33
Heather hatte in einem bunten Esszimmer ein schottisches Frühstück aufgetischt. Finley schmauste, Derya nippte, Richard stocherte im Bückling und mir war schon schlecht. Mit dem Toast brachte Heather untern Arm geklemmt eine Zeitung herein und verkündete fröhlich: »Die Zeitung ist da. Und über Sie steht da auch was.«
Mit dem gebotenen Anschein von Zurückhaltung riss Richard die Zeitung unter ihrem Arm hervor und klappte sie auf.
Das Blatt hieß News of Scotland. Die Schlagzeile lautete: »Gang of Four Evades Police«. Daneben ein Foto, das der Reporter gestern geblitzt hatte. Es zeigte Richard, wie er sich gerade abwandte, Finleys blitzende Brille und Derya mit Haaren übers Gesicht geweht. Zu erkennen war niemand. Von mir waren sowieso nur Arm und Schulter zu sehen. Außerdem gab es ein Foto vom St. Martin’s Cross mit unseren vier Gestalten im Abendlicht und daneben noch mal groß Richards Gesicht. Ich hätte nicht mit dramatischer Geste die Kamera zerstören, sondern nur die Speicherkarte herausnehmen sollen.
»Und was schreiben die?«, fragten Finley und Derya.
»Sie sind gefährliche Terroristen«, verkündete Heather vergnügt. »Sie planen Anschläge und wollen die Welt in Angst und Schrecken stürzen. Sie beherrschen die schwarze Magie, ein Medium lässt für Sie Flugzeuge abstürzen, so wie das vorgestern. Funny, isn’t it?«
»Wir saßen selbst in diesem Flugzeug«, sagte Derya entsetzt. »Das ist doch Unsinn. Wir hätten doch nicht uns selbst in Gefahr gebracht.«
Auf einmal ahnte ich, warum ich gestern keine Bilder von unserem Aufenthalt nach der Notlandung in Abington gefunden hatte. Es gab keine. Es sollte keine geben. Und ich wäre jede Wette eingegangen, dass auch die News of Scotland dem Groschenkamp-Konzern gehörten. Richard hatte recht. Oder vielmehr, er hatte es endlich eingesehen: Oiger Groschenkamp war der, um den wir uns kümmern mussten.
»Ich glaube kein Wort davon!«, versicherte Heather unerschütterlich in ihren geblümten Rundungen. »Die Zeitungen lügen doch alle.«
»Sehr vernünftig, Heather«, sagte Finley. »Sie sind klüger als wir alle.«
»Ist das wahr, Richard? Steht das da wirklich?«, fragte Derya.
Was er vorlas, war in der Tat schwindelerregend. Demnach hatte die Polizei den Tipp erhalten, dass sich eine mysteriöse und von der deutschen Polizei gesuchte Viererbande auf Iona aufhalte. Diese Individuen – ein Deutscher, eine Libanesin, ein Brite und eine weitere Person – hätten sich dem Zugriff der Polizei jedoch entzogen und seien in einem gestohlenen Boot geflüchtet. Dies sei nach Angaben seines Besitzers schadhaft gewesen und höchstwahrscheinlich im Sund gesunken. Von der Viererbande fehle derzeit jede Spur. Die sofort im Sund eingeleitete Suche sei ergebnislos verlaufen.
»Jetzt bin ich zum zweiten Mal tot«, bemerkte Finley lachend. »Doppelt genäht hält besser.«
Richard schaute ihn nachdenklich an. »Es muss sehr wichtig sein, dass ihr tot seid, Finley und du, Derya. Denn hier behaupten sie sogar, dass ein DNS-Test die Identität der in den Edinburgh Vaults gefundenen Leichen bestätigt habe. Das seid ihr. Und mit euch seien der Parapsychologie zwei herausragende Persönlichkeiten und brillante Wissenschaftler verloren gegangen. Die Todesumstände seien mysteriös. Hinweise auf Schussverletzungen hätten sich nicht erhärtet. Die genaue Todesursache sei unklar. Eine Methanvergiftung könne ausgeschlossen werden. Es stehe zu vermuten, dass der Sturz in den Brunnen zu tödlichen Verletzungen geführt habe. Ihr seid, behaupten die, der zweite und dritte Geisterforscher, die seit Jahresanfang unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind. Ende Januar sei in einem Dorf bei Stuttgart in Deutschland die Leiche von Prof. Rosenfeld entdeckt worden, eine Kapazität auf dem Gebiet der Telekinese, ebenfalls übel zugerichtet. Auch hier habe die eigentliche Todesursache bisher nicht geklärt werden können.«
»Look at that!«, rief Finley und schaute mich verschwörerisch an.
»Müssen die Geisterjäger rund um den Globus nun um ihr Leben fürchten«, resümierte das Blatt fragend, »weil sich ein Wahnsinniger und seine Spießgesellen für mangelnde Anerkennung übersinnlicher Fähigkeiten rächen wollen? Oder ist das Ziel ihres Mordzugs durch Europa ein anderes? Geht es womöglich um einen geheimnisvollen Mann, der enorme übersinnliche Kräfte besitzt und den diese Bande finden will, um die Weltherrschaft anzutreten?«
»Hui!«, schnaufte ich.
»Amazing!«, sagte Finley. »Das ist ein Spuk! Und ich durchschaue den Trick nicht.«
»Der Trick ist ganz einfach«, sagte ich. »Sie gehen von realen Fakten aus und erfinden den Rest, damit es nach etwas Großem aussieht. Das macht die Presse gern so.«
»Was meinen die denn damit?«, fragte Derya. »Ein Wahnsinniger und seine Spießgesellen? Wer sind wir denn ihrer Meinung nach?«
»Terroristen«, jubelte Finley. »Das wollte ich immer schon mal sein. Man bekommt so herrlich viel Aufmerksamkeit, und alle fürchten sich, und man wird gejagt und erschossen.«
Derya wurde blass.
Richard war vorübergehend verstummt. Fasziniert und angewidert starrte er in die Zeitung.
Finley nahm sie ihm weg und referierte mit dramatischer Geste: »Genialer Kopf der Bande ist ein Deutscher, der sich bevorzugt als Staatsanwalt ausgibt. In kriminellen Kreisen wird er El Tio genannt … Das heißt ›der Onkel‹, nicht wahr?«
Richard nickte gequält. Er mochte es nicht, wenn man ihn öffentlich hochstilisierte. Es widersprach seiner Neigung zur Bescheidenheit.
»Er gilt als skrupellos«, fuhr Finley fort. »Sein Vermögen soll er mit illegalen Geschäften mit Waffen und Drogen gemacht haben. Er hat sich bereits mehrmals einer Festnahme entzogen und droht für den Fall seiner Verhaftung mit einer Rache, die – so steht es hier – die Welt ins Chaos stürzen wird.« Finley schaute amüsiert hoch. »Wie wirst du das bewerkstelligen, Richard. Wie stürzt man die Welt ins Chaos. Ah, richtig: Ein kleines Internetchaos hatten wir ja gestern schon.«
»Aber das können die doch nicht einfach so schreiben!«, rief Derya. »Das entbehrt doch jeglicher Grundlage.«
»Übrigens bist du die schöne und rätselhafte Geliebte unseres genialen Kopfes, eine Prinzessin aus dem Libanon. Und ich … hm … ich bin nur ein älterer Mann aus der Londoner Unterwelt, vermutlich ein Killer, und, sorry, Lisa, du bist nur eine weitere Person.«
Wir schauten uns ratlos an.
»Am besten, ich rufe im Institut an und sage meinen Leuten, dass ich noch lebe«, schlug Finley vor. »Sie könnten eine Pressemitteilung herausgeben.«
»Nein! Lieber nicht«, sagte ich. »Wenn du dein Handy benutzt, wissen die, wo wir sind.«
»Dann rufe ich vom Festnetz aus an. Heather hat sicherlich ein Telefon. Außerdem müssen wir hier weg. Wir brauchen ein Auto, ein Taxi. Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich in die zivilisierte Welt zurück. Hier würde man uns erkennen, sobald wir auf die Straße treten.«
Mir fiel die Visitenkarte wieder ein, die ich vorhin erst in der Hand gehabt hatte. Ich fischte sie aus der Tasche und drehte sie überm Tisch in den Fingern. »Wie wär’s, wenn wir uns von der Presse selbst kutschieren lassen? Dann kann sie uns schon mal nicht verfolgen.«
Richard hob den Blick.
»Diese Emma Reid hat mir gestern tausend Pfund für unsere Story angeboten.«
»Das ist aber wenig!«, rief Finley entrüstet.
»Sorry, Finley, ich hatte keine Zeit zu feilschen.«
»Ich verstehe nicht recht, was das bringen soll«, griff Derya ein. »Das scheint mir alles viel zu abenteuerlich gedacht. Wir sollten uns nicht auf die Ebene hinablassen, die diese Schmierfinken vorgeben. Ich halte es für vernünftiger, dem Spuk unverzüglich ein Ende zu bereiten. Wir sollten uns direkt zur Polizei begeben. Wir können unsere Identitäten zweifelsfrei belegen. Und dann klärt sich das alles rasch auf.«
»Nein«, sagte Richard.
Sie schaute ihn irritiert an.
Er schaute zurück. »Zum einen müssen wir von hier erst einmal zur Polizei kommen …«
»Heather telefoniert draußen vermutlich längst mit der Polizei«, hielt Derya gegen. »Dann hat sich das sowieso erledigt.«
»Zum zweiten«, fuhr Richard ungerührt fort, »kann ein Gutteil der Informationen, die hier stehen, nur von der Polizei stammen. Und zwar nicht von der Ortspolizei, sondern von zentralen Stellen, die Zugriff auf internationale Polizeidatenbanken haben.«
»Und das bedeutet?«
Richard zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nur spekulieren, Derya. Aber ein Polizeiapparat ist ein in sich geschlossenes System, das sich in Teilen der Kontrolle von außen entzieht. In hierarchisch geordneten geschlossenen Systemen können die seltsamsten Dinge geschehen. Unbescholtene Bürger sind plötzlich Schwerverbrecher, Ausweise sind gefälscht, DNS-Proben werden neu interpretiert. Es ist wie ein Spuk, Derya. Der ereignet sich auch nur, wenn Personen für einen gewissen Zeitraum ein geschlossenes System bilden, in das von außen niemand hineinschaut. Dann meldet sich der Geist eines Toten, dann sagt er Dinge, die niemand vorher wusste, dann zerplatzt plötzlich ein Glas, Gegenstände schweben, Lichter erscheinen.«
Oha! So interpretierte er also jetzt unser Tischrücken auf Monrepos. Im Gegensatz zu mir hatte er sich die Mühe gemacht, Fachbücher zu lesen. Und nun konnte er Derya mit den Theorien ihrer eigenen Zunft schlagen. Rechthaben war halt sein größtes Hobby.
»Ich denke«, schloss er, »wir sollten so schnell wie irgend möglich die Insel und überhaupt dieses Land verlassen.«
Falls wir noch können, dachte ich. Aber es war weit im Voraus gedacht, denn ohne Autoschlüssel konnten wir nicht einmal autark die Insel verlassen.
Ich wackelte noch mal fragend mit Emmas Visitenkarte.
Er nickte mir zu.
Ich öffnete mein Handy.
»Halt!«, rief Derya. »Wieso darf die mit ihrem Handy telefonieren, aber wir nicht?«
»Weil meines inzwischen spionagesicher ist und ohne offizielle Anfrage beim Telefonanbieter nicht mehr lokalisiert werden kann.«
»Und wenn diese Emma die Polizei auf uns hetzt?«
»Das wäre gegen ihre eigenen Interessen«, sagte Richard. »Sie bekommt ihre Story nicht, wenn uns die Polizei erschießt.«
»Sie müssen uns ja nicht gleich erschießen!«, besänftigte Finley. »Wir halten rechtzeitig die Hände hoch.«
»Aber es geht darum, dass wir tot sind, Finley«, gab ich zu bedenken. »Es geht um unseren, vielmehr deinen und Deryas soziokulturellen Tod.«
Er lachte und raufte sich dabei die weißen Haare.
Ich reichte Handy und Visitenkarte an Richard weiter. »Telefonier du. Du bist der geniale Kopf der Bande.«
Richard setzte die Lesebrille auf. Es klingelte lange. Dann nahm jemand ab. »Sie wollen die Story?«, eröffnete er ohne Umschweife.
Die Antwort oder Gegenfrage hörten wir nur quäken.
»Ja.«
Drüben auf Iona redete wieder jemand.
»Nein!«, sagte Richard.
Gequäke.
»Nein! Wir machen es so, wie ich es sage.« Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sie nehmen die nächste Fähre.« Er schaute auf die Uhr. »Okay, dann die um 10 Uhr 30. Und dann warten Sie bei Ihrem Wagen. Draußen, nicht im Wagen.«
Gequäke.
»Nein, wir melden uns.« Damit tippte er das Gespräch weg und schaute uns nachdenklich an. Ich hatte immer schon gewusst, dass ein guter Staatsanwalt sich zum genialen Verbrecher eignet. »Der Vorteil dieses Kaffs am Ende der christlichen Welt ist«, sagte er, »dass man jeden Cop auf zwei Meilen Entfernung sieht.«
Eine andere Wahl hatten wir ohnehin nicht.
Wir gingen Heather in der Küche suchen. »Aber so können Sie nicht hinaus«, sagte sie. »Jetzt hat jeder hier die Zeitung gelesen. Außerdem bringen sie es in den Nachrichten.« Sie deutete auf den Fernseher, der zwischen Mikrowelle und Backofen stand. In einem Sender mit Nachrichtenlaufband befragte eine blonde Moderatorin gerade einen Mann über die Möglichkeiten, per Geisteskraft das Internet lahmzulegen.
»Ah!«, rief Finley. »Haben sie den alten John wieder ausgegraben. Der wettert schon seit Jahren gegen den Rationalismus und verkündet, dass eines Tages der große Psi-Meister kommt und uns das Fürchten lehrt. Die Geisterwelt schlägt zurück und solche Dinge.«
»An so etwas glaube ich nicht«, erklärte Heather. »Und mir tun die Leute leid, die sich dadurch ängstigen lassen. Übrigens weiß ich, was wir machen.« Zufällig war sie Herrin über den Fundus einer Laienspieltruppe, die im Sommer auf den Hebriden den Sommernachtstraum und Macbeth aufführte. »Aber nicht in historischen Kostümen!«, betonte sie. »Sondern in zeitgenössischen, wenn auch traditionellen.«
Wir begaben uns unters Dach in einen großen Raum voller Kleider auf Kleiderstangen, mit großem Spiegel und einer Umkleidekabine. Mit geübtem Auge für Typus und Kleidergröße gab Heather die Kostüme aus. Derya überreichte sie ein hellblaues Kleid mit Hut im Stil des Sehen-und-gesehen-Werdens in Ascot. Für mich hatte sie ein schwarzes Schlauchkleid mit Pelz-Bolero und Lacklederstiefel, die bis übers Knie reichten. »Aber ein bisschen Farbe müssen Sie dazu schon auflegen in Ihrem Gesicht. Dann sieht man auch die Narben nicht so.« Bei Finley schwankte sie zwischen grauem Cut mit Stock und Bowler und altenglischem Landjunker mit Reitstiefeln und entschied sich für Letzteres. Bei Richard wiederum zauderte sie keine Sekunde. Liebevoll lächelnd überreichte sie ihm das, was er am meisten fürchtete: den Kilt. »Das ist der Tartan des Campbell-Clans, zu dem auch unsere Dukes of Argyll gehören.«
Richard schauderte. »Nein, das …«
»Oh, er wird Ihnen wundervoll stehen. Viele gibt es nicht, die den Kilt tragen können, glauben Sie mir. Aber Sie haben genau die richtige Figur. Nicht zu groß, ordentliche Schultern für das Jackett, schlanke Hüften, und Sie können Knie zeigen. Ich finde, ein Mann wird erst wirklich zum Mann, wenn er den Kilt tragen kann.«
»Oh, ja!«, rief Derya hingerissen. »Das musst du anziehen, Richard. Das sieht bestimmt umwerfend aus.«
Er kämpfte auf verlorenem Posten. Gegen Heathers Autorität und Deryas Wünsche kam er nicht an. Wenig später stand vor uns ein grimmiger Highlander in weißem Hemd mit Fliege unter dem schwarzen Argyll-Sakko mit Silberknöpfen und im blaugrünen Karorock mit Gürtel und Seehundfelltasche. Die strammen Waden steckten in zweimal umgeschlagenen Wollstulpen, die von beflaggten Gummibändern gehalten wurden. Und ins rechte Strumpfband schob Heather ihm in karierter Hülle den Sgian Dhu, den schwarzen Dolch, ein durchaus brauchbares stämmiges Messer. An den Füßen trug Richard schwarze Schuhe, die man befremdlicherweise bis über die Knöchel hoch schnürte.
Derya hatte die Hände vorm Kinn zusammengeschlagen und lächelte versonnen. Heather ging noch einmal vor Richard aufs Knie, um die Kiltnadel besser zu platzieren. Finley grämte sich, denn er besaß selbst einen Kilt und hätte ihn gern getragen. Und mir tat es grausig leid, dass ich vorhin den Schottenrock zu Hilfe genommen hatte, um Richard wirkungsvoll zu verletzen.
Unsere unansehnlichen Originalkleider versenkten wir in einem Jägerrucksack aus Heathers Fundus, den Finley schulterte. Mit Richards Kreditkarte bezahlten wir Bett und Frühstück und eine großzügige Leihgebühr für die Kostüme – allein Richards war locker 800 Pfund wert –, und um halb elf verließen wir das Haus und wanderten die Straße entlang, am Ferry Shop vorbei in Richtung Pier.
Und tatsächlich drehte sich niemand nach uns um und starrte uns offenen Maules hinterher. Keiner wunderte sich über einen Schotten im Rock, der mit einem Landjunker, zwei bunten Vamps und einem Dackel die Straße entlangschlenderte.