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Dass wir nicht einer gemeinschaftlichen Hysterie erlegen waren, zeigte sich, als auf dem Parkplatz am Straßenrand Finleys Wagen explodierte. Es war keine große Explosion, aber der Rover brannte schnurzelnd ab. Wir hatten es von oben beobachtet. Ein gehetzter Iona-Tourist, der die Fähre noch erreichen wollte, hatte etwas schwungvoll eingeparkt und dabei den Rover gestreift. Der wackelte sichtbar, und ehe Finley zucken konnte, gab es einen Puff und Flammen hüllten den Wagen ein, schwarzer Rauch stieg empor.

Man glaubt es erst nicht. Das passierte im normalen Leben nicht. Das war Film, Fiktion, Phantasie. Nicht auszudenken, wenn wir uns gestern Abend reingesetzt und die Türen zugeschlagen hätten!

Derya brach in Tränen aus. Richard legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. »Scht, scht!«

»Ich wollte mir sowieso einen neuen kaufen«, bemerkte Finley.

Menschen versammelten sich in weitem Kreis um den brennenden Wagen. Vom schwarzen Van löste sich einer mit einer Kamera und machte Fotos.

»Besser, wir ziehen uns zurück«, sagte ich. »Hier dürfte demnächst die Polizei auftauchen.«

Ich gab Richard noch einmal mein Handy, und er rief Emma an, um sie zum Laden hoch in den Ort zu beordern. Wir kehrten derweil um und wanderten zurück. Im Ferry Shop kaufte Richard alle Zeitungen zusammen, die dort lagen. Dann kam auch schon der schwarze Van. Der Fotograf saß am Steuer. Emma und er schauten uns mit erstaunten Augen an, fassten sich aber schnell.

Sie stieg aus und öffnete uns die Seitentür. Schlafsack und Campingutensilien hatten sie auf einer Bank zusammengeschoben. Richard schickte Finley nach vorn auf den Beifahrersitz neben den Fotografen, der sich uns als Bob vorstellte. Er selbst rutschte, widerwillig den Rock um sich raffend, mit Derya auf die mittlere Bank. Ich setzte mich nach hinten zu Emma und versuchte irgendwie, das Schlauchkleid auf eine Länge zu ziehen, welche die Scham bedeckte.

»Let’s go!«, befahl Richard.

Bob startete. Und ehe sich der Ladeninhaber oder jemand anders im Ort etwas denken konnte, rollten wir durchs hügelige Grün über die Landstraße gen Craignure.

»Das war doch Ihr Wagen, der da explodiert ist«, stellte Emma mehr fest als sie fragte.

»Würde es was ändern, wenn wir es bestritten?«, fragte ich zurück.

Derya drehte sich um. »Es ist doch alles verkehrt, was Sie über uns geschrieben haben. Es ist von vorn bis hinten falsch.«

»Das habe ich nicht geschrieben. Wir sind nur die Zulieferer. Und jetzt haben Sie Gelegenheit, uns Ihre Variante der Geschichte zu erzählen.« Die Kleine lächelte für ihr Alter ziemlich abgebrüht. Sie hatte ihr blondes Haar zum Schwänzchen gebunden, trug einen rosafarbenen Kopfhörer um den Hals, einen kurzen Jeansrock mit Leggins und eine enge Weste.

»Da wäre erstens zu sagen«, antwortete Derya, »dass wir nicht tot sind. Ich bin Dr. Derya Barzani, und da vorn sitzt Professor Dr. Finley McPierson.«

»Indeed?«

»Wir können uns ausweisen!«

Richard bremste sie mit einer Berührung seiner Hand und sagte auf Deutsch: »Wir werden uns denen gegenüber nicht ausweisen.«

Emma schien es ebenfalls nicht zu wünschen. »Und darf ich fragen, wer Sie beide sind?« Ihre Augen fluppten zwischen Richard und mir hin und her.

Keine Namen!, dachte ich. Richard dachte dasselbe, wie ich seinem Blick ansah. Und Finley war zu sehr Clown und vielleicht auch Brite, um vorschnell zu plaudern.

»Sind Sie El Tio?«

»Nein«, sagte Richard. »Den gibt es nicht. Und das wissen Sie genau.«

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte die junge Frau routiniert darüber hinweg. »Sie wollen nach Edinburgh?«

»Ja«, mischte ich mich ein, »und zwar, um Ihre Redaktion kurz und klein zu schlagen und dann anzuzünden.«

»Das ist nicht meine Redaktion. Wie gesagt, wir sind nur Zulieferer von Infos und Bildmaterial. Und wir sind ein freies Land. Hier herrscht Pressefreiheit!«

»Lügenfreiheit wäre das passendere Wort!«, bellte Derya über die Sitzlehne nach hinten.

»Wenn Sie meinen, etwas sei falsch dargestellt worden, dann können Sie es jetzt richtigstellen. Ich höre Ihnen zu.«

Derya holte Luft.

»Woher wussten Sie, dass wir nach Iona fahren würden?«, fragte ich schnell.

Emmas blaue Augen blinkten Quellenschutz, Quellenschutz. »Sorry.«

»Sie haben das Büro von Professor McPierson abgehört. Gegenüber befindet sich ein Park. Hinterm Zaun ist ein guter Platz, um sich mit einem Richtmikrofon aufzustellen. Haben Sie auch die E-Mail im Namen von Héctor Quicio geschrieben?« Ein viel beunruhigenderer Gedanke kam mir nebenbei. »Ja, Sie haben sie geschrieben. Aber warum zum Teufel ausgerechnet Iona? Warum haben Sie uns dorthin geschickt?«

Emma warf mir einen prüfenden Blick zu. »Ich habe Sie nirgendwohin geschickt.«

»Aber Sie wussten, dass wir in Finleys Büro über Iona gesprochen haben.«

Sie blinzelte. Der beunruhigende Gedanke schwoll in meinem Hirn zu einem Ballon.

»Nicht zu fassen!«, rief Derya. »Sie hören die Leute ab, Sie spionieren sie aus. Sie orten unsere Handys. Das ist doch illegal!«

»Nein, wir tun nichts Illegales. Wir legen keine Wanzen, wir zapfen keine Telefone an. Wir machen nur das, was jeder machen könnte, wenn er ein bisschen neugierig ist. Und wenn ein WLAN-Netz nicht passwortgeschützt ist, kann sich beispielsweise jeder von der Straße aus einloggen.«

»Sie wussten also, dass wir nach Iona fahren würden. Richtig? Aber dann wussten Sie doch auch, dass Finley McPierson und Derya Barzani am Leben und nicht von einem ominösen El Tio in den Edinburgh Vaults ermordet worden sind.«

»Ja, sicher. Wie gesagt, ich habe den Artikel nicht geschrieben. Wir sind nicht verantwortlich für das, was die Medien mit unseren Informationen machen.«

Ich stutzte, kam aber wieder mal nicht zum Nachdenken. »Warum zum Teufel sind Sie uns gefolgt? Was ist an uns so interessant?« Wenn man den Saum eines Kurzkleids mit beiden Händen in Knienähe halten will, ist ein Hardcore-Verhör nicht wirklich einfach.

Emma lächelte verschlossen.

»Sie sind gar keine Journalisten«, bemerkte Richard. »Für wen arbeiten Sie?«

Er stellte die Frage, dich ich hätte stellen müssen, wenn ich richtig zugehört hätte, statt aus ihr die Antworten herauszustupfen, die ich hören wollte. »Sie sind nicht von den Edinburgh Evening News. Und Sie heißen gar nicht Emma Reid. Richtig?«

»Doch, ich bin Emma Reid.«

Im Rückspiegel begegnete ich gleichzeitig dem Blick von Bob. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen. Aber Finley rief es nach hinten. »Sie arbeiten für Security Consulting & Detectives.«

Ich sah Internetseiten scrollen: der Politiker mit seiner minderjährigen Geliebten und das Bielefelder Abendblatt, das sich für den Einblick in dessen E-Mail-Verkehr des Detektivbüros SC & D bedient hatte. Was aber nie bewiesen worden war, weil die Ermittlungen eingestellt wurden.

»Aber das ist doch eine Berliner Detektei«, bemerkte ich.

»Nein, sie hat ihren Sitz in Edinburgh und London«, widersprach sie.

»Das heißt«, unterbrach Richard uns in seiner bedächtigen Art, »Sie beschaffen den Edinburgh Evening News …«

»Und anderen Zeitungen.«

»… die Informationen, an die man legal nicht herankommt.«

»Soll das ein Verhör werden? Ich habe doch schon gesagt, dass wir nichts Illegales tun.«

Der beunruhigende Gedanke blähte sich auf und stieß an meine Schädelinnenwand. »Aber Sie haben …« Ich biss die Zähne zusammen.

Richard musterte mich fragend, kam aber nicht drauf. »Und die Zeitungen blasen das dann zu einer völlig an den Haaren herbeigezogenen Geschichte auf.«

»Noch mal: Dafür bin ich nicht verantwortlich. Wir liefern nur Fakten und Bilder. Und wenn Sie mir jetzt Ihre Geschichte erzählen …«

»Können Sie uns denn garantieren, dass die Zeitung das auch so druckt?«, fragte er.

Emma grinste abgebrüht. »Wenn ich es dem Konkurrenzblatt anbiete, dann könnte es klappen.«

Ich rekapitulierte die Fragen, die sie nicht beantwortet hatte – was hatte uns interessant gemacht, und warum hatte man uns nach Iona geschickt? –, und versuchte es mit einer dritten: »Dieses Zeichen am Sockel von St. Martin’s Cross, haben Sie das hineingeschlagen und auf alt gemacht, um unser Interesse wachzuhalten?«

Emma blinzelte. »Welches Zeichen?«

Ich malte es mit dem Finger auf die Lehne vor uns.

»Ach, das Zeichen der Kuldeer? Das meinen Sie. Ich wusste gar nicht, dass es auf dem St. Martin’s Cross ist.«

»Auf dem Sockel. Sie haben uns dort fotografiert.«

Emma lächelte abwartend.

»Kuldeer, sagen Sie?«, fragte Derya über die Rücklehne. »Woher wissen Sie überhaupt, dass dies das Zeichen der Kuldeer ist?«

»Es befindet sich in den South Bridge Vaults in einem Raum.« Emma schüttelte sich unwillkürlich. »Ich bin im Januar mit einer Gruppe der Céli Dé in die Gewölbe gestiegen. Und seitdem glaube ich, dass es Dinge gibt, die … na ja.« Sie lachte peinlich berührt. »Wissen Sie, ich war die ganze Zeit froh, dass ich nicht die Letzte der Gruppe war. Aber als wir dann rausgingen und der Führer hinter mir die Tür abschließen wollte, da … da habe ich ihm gesagt, es kommen noch welche, und er sagte: Nein. Sie sind die Letzte. Das … das war voll gruselig!«

Finley lachte.

»Und was bitte sind die Céli Dé?«, fragte ich.

»Das sind Amerikaner. Sie gehören einer keltischen christlich-orthodoxen Kirche an. Sie versuchen nach den alten Regeln des ersten Abts der Céli Dé zu leben, dem heiligen Maelrúain. Er hat 755 das erste Kloster in Tallaght gegründet.«

»Wo ist das?«

»Das ist heute ein Vorort von Dublin. In dem Kloster lebten Frauen und Männer gemeinsam, sie waren verheiratet. Sie haben sich um die Armen gekümmert, sie hatten besondere Gesänge, und sie haben viel gefastet und gebetet. Die Gruppe aus New York hat die alten heiligen Orte besucht. Und im Rahmen dessen wollten sie in den Gewölben den Raum sehen, wo sich das Zeichen der Kuldeer befindet.«

»Aber die Kuldeer gibt es doch seit dem zwölften Jahrhundert gar nicht mehr«, bemerkte Richard. »Sie wurden von der römisch katholischen Kirche assimiliert.«

»So heißt es offiziell. Aber es gibt auch Leute, die sagen, einige der ursprünglichen Céli Dé oder eben Kuldeer hätten überlebt, sie hätten sich fortgepflanzt und dabei ihren Glauben und ihre Riten erhalten, und es hätte immer ein geheimes Kloster gegeben, ein virtuelles Kloster gewissermaßen, denn eine Kirche oder ein Kloster gibt es nicht mehr. Es heißt, so haben mir die Amerikaner erklärt, sie hätten sich über die Jahrhunderte an wechselnden geheimen Orten getroffen, zeitweise auch in diesem Raum in den Edinburgh Vaults. Bis die ganze Gruppe überfallen und ermordet wurde, elf Menschen. Und als der Letzte sein Leben aushauchte, habe sich das Zeichen der Kuldeer in den Stein gebrannt.«

»Wieso gerade elf?«, fragte ich mich laut und dachte an die Hendeka, die Elfmänner der athenischen Gerichtsbarkeit.

»Es heißt, es hätten immer elf Priester sein müssen«, antwortete Emma, »um ein virtuelles Kloster zu bilden. Oder die Gemeinschaft wird von elf Männern geführt. So genau weiß ich das nicht.«

»Woher wissen Sie überhaupt etwas darüber?«

»Es gibt Internetseiten darüber. Ich habe mich damit beschäftigt, nachdem ich mit den Céli Dé aus Amerika da unten war. Sie nennen das Zeichen übrigens Gnomon. Das kommt wohl aus dem Griechischen.«

»Der Schattenzeiger bei einer Sonnenuhr«, murmelte Richard.

»Ja, richtig! Ich erinnere mich. Sie haben mir das erklärt. Früher waren das in die Erde gesteckte Pfähle mit einer Spitze, nicht wahr? Die Diagonale in dem Zeichen ist der Gnomon, er steht für Astronomie und Wissenschaft überhaupt. Die beiden Winkel stellen zweimal die Dreifaltigkeit dar, einmal nach oben in den Himmel weisend und zum andern gespiegelt in die Unterwelt, zum Zeichen, dass Gott alles umfasst, das Gute und das Böse. Es gibt einige, die vertreten die Ansicht, dass den Kuldeern heute Männer und Frauen aus den allerhöchsten Kreisen angehören, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer. Beispielsweise soll Michael Faraday einer gewesen sein.«

Richards und mein Blick trafen sich. Ich wusste, dass er wie ich an die Anstecknadel aus Rosenfelds Schreibtisch dachte. War Rosenfeld also Kuldeer gewesen? Gab es sie noch? Irgendwo?

»Es ist eine Geheimgesellschaft, die im Hintergrund die Welt regiert«, erklärte Emma mit dem Glitzern derjenigen in den Augen, die hinter dem großen Geheimnis des Weltkreisels einen Anstoßer vermuten. Das vermutet meine Mutter auch, aber sie glaubt, es sei Gott, der mit Gebeten zu erweichen sei.

»Und … äh …«, fragte ich, »woran spürt man das?«

»Was?«

»Dass die Kuldeer im Hintergrund die Welt regieren. Woran merkt man das? Es gibt ja auch andere, die das tun: die Banken, die Rüstungsindustrie, die Drogenbosse, die russische Mafia, die italienische, die chinesische und so weiter. Das spürt man. Was zeichnet jetzt aber die Kuldeer aus? Was ist ihr Ziel?«

»Ach so. Das weiß man nicht. Ich habe jedenfalls nichts darüber gefunden. Vielleicht wollen sie die Welt gerechter machen, die Armut beseitigen.«

»Dann gibt es sie nicht«, sagte ich. »Denn davon merkt man nun wirklich gar nichts.«

Derya lachte. »Das ist wahr.« Es war das erste Mal, dass sie eine Bemerkung von mir nicht bescheuert fand.

Wir passierten den Abzweig zum Torosay Castle, gleich darauf tauchten die ersten Häuser am Rand der schmalen Straße mit den Ausweichbuchten auf. Wir hatten Craignure erreicht. Der Ort bestand aus nicht viel mehr als ein paar weißen Häusern an der Wasserkante, einer Tankstelle, einer Kirche und dem Fähranleger.

»Okay«, sagte Richard. »Wir werden Ihnen erzählen, wer wir sind und was wir hier wollten. Wir sind nämlich tatsächlich auf der Suche nach … einem Psi-Agenten.«

»Indeed?«