53

Mit dabei waren der Europaabgeordnete Michael Strohberg mit schwarzer Armbinde, Kurt Bodnang, Chefredakteur vom Guten Tag, und die üblichen Verdächtigen, vom faltigen Unternehmer über den bellenden Politiker bis zum berufsdummen Sportler.

Richard wies streng wie immer auf die Statistik hin und auf die sich aus unserem Rechtssystem ergebende Pflicht, einem Verdächtigen die ihm zur Last gelegten Taten zu beweisen.

»Schick sieht er aus«, bemerkte Sally.

»Aber wie soll man ihm das beweisen?«, schrie ihn Michael Strohberg sofort an. »Das ist doch Augenwischerei und Volksverdummung, was Sie hier betreiben.«

Das Publikum applaudierte frenetisch. »Arsch!«, rief Sally.

»Wer schreit hat unrecht«, erklärte Oma Scheible. Anne Will verschob die Lippen gegeneinander und bat darum, sachlich zu bleiben.

»Es ist bisher nicht erwiesen«, sagte Richard, »dass Herr Katzenjacob überhaupt übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Er ist vom Freiburger Institut für Parapsychologie über mehrere Tage eingehend getestet worden. Mit negativem Ergebnis. Er hat nicht einmal die Standard-Experimente mit Zufallsgeneratoren bestanden.«

»Ja, das behaupten Sie!«, schrie Strohberg. »Weil es in Ihrem Interesse liegt, dass wir nicht die Wahrheit erfahren. Sie wollen, dass Ruhe herrscht. Sie wollen die Bevölkerung dumm halten, das kennt man ja.«

Applaus.

»Sie täuschen sich, Herr Strohberg. Ich finde Dummheit und Ruhe langweilig.«

Auch das gab Applaus. Sally klatschte mit.

»Also gut, Herr Weber. Gehen wir davon aus, er sei getestet worden. Aber wer sagt uns, dass er die Herren Professoren nicht getäuscht hat?«

»Ich vermute, Herr Professor Dr. Dr. Lucadou versteht sein Handwerk. Und es ist bekannt, dass man Psi-Fähigkeiten nicht so einfach verheimlichen kann. Nimmt sich eine Person nämlich vor, keinen Effekt zu erzeugen, erzeugt sie einen signifikanten Negativausschlag in der Statistik, der rechnerisch erkennbar ist. Und Katzenjacob hatte ein Interesse daran, zu zeigen, dass er telekinetische Fähigkeiten hat.«

»Das ist doch alles Lüge! Sie können uns hier das Blaue vom Himmel runter erzählen. Wir können es nicht überprüfen.«

Richard zog die Brauen hoch.

»Wie Sie vielleicht wissen«, fuhr Strohberg fort, »ist der Beweis einer PK-Begabung bereits bei einer Abweichung von 2,1 von der normalen Zufallsverteilung erbracht. Und das ist bei ihm der Fall. Ich berufe mich dabei auf Experimente, die im Institut Kalteneck in Holzgerlingen noch von Professor Rosenfeld durchgeführt worden sind.«

»Ich bin kein Fachmann für Parapsychologie wie Sie«, erwiderte Richard, »deshalb kann ich zu der Zahl nichts sagen. Zudem frage ich mich, woher Sie diese Information haben. Die Kalteneck-Experimente wurden anonymisiert. Die Klarnamen sind passwortgesichert hinterlegt. Eine Zuordnung der statistischen Auswertung zu Personen ist mithin nicht möglich.«

»Ich habe die Liste gesehen.«

»Wo denn?« Richard beugte sich vor. »Ein Ausdruck dieser Liste wurde bei einem Einbruch in das Koestler-Institut in Edinburgh im Mai von Unbekannten gestohlen!«

»Ich befinde mich jetzt hier nicht in einem Verhör oder wie? Glauben Sie mir, ich weiß, dass Katzenjacob telekinetische Fähigkeiten besitzt. Geben Sie endlich zu, Herr Weber, dass Sie nicht mehr weiterwissen. Warum sonst hätten sie ihn völlig isoliert? Warum darf er weder fernsehen noch telefonieren? Warum werden alle Briefe, die er schreibt oder bekommt, vom Sicherheitspersonal gelesen? Warum darf ihn niemand besuchen außer seinem Anwalt?«

»Weil das bei Untersuchungshäftlingen so üblich ist.«

»Ich will Ihnen sagen, warum das so ist. Weil auch Sie überzeugt sind, dass er gefährlich ist. Geben Sie sich einen Ruck, Herr Weber, gestehen Sie Ihre Ohnmacht ein, geben Sie zu, dass Sie nicht weiterwissen.«

Das Publikum applaudierte heftig.

Anne Will verschob die Lippen und fragte die anderen: »Hand aufs Herz! Glauben Sie an übersinnliche Fähigkeiten?«

Es fiel natürlich der Satz: »Ich glaube schon, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.«

Und Richard antwortete: »Ja, so ungefähr sagt es Hamlet zu Horatio, nachdem ihm der Geist seines Vaters erschienen ist. Es hat mich immer gestört, dass hier ›philosophy‹ mit Schulweisheit übersetzt wird.«

»Bevor es linguistisch wird«, unterbrach Will erneut, »an alle die Frage: Glauben Sie, dass Hellseherei, Gedankenlesen und Telekinese möglich sind? Herr Friedrich, Sie als Innenminister müssen den Papst schützen, wenn er am 22. September nach Deutschland kommt.«

Ich sah Richard an, dass er bereit war, eine wissenschaftliche Differenzierung zwischen den drei Begriffen zu machen, aber er wurde nicht gefragt und hielt den Mund.

Der bayrische Lockenkopf versuchte klarzumachen, dass er es für völlig ausgeschlossen hielt, dass ein U-Häftling den Papst in Gefahr bringen konnte, zumal bei so einem Gast ohnehin höchste Sicherheitsstufe herrsche.

Da krachte es im Studio, und ein Schweinwerfer baumelte kurz oben durchs Bild. Zum Glück besaßen die Dinger Fangseile.

»Jessas«, seufzte Sally. »Meine Nerven!«

Wie war eigentlich, fragte ich mich plötzlich, im Bundestag der Bundesadler aufgehängt? Und sollte nicht der Papst im Bundestag reden? Ich stand auf, setzte mich an meinen Klappcomputer und suchte Bilder. Der Adler war nach seinen Bonner Anfängen in Gips und Holz nun im Reichstag vom Stuttgarter Architekten Behnisch aus Aluminium gemacht, wog irgendwelche zwei bis drei Tonnen und war an vier Seilen aufgehängt. Nur vier. Zwei an jedem Flügel. Wenn einer riss, hielt immer noch der andere.

»Was macht er denn?«, rief Sally. »Lisa, schau mal!«

Wir sahen groß Richards Gesicht, glattrasiert mit dem willensstarken Kinn und mit der kleinen Narbe frühkindlicher Verletzung am Lid. Im gleißenden Studiolicht leuchteten seine Augen hell wie Bernsteine. Er hatte sich vorgebeugt und fixierte nacheinander jeden. »Am besten«, sagte er gerade, »versteht man, was Parapsychologie ist, wenn man es selbst erlebt. Es ist viel einfacher, als Sie denken. Ich schlage einen kleinen Versuch vor. Hier und jetzt.«

»Was soll das denn wieder? Ich lasse mich von Ihnen nicht an der Nase herumführen!«, rief Strohberg. »Das Thema ist viel zu ernst, als dass wir uns hier Albernheiten hingeben!«

»Sie halten es für eine Albernheit, wenn ich Ihnen sage, dass ein parapsychologisches Ereignis möglich ist und wir es erzeugen können?«, fragte Richard lächelnd.

Ich spürte, wie die Spannung bei den Leuten im Studio zunahm. »Es geht nicht, Richard«, sagte ich. »Es sind zu viele Beobachter dabei! Zu viele Kameras!«

»Jetzt lass ihn doch mal!«, rief Sally.

»Was haben Sie denn vor?«, fragte Anne Will mit leichter Bangigkeit in der Stimme.

»Meine Freundin hat mich darauf gebracht«, sagte er. »Sie hat kürzlich die Lottoziehung beeinflusst.«

Sally schaute mich groß an. »Wirklich, echt? Wie viel hast du gewonnen?«

»Pscht!«, machte Oma Scheible. »I verschtah nix.«

Warum nannte er mich öffentlich seine Freundin? Ich verstand auch nix.

»Nein, sie hat keinen Sechser gewonnen«, fuhr Richard fort. »Aber es gab Übereinstimmungen bei den Zahlen.«

Durch die Sitzenden ging ein Ruck, teils der Skepsis, teils der Aufmerksamkeit. Ich hielt den Atem an. Erstens, weil er mich öffentlich als seine Freundin präsentierte, und zweitens, weil er meine Geschichte so ernst nahm.

»Ein ähnliches Experiment können wir hier auch machen.« Er griff sich in die Jackentasche, streckte dann die Hand aus und zeigte uns fünf Würfel in seinem Handteller.

»Es geht nicht!«, wiederholte ich. Es war die blanke Angst davor, dass er sich blamierte. »Zu viele Kameras! Glaub mir!«

»Scht!«, zischelte Sally.

»Und jetzt sollen wir uns eine Zahl wünschen?«, fragte Kurt Bodnang vom Guten Tag. »Und wenn wir uns alle verschiedene Zahlen wünschen?«

»Es spielt keine Rolle«, erwiderte Richard. »Ich werfe die Würfel, und wir sehen, was sie uns erzählen. Entscheidend ist nur, dass Sie sich darauf einlassen. In diesem Moment bilden wir ein komplexes System, das sich einig darin ist, diese Würfel zu manipulieren.«

»Aber …«, muckte Friedrich und winkte dann ab. »Versuchen wir es. Was müssen wir tun?«

»Ich mache da nicht mit!«, sagte Strohberg.

»Das müssen Sie auch nicht«, antwortete Richard. »Aber wenn Sie völlig sicher sein wollen, dass Sie nichts beisteuern, dann sollten Sie aufstehen und den Raum verlassen.«

Das wollte der Europaabgeordnete aus Winnenden dann auch wieder nicht.

»Gut«, sagte Richard und schloss die Faust um die Würfel. »Ich schlage vor, dass wir uns ein paar Sekunden darauf konzentrieren, dass die Würfel nachher ein bestimmtes Bild ergeben.«

»Was für ein Bild?«, fragte Will.

»Beispielsweise einen Dreierpasch oder einen Dreier- und einen Zweierpasch oder die Summe 23. Wir werden uns hier schon einig werden.« Er schaute alle an. Dann wandte er sich zum Publikum um. »Sie können übrigens gerne mitmachen. Bereit? Dann los. Konzentrieren wir uns!«

»Ich weiß nicht, was ich mir vorstellen soll«, sagte Sally gehetzt. »Sechs Sechsen? Da stellen sich doch jetzt alle was anderes vor. Wie soll das denn gehen?«

Ich dachte gar nichts. Ich war perplex. Verarschte Richard uns gerade mit seiner tieferen Kenntnis vom Wesen der Wahrscheinlichkeit? Und warum tat er das? Er hatte doch gar kein Interesse daran, dass die Leute an mentale Kräfte glaubten. Oder doch?

Oma Scheible hatte ihre Äuglein auf die Mattscheibe geheftet und murmelte beschwörend vor sich hin.

Es war ein seltener Moment in der Geschichte der Talkshows: Die ganze Runde schwieg. Währenddessen streckte Richard langsam seine Faust mit den Würfeln in die Mitte aus und drehte sie so, dass sie zu Boden fallen mussten, wenn er die Finger öffnete. Fast entging mir der Moment, und ich bin sicher, auch für die andern kam es unmerklich. Auf einmal kullerten die Würfel über den Boden, die Kameras haschten nach Augen.

Sally zappelte auf dem Sofa. »Was ist nun, was ist? Mann!«

Es war der Fußballer, der aufstand und in die Hocke ging, um die Zahlen abzulesen. »Fünf, drei, vier, eins, zwei.«

»1, 2, 3, 4, 5«, sagte Richard.

»Scheeeeiiiiiße!«, rief Sally leidenschaftlich beeindruckt. »Das gibt’s doch nicht!«

Richard lächelte. »Ein in der Tat sehr schönes Bild.«

Anne Will lachte verblüfft. Strohbergs Miene war finster und etwas erschrocken, der Fußballer setzte sich wieder hin und bemühte sich, gar nichts zu denken. Innenminister Friedrich rieb sich das Kinn.

»Hm«, überlegte der Unternehmer, »jetzt müsste man wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für so eine Reihe ist.«

»Sie liegt bei 1,5 Prozent«, antwortete Richard. »Aber das ist nicht wichtig. Psi ist das nicht zufällige Zusammentreffen unseres Willens mit dem statistischen Ausreißer eines Zufallsgenerators. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Ah«, machte Sally. »Wie meint er das jetzt?«

Während Richard der Runde geduldig erklärte, dass es sich bei Psi nicht um eine Kraft oder Macht handelte, sondern darum, dass sich Elemente eines Systems, dessen Teil der menschliche Geist war, in einem winzigen Moment ihres Daseins synchron verhielten, versuchte ich, dasselbe Sally und Oma Scheible zu erklären.

Richard wandte sich schließlich an Strohberg und sagte: »Ich habe gehofft, Sie davon überzeugen zu können, dass die Taten, die Sie Herrn Katzenjacob unterstellen, in der Form nicht möglich sind. Wobei ich nicht in Abrede stellen will, dass es Phänomene gibt, die wir mit der klassischen Physik nicht erklären können.«

»Sie haben doch die Würfel manipuliert!«, antwortete Strohberg. »Sie führen uns permanent an der Nase herum. Sie manipulieren und betrügen! Ihnen kann man nichts glauben. Nur weil ich Katzenjacob für gefährlich halte, heißt das noch lange nicht, dass ich jeden Zaubertrick für Psi halte.«

Die Moderatorin machte einen energischen Versuch, die Gesprächsführung zurückzuerobern, und brachte den Fall Schleyer ins Spiel. »Damals hat ein niederländischer Hellseher den Ort gesehen, wo Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977 von der RAF gefangen gehalten wurde. Leider hat ihm die Polizei offenbar nicht geglaubt.«

Sie schaute den Innenminister an. Der schaute zum Staatsanwalt hinüber. Richard nickte. Und weil offenbar niemand reden wollte, sagte er: »Ja, es liegt zumindest eine Akte darüber im IGPP-Archiv, also dem Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. Hans Bender hat zwei Sonderermittlern, die vermutlich eigenmächtig gehandelt haben, damals den Kontakt gemacht. Bender hielt den Niederländer für einen der besten Hellseher. Er konnte Personen und Gegenstände finden, allerdings war er erfolgreicher in spielerischen Situationen. Bei Mord und Verbrechen versagte er meist. Bender notierte damals, es habe für die Polizisten detaillierte und zentrale Erkenntnisse gegeben, aber er hat nicht notiert, welche. Die Polizei observierte später ein bestimmtes Wohngebiet in Köln, möglicherweise aufgrund der Angaben dieses Hellsehers. Aber auch das ist nicht belegt. Es ist einer der vielen Fälle, bei denen sich die Wahrheit hinter der mächtigen Legende nicht mehr rekonstruieren lässt.«

»Man hat immerhin aufgrund der Aussagen des Hellsehers das Auto gefunden, mit dem Schleyer entführt wurde!«, rief Strohberg empört. »Ich finde es langsam unerträglich, wie Sie uns hier belügen. Und ich wiederhole … nein, jetzt lassen Sie mich ausreden, Sie hatten Ihre Show, Herr Weber, alle haben Ihnen zugehört, jetzt hören Sie mir zu. Ich wiederhole meinen Vorschlag: Lasst ihn uns aus unserer Mitte entfernen. Lasst ihn uns auf eine unbewohnte Insel bringen. Dort mag sein Geist zur Ruhe kommen. Dort mag er sich auf sich selbst besinnen, statt sich mit der Störung von Flugzeugen und Atomkraftwerken zu beschäftigen. Dort wäre er von jeglicher Information über unsere Welt abgeschnitten. Er könnte unsere Gehirne nicht mehr anzapfen.«

»Telepathie ist etwas anderes als Telekinese«, bemerkte Richard freundlich. »Und soweit ich informiert bin, spielen Entfernungen grundsätzlich keine Rolle.«

Daraufhin unterbrach die Moderatorin mit der Bemerkung, jetzt werde es zu fachspezifisch, und ließ das Publikum befragen.

Eine Frau weinte: »Meine Kinder haben nachts Alpträume. Sie trauen sich nicht einmal mehr Roller zu fahren. Wir fühlen uns unseres Lebens nicht mehr sicher. Nennen Sie das ein würdiges Leben? Muss ich mir denn über die Menschenwürde eines perversen Leichenschänders wirklich Gedanken machen? Muss der Rechtsstaat einen Teufel schützen?«

Es ist kompliziert, und daran scheitern wir.