner Show mit dem Tantrik.«

»Ja?«

»Ist es möglich, dass so einer einen Menschen tötet?«

»Wissenschaftlich belegt ist es nicht, aber es scheint möglich. Warum funktioniert Voodoo? In Australien heißt es Boning, weil man mit einem Knochen auf jemanden zeigt. Wir nennen es den soziokulturellen Tod. Ein Mensch übertritt die Regeln der Gemeinschaft, ein Magier klagt ihn innerhalb eines Rituals an und belegt ihn mit einem Todesbann. So hat es ein Physiologe 1942 in einem Artikel über den Voodoo-Tod beschrieben. Er vertritt die Ansicht, der Tod des Verurteilten sei das Ergebnis einer Reaktion des sympathischen Nervensystems. Du kennst das als Stress. Adrenalin wird ausgeschüttet, der Herz klopft, der Atem geht tiefer.«

»Die Fight-or-flight-Reaktion.«

»Exactly. Nur dass ein Mensch unter dem Todesbann nicht weiß, wogegen er kämpfen, wovor er fliehen soll. Das bringt ihn um. Ein Psychologe vertrat später die Ansicht, der plötzliche Tod sei ein Ergebnis absoluter Hoffnungslosigkeit. Der Wille zum Weiterleben geht verloren. Dafür sei das parasympathische Nervensystem verantwortlich. Es beruhigt und blockiert, insbesondere der Vagus-Nerv, der unseren Herzschlag bremst. Man nennt es darum den Vagus-Tod. Ich denke, es ist beides. Totaler Stress und völlige Hoffnungslosigkeit. Das sympathische und das parasympathische Nervensystem schlagen sich gegenseitig tot. Den Wechsel zwischen Stress und Depression halten Herz und Kreislauf nicht lange aus. Wir kennen das von Menschen, die lange erfolgreich gegen einen Krebs kämpfen. Dann sagt ihnen der Arzt, dass sie austherapiert sind. Eine halbe Stunde später können sie sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen. Sie legen sich hin und sterben innerhalb von zwei Tagen.«

»Hm.«

»Und noch etwas kommt hinzu. Sobald das stimulierende und das beruhigende Nervensystem aus dem Tritt kommen, setzt auch das rationale Denken aus. Logik greift nicht mehr. Du kannst dem Mann nicht sagen, dass er spinnt, dass er einer Suggestion erliegt. Last but not least blockiert Stress den Stoffwechsel. Man kann nichts mehr essen, nichts trinken. Man verdurstet. In Australien ist ein Fall aus dem Jahr 1978 dokumentiert. Ein Verurteilter starb innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Allerdings ist nicht eindeutig geklärt, ob der Mann nichts mehr trinken konnte oder ob ihm die Gemeinschaft das Wasser vorenthalten hat.«

»Auch deshalb hatte der indische Tantrik keine Macht über dich. Er konnte dich aus seiner Gesellschaft nicht verstoßen, denn du gehörst in eine andere.«

»Guter Gedanke, Lisa! Aber ich kenne Europäer, die haben panische Angst vor dem Boning. Vor einigen Jahren haben wir im Institut eine Frau behandelt, die meinte, ein australischer Ureinwohner habe mit einem Knochen auf sie gezeigt und sie müsse jetzt sterben. Es ging ihr schlecht, sie war schwach und abgemagert, sie konnte nicht schlafen, nicht essen. Wir haben ihr erklärt, wie das physiologisch funktioniert. Aber das hat überhaupt nichts geholfen. Also habe ich mir mein Zaubererkostüm angezogen, einen großen Hokuspokus gemacht und einen Gegenzauber gesprochen.« Er lachte. »Sie stand auf und war geheilt.«

»Hätte Rosenfeld dem Tantrik auch standgehalten?«

»Oh! Warum fragst du mich das? Gabriel wurde von einem perversen Jungen getötet und aufgeschnitten. Oder nicht?«

Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig, dass ich Finley nicht verraten durfte, was Richard mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte. »Aber …« Ich überlegte ausflüchtig. »Die Frage, die sich mir stellt ist … äh … warum hat er sich nicht gewehrt?«

»Vielleicht ist er überrascht worden.« Finley konnte auch sehr ernst werden. »Deine Frage hat einen guten Grund, nicht wahr? Nun, jeder Mensch hat seinen ganz eigenen point of breakdown. Oft kennen wir ihn nicht, bis es so weit ist. Gabriel war ein grandioser Wissenschaftler. Als Physiker hat er uns insgesamt ein gutes Stück weitergebracht, weil er Psi-Phänomene mit Modellen der Quantenphysik erklären konnte. Aber ich war mir bei ihm nie ganz sicher, ob er nicht zu denen unter uns gehört, die davon träumen, eines Tages den fliegenden Teppich zu entdecken, das von ihm zweifelsfrei wissenschaftlich belegte Spukereignis auf Makro-Ebene.«

»Du meinst, er glaubte?«

»Vielleicht hat er es für sich offengelassen. Was im Grunde nichts anderes ist als Glaube, isn’t it?« Sein Blick schwenkte weg. »Ah, wir legen gleich an!«

In der Touristeninformation des kleinen, schwarz gesteinten Ortes namens Baile Mór besorgte man uns ein Doppel- und zwei Einzelzimmer im St. Columba Hotel. Derya war erleichtert zu wissen, wo sie ihr in Edinburgh gekauftes Köfferchen mit Inhalt hinrollen durfte. Reisen ist doch eigentlich purer Stress. Essen wir gleich oder später, hier oder woanders? Darf ich vorher duschen? Sollten wir erst die Abtei besichtigen, gibt es einen Föhn auf dem Zimmer? Meine einzige Frage an die Rezeptionistin von St. Columba lautete: »Ist ein Spanier namens Héctor Quicio hier abgestiegen?«

»Nein, tut mir leid.«

»Er soll einen Spuk auf dem Friedhof untersuchen. Vielleicht haben Sie davon gehört?«

»Nein.« Die junge Frau in der Rezeption lächelte unerschütterlich. »Hier hat es, seit ich denken kann, keinen Spuk mehr gegeben.«

Richard entfaltete desinteressiert einen Prospekt mit Inselplan. Zwei Straßen im Ort, eine Straße gen Süden halb in die Insel hinein, ein Querweg, die Abtei. Das war’s. »Ah«, bemerkte er und deutete auf die Südspitze der Insel. »Da ist der Steinbruch. Hier hat man den grünen Marmor abgebaut.«

Finley und Derya ignorierten seinen Beitrag zur Sinnlosigkeit dieser Reise. Grüner Marmor? In meinem Kopf funkte immerhin etwas, aber es reichte nicht für eine komplette Erinnerung.

»Das Dinner wird bis acht Uhr serviert«, instruierte uns die Dame an der Rezeption. »Um neun ist Gottesdienst in der Abtei. Anschließend gibt es Tee und Gebäck bei uns im Aufenthaltsraum.«

Derya wollte duschen, Finley sich die Beine vertreten. Wir verabredeten uns für in einer Dreiviertelstunde im Restaurant.

»Dann werden wir eben alle Hotels abklappern«, seufzte ich, nachdem Richard unsere Zimmertür hinter uns zugezogen hatte.

Er warf die Leine aufs Doppelbett. »Es gibt keinen Héctor auf Iona.«

»Nur deshalb sind wir hier.«

»Es ist eine Falle, Lisa.«

»Und wer hat sie ausgelegt?«

»Ich weiß es nicht.« Er stand mit den Händen in den Taschen am Fenster und gab sich missmutig dem Luxusblick hin. Die Wolken hatte es zerfetzt. Die Abendsonne, die noch lange nicht untergehen würde, beleuchtete Mull mit seiner sattgrünen Auflage dünner Vegetation, den rotbraunen Felsen und das dunkelblaue Wasser des Sunds.

»Und warum tappen wir einfach in die Falle hinein, Richard?«

»Ist dir schon einmal aufgefallen, dass wir nur dann ›einfach‹ sagen, wenn die Erklärung unseres Verhaltens höchst kompliziert wäre, viel zu kompliziert?«

Cipión sprang an ihm hoch. Er bückte sich und streichelte ihn. Dann drehte er sich um und nahm die Leine vom Bett.

»Und jetzt?« , fragte ich.

»Gehen wir die Hotels abklappern. Was sollen wir sonst tun?« Seine asymmetrischen Augen blitzten. Im Gegensatz zu mir konnte er sich ohne Protest mit Situationen abfinden. Im Grunde mochte er es sogar, wenn völlig ungewiss war, was in den nächsten Stunden passieren würde, gar nichts oder die Wende im Prozess. Am Ende würde er beweisen, dass er immer Herr der Lage war. Im Unterschied zu ihm geriet ich nur deshalb angstfrei in kritische Situationen, weil ich gar nichts vorherbedachte. Ich ließ mich vor allem von meinem Protest gegen alles leiten, was verlangte, dass man es akzeptierte.

Wir schnappten uns in der Hotelrezeption den Plan, auf dem auch Übernachtungsmöglichkeiten eingetragen waren, und wanderten ins Dorf. Möwen kreischten uns um die Ohren. »Glaubst du, dass sie Dackel fressen, Richard?«

»Ich glaube«, entgegnete er, »dass Héctors E-Mail an Finley ein Fake war. Jemand wusste, dass wir in Edinburgh waren und uns mit Finley getroffen haben.«

»Jemand, der sich ebenfalls für die Kalteneck-Experimente interessiert.«

»Möglich, aber nicht zwingend, Lisa. Vielleicht sollen wir nur nicht nach Stuttgart zurückkehren. Jedenfalls nicht heute.«

Zwischendurch betraten wir kurz das Ardoran House und fragten nach Héctor. Sie bedauerten.

»Die E-Mail passt auffällig zu unserer Unterhaltung gestern in Finleys Büro«, sagte ich. »Wir haben über Héctor geredet, über das Book of Kells, über Symbole und über Iona. Das würde bedeuten, dass unsere Unterhaltung mitgehört worden ist. Und zwar nicht über unsere Handys. Oder hast du deins inzwischen wieder an?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Finley auch nicht, glaube ich.«

»Derya habe ich vorhin auf dem Schiff telefonieren sehen.«

»Ihr Ton gefällt mir nicht«, sagte ich. »Ich traue ihr nicht.«

Richard drehte sich mit dem Rücken zum Wind, um sich unterm Jackett eine Zigarette anzuzünden. »Aber sie hat Rosenfeld nicht umgebracht.«

»Was macht dich so sicher? Hast du den Abend mit ihr verbracht?«

Richard bemühte ein Lächeln. »Nein, Lisa. Ich bin selber losgezogen und habe Rosenfeld totgezaubert, damit ich bei ihr freie Bahn habe. Aber sie hat ein Alibi. Sie war auf dem Weg nach Berlin.«

»Finley hat mir vorhin erklärt, dass es durchaus möglich ist, jemanden totzuzaubern. Sie nennen es den soziokulturellen Tod aufgrund von Uneinigkeit zwischen Sympathicus und Parasympathicus. Daraus folgt Vagus-Tod oder Stress-Verdursten. Vermutlich ist Juri Katzenjacob ein Tantrik.«

Wir schwenkten hinüber zum Bishop’s House: Bed & Breakfast, aber kein Héctor Quicio.

»Soso«, antwortete Richard. »Der Junge aus Sigmaringen ist zehn Jahre lang bei einem indischen Meister in die Schule gegangen.«

»Steht er denn nun auf der Kalteneck-Liste?«

Meine Frage kam so schnell, dass sogar Richard nicht mehr imstande war, eine Reaktion zu unterdrücken. Er nickte kaum merklich oder tat zumindest etwas, was ich bei ihm als mimische und gestische Bestätigung zu werten gelernt hatte.

»Übrigens«, redete ich mit vordergründig halber Intelligenz, während die andere Hälfte im Hirn herumwuselte und zu verstehen versuchte, was das bedeutete, »musst du den Mord an Rosenfeld nicht auf dich nehmen, Richard. Derya glaubt insgeheim, dass Rosenfeld schwul war. Daraus schließe ich, dass sie nichts mit ihm hatte. Am Wochenende pflegte er, sagt sie, mit einem geheimnisvollen Freund in den Bergen zu wandern. Gern im Tannheimer Tal. Am Wochenende seines Todes wollte er mit Finley ins Allgäu und nach Neuschwanstein, auch wenn Finley behauptet, ihr Ziel sei Schaffhausen gewesen.«

»Reine Spekulation, Lisa.«

Im Iona Hostel war der Spanier auch nicht abgestiegen.

»Dann hat die Polizei also bislang keinen Wanderfreund ausfindig gemacht, der irgendwo in Ulm wohnt.«

»Nein.«

»Vielleicht hatte er doch was mit der Sekretärin Desirée!«

»Zumindest ist sie schwanger.«

Das überraschte mich jetzt nicht wirklich. »Von wem?«

»Sie sagt, von ihm.«

»Dann war sie es. Sie hat ihn mit dem Käsebrötchen vergiftet, das sie beim Bäcker geholt hat. Und zwar weil er sie und das Kind nicht haben wollte.«

»Ja, klar. Die Frau von heute hat Gift immer im Handtäschchen dabei.«

»Rohypnol zum Beispiel, die klassischen K.o.-Tropfen. Zusammen mit Alkohol, und den hatte Rosenfeld im Magen, macht es innerhalb von zwanzig Minuten bewusstlos. Bei Überdosierung kommt es zum Atemstillstand. Und gerade Flunitrazepam, also Rohypnol, kann man beim Screening schlecht nachweisen. Wenn die Leiche zwei Tage lang herumliegt, ist es, schätze ich, aussichtslos.«

Das Argyll Hotel hatte leuchtend blau bemalte Fensterrahmen. Auch dort war der Spanier nicht abgestiegen.

»Wo sind eigentlich die Leute alle?«, fragte ich mich laut.

»Beim Abendessen.«

Außer uns war niemand auf der Gasse. Falsch: Vor dem Post Office stritten sich zwei. Ich erkannte das Paar aus dem schwarzen Van. Sie gestikulierte, er blickte missmutig drein. In der Hand hielt er eine Kamera mit großem Teleobjektiv.

»Das sind die vom Loch Awe«, erklärte ich Richard, »aus dem Auto, in das ich fast hineingelaufen wäre. Du erinnerst dich.«

Richards Blick ging hinüber. »Unsinn.«

»Es sind Reporter von den Edinburgh Evening News. In ihrem Auto liegt eine Visitenkarte. Fragen wir sie doch mal gleich, was sie hier suchen.«

»Warte, Lisa«, sagte er.

In diesem Moment nahm der Mann die Frau am Ellbogen, drehte sie dem Gässchen zu und ging mit ihr davon. Egal. Wir würden sie unweigerlich wiedertreffen.

Die meisten der unerwartet vielen Gästeunterkünfte auf dem Inselplan hatten nur zwei bis drei Zimmer. Auf Ionas Straßen kann man außerdem immer nur umkehren. Weiter oben neben dem Iona Cottage gab es den einen Store, den nach meiner bisherigen Erfahrung jedes Dorf besaß. Er hieß Spar Shop.

Richard kaufte die Edinburgh Evening News, und ich erstand ein Anglermesser. Von hier ging die Straße südwestlich hinaus ins Zentrum der Insel. Dort befanden sich laut Inselplan auch noch einige Unterkünfte. Das Clachlan Corrach lockte mit Westblick auf den Atlantik und Ostblick auf Mull. »Was meinst du, wie weit das ist?«

Richard blickte in den Wind. »Ein Kilometer.«

Cipión stand mit hängenden Ohren und hängender Rute. Ihm reichte es längst. Kurze Beine wollen nicht weit laufen.

»Kehren wir um?«

Richard hörte nicht, er schlug die Zeitung auf. Auch der Wind zeigte Interesse. Aber Richard hatte viel Übung, einer Zeitung ihren Inhalt abzutrotzen. Übrigens sprach er dabei nicht gern. Er war nicht der Mann, der mich beim Frühstück mit den Skandalen der Landespolitik und Todesfällen behelligte. Falls wir mal zusammen frühstückten.

»Das gibt’s doch nicht!«, rief er.

Er meinte nicht die bislang unerklärliche Havarie in Teilen des globalen Netzwerks, die, wie ich den Schlagzeilen entnahm, für chaotische Verhältnisse auf Flughäfen und Bahnhöfen sorgte, die Börse lahmgelegt und sogar die Nachrichtenredaktionen selbst ihres Inputs beraubt hatte.

»Professor Finley McPierson ist in den Vaults gestorben!«, sagte Richard verwundert. Er las, redete und übersetzte simultan. »Er ist seit gestern Abend verschwunden, nachdem er mit Gästen zu den South Bridge Vaults aufgebrochen war. Vermutlich ist er in einen Brunnen gestürzt. Vermisst werden außerdem die deutsche Psychologin Dr. Barzani und zwei weitere Personen.«

»Ah, dann sind wir jetzt Gespenster!«

Richard hatte keinen Nerv für dumme Scherze. »Anscheinend hat sich gestern Abend außerdem giftiges Gas in den Gewölben ausgebreitet. Steht hier. Methan, genauer gesagt.«

»Deshalb ist uns die Luft so knapp vorgekommen. Aber riecht man das nicht?«

»Methan ist geruchlos und hochexplosiv. Ein Funke und es hätte wie im Bergwerk zu einer Schlagwetterexplosion kommen können. Woher das Methan stammt, ist unklar, steht hier, aber geringe Methankonzentrationen misst man immer wieder in den Gewölben. Fäulnisprozesse unter Luftabschluss. Die schreiben, heute Morgen sei einem der Fremdenführer aufgefallen, dass der Strom abgestellt war. Glücklicherweise, denn hätte er den Lichtschalter betätigt, hätte es eine Explosion geben können. Die Stadt sei möglicherweise knapp einer Katastrophe entkommen, behaupten die hier.«

»Und die Leichen?«

»Die Feuerwehr war bis zum Mittag damit beschäftigt, die Luft abzusaugen und die Methankonzentration zu senken. Danach hat man Such- und Rettungstrupps losgeschickt. Und«, Richard schauderte, »kurz vor Redaktionsschluss ist man auf einen offen stehenden Brunnenschacht gestoßen, in dem nun die Leichen von McPierson und Barzani vermutet werden. Warum man sie dort vermutet, steht hier nicht.«

»Aber … wir haben doch den Brunnen wieder zugemacht.« Ich hetzte mit meinen Gedanken hinterher. »Das kommt mir vor wie … wie vorbereitet. Gib mir mal.«

Er gab mir das Blatt. Neben dem Artikel befand sich ein Foto von Finley McPierson. »Die Polizei«, endete der Artikel, »sucht nach den beiden weiteren Personen, die sich in Begleitung der Geisterforscher befunden haben sollen. Wie und warum sie dem Gas entkommen konnten, warum sie die beiden Wissenschaftler nicht gerettet und auch nicht die Polizei verständigt haben, ist noch unklar.« Ein Polizist wurde mit dem Satz zitiert: »Eine sehr mysteriöse Sache. Womöglich wurde hier ein Verbrechen begangen.«

»Ja, Kreuzdeifel! Na warte!« Ich schaute mich um, ob die beiden Gestalten von den Edinburgh Evening News irgendwo herumlungerten. Aber die Straße war leer.

Richard blickte finster vor sich hin. Sein Gehirn war besser als meines bei der raschen Folgenabschätzung. Es arbeitete.

»Spätestens morgen ist klar, dass es eine Falschmeldung ist«, sagte ich. »Und jemanden totsagen, der am andern Tag dem Konkurrenzblatt feixend ein Interview gibt, das ist der GAU für jede Zeitung!«

»Oder es ist … es ist eine Warnung«, sagte Richard bedächtig.

»An wen?«

Abrupt wandte er sich Richtung Hotel und marschierte los. Ich hob Cipión vom Boden hoch, klemmte ihn mir untern Arm und lief hinterher. »He, Moment! Wie meinst du das?«

»Finley und Derya sind so gut wie tot. So meine ich das, Lisa.«

»Warum die beiden, warum nicht wir?«

»Weil sie Geisterforscher sind, Lisa. So wie Rosenfeld.«

Tatsächlich wäre Finley schon gestern tot gewesen, wenn wir ihn nicht abgefangen hätten, als er in den offenen Brunnenschacht trat.

»Was hast du jetzt vor, Richard?«

»Zu Abend essen. Und wir müssen überlegen, wie wir möglichst unauffällig die Insel verlassen können.«

Das Gefühl, dass er mehr wusste, als er sagte, wurde übermächtig in mir. Warum hatte er von all den Zeitungen, die der Laden anbot, ausgerechnet diese gekauft? Wieso nicht die Times ? Oder die größte britische Boulevardzeitung Evening Image ?

»Sag mal, Richard … He warte! Wer …«

Er drehte sich um. »Und vorerst kein Wort zu Finley und Derya, hörst du, Lisa! Sie fangen sonst bloß an zu telefonieren. Und dann …«, er stockte kurz, »… wissen sie, wo wir sind.«

»Das wissen sie sowieso. Die Reporter von den Edinburgh Evening News sind doch schon hier.«

»Aber dann wüssten sie, dass Finley und Derya am Leben sind.«

»Stimmt. Oder auch nicht. Reporter lesen ihre eigene Zeitung nicht, wenn sie unterwegs sind.«

Richard schaute mich zweifelnd an.

»Glaub mir, das eigene Blatt ist nicht immer die Lieblingslektüre von Journalisten. Und die beiden sind auf jeden Fall wegen uns hier. Sie sind vorhin an der Post vor uns geflüchtet. Und auf dem Schiff haben sie betont woandershin geschaut. Sie haben uns von Edinburgh aus verfolgt. Sie wussten, dass wir nach Iona wollten. Womöglich waren sie es, die eigenhändig die Mail von Héctor Quicio gefakt haben, um uns hierher zu schaffen! Aber warum?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Wer lässt Finley und Derya totschreiben? Wer will zumindest ihren soziokulturellen Tod, Richard? Wer steckt dahinter?«

»Diese beiden kleinen Reporter jedenfalls nicht«, sagte er.

Wir hatten das St. Columba Hotel fast erreicht. Finley stand vor der Tür und winkte uns zu.