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Und wenn wir abstürzen? Die Wahrheit ist: Ich war noch nie geflogen. Also im Flugzeug. Und wohin mit Cipión? Er war gechipt und gegen Tollwut geimpft. Aber für eine Reise auf die Britischen Inseln reichte das womöglich nicht, hatte mich Richard gewarnt. Ein Blick in Cipións Papiere, die ich seltsamerweise gleich fand, belehrte mich, dass mein Tierarzt tatsächlich vor zwei Jahren den erforderlichen Bluttest gemacht und alle Impfungen fristgerecht vorgenommen hatte. Damit war der Dackel inseltauglich, wie mir das Internet verriet.
Aber wenn sie ihn mir dann doch wegnahmen? Leider befand sich Sally in Urlaub auf Mallorca und hatte zur Pflege ihres Getiers eine Freundin bei sich einquartiert, die sich gerade von ihrem Freund getrennt und damit Arbeit und Wohnung verloren hatte. Die wiederum nahm nicht ab, als ich dort anrief. Also tappte ich hinunter und klingelte bei Oma Scheible. Sie und Cipión kannten sich gut. Sie hielten zuweilen ihr Schwätzchen oben bei mir, wenn ich aushäusig war und Oma Scheible unter dem Vorwand, es habe brenzlig gerochen, bei mir eindrang, meine Wäsche zusammenlegte, die schimmligen Käsestücke aus meinem Kühlschrank in den Müll räumte und mir was zu essen hinstellte. Aber sie öffnete nicht. Nun ja, es war halb zwölf durch, und sie schlief ohne Hörgerät. Außerdem erinnerte ich mich dunkel, dass sie mir vor ein paar Tagen erzählt hatte, sie führe für ein paar Tage zu ihrer Tochter, die gerade operiert worden sei, um ihr mit den Kindern zu helfen.
Dann sollte es wohl so sein. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass ich ihn in einer Tasche mit in die Kabine nehmen durfte, wenn er nicht schwerer war als acht Kilo, stellte ich mich mit und ohne Hund auf die Waage. Cipión wog 6,9 Kilo. Ich fand einen alten Wanderrucksack aus Jugendtagen. Dackel waren dafür gemacht, vom Jäger zum Dachsbau getragen zu werden.
Für mich stopfte ich ein paar Sachen in meine Sporttasche, dazu meinen Laptop und die Spionageausrüstung zum Filmen und Abhören. Das Tütchen mit dem Stahlstift von Kaltenecks Dachboden tat ich mit einer kurzen Erklärung in einen Umschlag, adressierte ihn an Staatsanwältin Meisner und steckte ihn noch schnell auf der andern Straßenseite in den Postkasten der Staatsanwaltschaft.
Morgens um vier störte mich das Handy. Wenn ich vor dem Morgengrauen aufstehen muss, ist mir kalt, ich zittere und in meinen Adern brennt Adrenalin, als sei ich auf der Flucht und müsse meine Wohnung für immer verlassen. Wenigstens dachte ich geistesblitzhaft daran, das Schweizer Messer aus der Tasche meiner Bikerjacke zu nehmen und auf den Tisch zu legen.
Ich muss Ihnen nicht beschreiben, wie das Fliegen geht; das Ganze mit dem Einchecken, der Schleuse, wo man abgetastet und der Rucksack durchleuchtet wird. Ich verlor dabei mein Pickset. Dass es sich bei den spitzen Dingern im Mäppchen um harmlose Dietriche handelte, wollte der Sicherheitsmann nicht gehört haben. Auch mein Argument, dass der Besitz von Schlossöffnern nicht illegal sei, sondern nur das Öffnen von Türen, ließ er nicht gelten. Darum gehe es nicht. Sie seien zu spitz. Derya und Richard warteten solange mit Die-gehört-nicht-zu-uns-Mienen an den Schaufenstern mit Mode und Handtaschen. Flotten von Rollkoffern schwärmten zu den Gates.
Wir starteten planmäßig. Richard winkte mich ans Fenster durch und setzte sich in die Mitte zwischen uns. Beim Ausstellen meines Handys sah ich, dass acht Mails angekommen waren. Egal jetzt. Wir starteten gleich. Tja, ich war halt etwas uncool. Man muss 67 Jahre ununterbrochen fliegen, um einen Absturz zu erleben, schärfte ich mir ein, als der Schub mich in den Sessel drückte und der Boden unter dem Fenster wegkippte. Schön, dass unser Gehirn unfähig ist, Wahrscheinlichkeit zu begreifen. Es geschah nichts. Nach anderthalb Stunden landeten wir auf dem Flughafen Amsterdam-Schiphol. Da konnte ich mich schon althasig geben. Auch hier gab es Tabak, Spirituosen, Uhren und Handtaschen, polierte Böden, silbrige Deckenverblendungen und Rollkoffer. Dazu noch ein bisschen mehr weite Welt und Hautfarben. Und ich war endlich wach.
Wir tranken Kaffee, Derya unterhielt sich von Frau zu Mann mit Richard. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Für meine Existenz hatte sie keine Kommunikationsmuster parat. Über Handtaschen im Schaufenster klappte es nicht. Auch verstand ich nichts zu den zierlichen italienischen Pumps zu sagen, die sie in einem der teppichleisen Läden an den Fuß zog. Richard konnte das. Er schlug ihr vor, sie solle doch mal den dort anprobieren, der zwar teurer, aber glücklicherweise in ihrer Größe auch gar nicht mehr vorhanden war. Und so war der Moment weiblicher Instabilität angesichts von Schuhen nach kurzer Krise gemeistert.
Siehst du mal! So spricht man mit einer Dame von ausgefeiltem und mit Geld unterfüttertem Stil. Sex ist nicht alles! Hätte mir aber an diesem Morgen durchaus gereicht. Nur merkte sie es nicht. Dabei heißt es doch immer, Frauen merken so was. Vermutlich aber war Derya viel zu sehr damit beschäftigt, Richard mit lächelnden Lippen, Händen im Haar und schimmerndem Blick ihr Interesse zu signalisieren und herauszufinden, ob er es merkte, und wenn ja, ob er bereit war einzusehen, dass ich unter seinem Niveau war.
Okay: Die Passage streichen wir später. Sonst heißt es nur wieder, ich sei frauenfeindlich. Oder kurdinnenfeindlich. Das hat sich schnell im weiblichen Konkurrenzgerangel. Aber pass auf, Derya, ich hab es nicht nötig, um Richard zu feilschen. Versuch dein Glück. Ich lehne mich da ganz entspannt zurück.
Sein Blick suchte ohnehin nur nach einer Raucherkammer.
»Island will jetzt«, schwärmte Derya, »Zigaretten nur noch auf Rezept in Apotheken verkaufen. Das Rezept bekommt der Raucher nur, wenn er ernsthaft aufhören will, es aber nicht schafft. Und Zigaretten einschmuggeln wird verdammt schwer auf der Insel.« Sie lachte, wie Menschen lachen, wenn andere nicht dürfen, was sie selbst nicht wollen.
»Wer will denn in so einer Gesellschaft leben?«, bemerkte Richard düster. »Sie?«
»Aber Rauchen ist ungesund!«
»Apropos ungesund«, sagte ich. »Was ich Sie schon immer fragen wollte, Frau Doktor Barzani, wo waren Sie eigentlich an dem Freitag, an dem Rosenfeld starb?«
Sie schaute sich nach Richard um, aber der musterte die Auslage des Tabakladens. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
»Wir sind zusammen unterwegs. Da sollte ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann.«
Sie zog spöttisch die Brauen hoch. »Kann ich Ihnen denn vertrauen?«
Ich trat an sie heran und fasste sie unterm Kinn. »Liebste Derya, das kannst du halten wie der auf dem Dach. Aber wenn jemand auf dich schießt, werde ich mich vor dich stellen.«
Sie schüttelte den Kopf aus meiner Hand. »Wer soll denn auf mich schießen? Das ist doch lächerlich!«
Ich grinste. »Hattest du ein Verhältnis mit Rosenfeld?«
»Hören Sie … Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen das Du angeboten hätte.«
»Wenn ich auf Angebote warten würde, käme ich nie zu was. Also: Was ist? Oder hat die kleine Desirée den Stich gemacht?«
»Das geht mir jetzt zu weit. Und im Übrigen war ich in Berlin an dem Freitag. Bei meinem Freund.«
»Oh!«
In diesem Moment wurde unser Flug aufgerufen. Unnötige Hektik brach aus.