1 Türkei: Das goldene Dreieck

Ich sehe noch einmal nach, ob ich meinen Pass, mein Flugticket und mein Visum für die Türkei habe. Es ist das zweite Mal, dass ich nach Zentralasien reise, und beim Blick auf die Landkarte kommen Erinnerungen an meine erste Reise hoch.

Vor einigen Jahren war ich zunächst nach Finnland und von dort aus weiter nach St. Petersburg, Moskau und Kiew geflogen. Meine nächste Station war die georgische Hauptstadt Tiflis, wo ich die Journalistin Anna Politkowskaja kennengelernt hatte und mich von ihr in die Komplexitäten der Region hatte einführen lassen. Ich war durch Aserbaidschan, Armenien und Usbekistan gereist und hatte Taschkent und Samarkant besucht, eine der prachtvollsten Städte des alten persischen Reiches. Das Ende meiner Reise war Aschabad in Turkmenistan gewesen. Es war inzwischen Oktober geworden, und ich hatte unter dem Winter gelitten, wie man eben unter dem Winter leidet, wenn man aus einem tropischen Land stammt und nicht daran gewöhnt ist, Minustemperaturen stoisch zu ertragen.

Diesmal reise ich im Februar los, und die Kälte ist nicht ganz so grausam. Ich blicke wieder auf die Karte und sehe mir meine Reiseroute an, die den Routen der Sklavenhändler folgt. Von London aus will ich in die Türkei fliegen und dort die beiden größten Städte Istanbul und Ankara besuchen.

Ich habe gemischte Gefühle. Als Kind hatte ich oft davon geträumt, die Welt zu bereisen und fremde Kulturen und Zivilisationen kennenzulernen. Ich hatte mir vorgestellt, durch die unterirdischen Städte von Kappadokien zu gehen, deren Steine ihren Besuchern geheime Geschichten zuraunten, wie ich meinte. Meine Mutter hatte mir davon erzählt, wie überwältigt sie gewesen war, als sie die Hagia Sofia in Istanbul besucht hatte.

Die Türkei ist eine Brücke zwischen zwei Welten; diese laizistische Republik spielt eine wichtige Rolle als Verbindung zwischen Asien und Europa. Die Grenzen sind durchlässig, und ich kann mir kaum vorstellen, welche Herausforderung es für die Behörden darstellen muss, sie zu kontrollieren. Die Türkei grenzt im Nordosten an Georgien, im Osten an Armenien und Aserbaidschan, im Südosten an den Iran, im Norden ans Schwarze Meer, im Osten an Griechenland, an die Ägäis und Bulgarien. Im Süden liegen der Irak und Syrien und natürlich das Mittelmeer. Die Handelsrouten haben sich seit dem Altertum kaum geändert, und ich will herausfinden, wie sich die Dynamik der Schmugglerbanden seit der Globalisierung des organisierten Verbrechens verändert hat.

Die Türkei, ein Land mit fast 75 Millionen Einwohnern, schloss 1996 ein Freihandelsabkommen mit seinen europäischen Nachbarn und ist mit einem ähnlichen Widerspruch konfrontiert wie die meisten Länder, die ihre Grenzen geöffnet haben: Seither floriert nicht nur der legale, sondern auch der illegale Handel. Obwohl die Türkei mit der Europäischen Union assoziiert ist, wurde ihr die Vollmitgliedschaft bislang vorenthalten, weil sie die Bedingungen dafür nicht erfüllt.

Als ich in Istanbul ankomme, ist es bereits Nacht. Beim Anblick der Sterne und der violetten Streifen am Himmel stockt mir der Atem. Im Taxi auf dem Weg ins Hotel kurble ich die Scheibe herunter und atme den Duft der Stadt ein: den Diesel, die Gewürze und den Salzgeruch des Meeres. Jede Stadt hat ihr ganz eigenes Aroma.

Der Taxifahrer ist stolz auf seine Stadt und unternimmt eine kleine Rundfahrt mit mir. Er erklärt mir, dass wir uns an der Grenze zwischen Anatolien und Trakien befinden, die durch das Marmarameer, den Bosporus und die Dardanellen markiert wird. Die Meerenge ist die Grenze zwischen Asien und Europa. »Wir werden bald in die Europäische Union aufgenommen«, verkündet er in seinem sympathischen Touristenenglisch, in dem sich die unterschiedlichsten Akzente mischen. »Hier ist alles gut«, versichert er mir. »Hier leben Muslime, Juden, Christen, Ungläubige und Protestanten friedlich zusammen. Alle werden respektiert, und alle sind willkommen.« Es klingt, als würde er ein Glaubensbekenntnis herunterbeten. Ich lächle und denke an die Mitteilungen der Internationalen Schriftstellerorganisation PEN, die für den Schutz der freien Meinungsäußerung eintritt und regelmäßig die Verfolgung und Inhaftierung türkischer Journalisten und Schriftsteller anprangert. Aber ich schweige, denn ich weiß, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und dass die Länder genauso vielfältig, komplex und wunderbar sind wie ihre Einwohner.

Die Freundlichkeit der Menschen, ihr Lächeln, die schönen Augen des jungen Kofferträgers, der mich im Hotel empfängt, und die freundliche Stimme der Rezeptionistin, die mich in perfektem Englisch begrüßt, sorgen dafür, dass ich mich willkommen fühle. Ich muss daran denken, dass man das Dunkel nicht sieht, wenn man das Licht nicht kennt, und dass es überall Gutes gibt. Ich hoffe, dass einige der rund 200 000 Frauen und Mädchen, die in den letzten fünf Jahren als Sklavinnen in die Türkei eingeschleust wurden, dieselbe Güte von jemandem erfahren haben, der sie als Menschen gesehen, sie angelächelt und ihnen das Gefühl gegeben hat, in dieser fremden Welt nicht ganz allein zu sein.

Ich rufe Eugene Schoulgin an, einen außergewöhnlichen Schriftsteller und Journalisten, der 1941 als Sohn einer Russin und eines Norwegers geboren wurde. Eugene hat in Afghanistan und dem Irak gelebt und wohnt heute in Istanbul, wo er Sekretär des Internationalen PEN-Clubs ist. In der Vorbereitung meiner Reise hat Eugene den Kontakt zu einigen kritischen Journalisten und Informanten hergestellt. Dieser Freund kümmert sich mit rührender Herzlichkeit um mich, und ich halte ihn darüber auf dem Laufenden, wen ich wo treffe, damit er weiß, wo und wie er mich zu suchen hat, für den Fall, dass mir etwas zustößt. Ohne seine Sicherheitshinweise wäre meine Recherche vermutlich deutlich weniger erfolgreich verlaufen.