Alte Gewalt in neuen Kleidern

Während meiner Recherchen habe ich mich wieder und wieder gefragt, wie es kommen kann, dass die Zahl der jungen Frauen und Mädchen in der Prostitution weltweit immer weiter zunimmt. Ein Teil der Antwort findet sich in Kapitel 7 über die Klienten der Prostitution. In den Stimmen der Kunden, die Victor Malarek in The Johns zu Wort kommen lässt, und der Zuhälter, denen wir in der Untersuchung von Óscar Montiel Torres begegnen, kommt immer wieder ein Phänomen zum Ausdruck, das wir nicht vernachlässigen dürfen: der konservative Backlash gegen den Feminismus. Offenbar verspüren Millionen von Männern mit traditionellen und nie hinterfragten Vorstellungen von Männlichkeit einen gewaltigen Zorn. In fast allen Kulturen existieren nach wie vor frauenfeindliche Werte und patriarchale Beziehungsformen, die Frauen Gehorsam abverlangen und sie über Gewalt kontrollieren.

Montiel Torres hilft uns zu verstehen, wie sich die Gepflogenheiten im Handel mit Frauen und Kindern zum Zweck der Prostitution geändert haben. Seine Untersuchung in Mexiko bietet auch eine Erklärung dafür, wie und warum in Kambodscha junge Männer in ihren Tuk-Tuks die Freier zu ihren eigenen minderjährigen Cousinen und Schwestern bringen oder wie vor der versteckten Kamera von ABC, NBC oder BBC kaum zwölfjährige Jungen den als Kunden getarnten Journalisten vier- und fünfjährige Mädchen zum Kauf anbieten (einige der Videos sind im Internet auf Youtube zu sehen).

In ländlichen und indigenen Gemeinschaften herrschen die Männer traditionell einzeln und im Kollektiv über die Frauen. In diesem Zusammenhang entwickelten sich kulturelle Praktiken zur Ausübung dieser Herrschaft, beispielsweise Brautraub, Brautkauf oder Polygynie. Der Fortbestand und die Zunahme der Zuhälterei in diesen Gemeinschaften lässt sich unter anderem damit erklären, dass die Zuhälter sich die traditionellen kulturellen Praktiken der Machtausübung über den weiblichen Körper für die Prostitution zu eigen machen, die als Gewerbe und Lebensform dargestellt wird.

Die Zuhälterei ist eine Form der Lehre und Herausbildung einer besonderen Ausprägung von Männlichkeit und lässt sich als eine Art Privileg verstehen, das die patriarchale Gesellschaft vergibt. Die Herrschaft des Mannes über den weiblichen Körper lässt den Schluss zu, dass das Verhältnis zwischen Zuhältern und Prostituierten auf einem Machtungleichgewicht beruht, das wiederum in der Ungleichheit der Geschlechter begründet ist.

Zum Abschluss seiner Untersuchung von Hunderten von Klienten und Menschenhändlern schreibt Victor Malarek:

Wenn uns wirklich daran gelegen ist, etwas gegen die Prostitution zu unternehmen, müssen wir die Schlüsselrolle der Klienten erkennen, und diese müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Wenn die Prostitution tatsächlich eine Angelegenheit von Möglichkeiten und Entscheidungen ist, dann liegen die Möglichkeiten immer auf Seiten der Kunden, die sich entscheiden, einer Frau für Sex Geld zu geben. Die Kunden treffen die Entscheidung, eine Prostituierte aufzusuchen, statt in eine zwischenmenschliche Beziehung zu investieren. Sie treffen die Entscheidung, in Entwicklungsländern Sexhotels zu besuchen, weil sie sich von westlichen Frauen enttäuscht oder eingeschüchtert fühlen. Sie treffen die Entscheidung, die Augen vor der leidvollen Wirklichkeit der Frauen und Mädchen zu verschließen, die ihre Körper vermieten, und sie treffen die Entscheidung, extrem verwundbaren Menschen ihren Willen aufzuzwingen.

Die Klienten sind diejenigen, die wirklich eine Entscheidungsfreiheit haben, und sie sind diejenigen, die von der Legalisierung der Prostitution profitieren. Die Gesellschaft muss sich dem Verfall der Männlichkeit und dem destruktiven Charakter männlichen Verhaltens stellen. Die Prostitution ist ein ernsthaftes Hindernis auf dem Weg zu Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die auf Gleichberechtigung, Respekt und Ehrlichkeit in allen Lebensbereichen beruhen. Sie vermittelt Männern und Jungen die Überzeugung, dass Frauen und Mädchen nicht etwa gleichberechtigte Menschen sind, sondern Lustobjekte, die sie nach Belieben benutzen können.

Natürlich entscheidet sich ein kleiner Teil der Frauen freiwillig für die Prostitution. Das ändert jedoch nichts an einer Beobachtung, die Aktivisten der Coalition Against Trafficking in Women Latinamerica and the Caribbean (CATWLAC) über die Macht und Gewalt der Zuhälter und Freier gemacht haben:

Die Prostitution institutionalisiert die Grundannahmen der männlichen Herrschaft. Die Sozialisierung des Mannes basiert auf der Vorstellung, dass der Mann allein aufgrund seines Geschlechts das Recht hat, über sein Umfeld sowie den Raum und die Zeit von anderen, vor allem von Frauen zu verfügen. Dieses Recht schließt den Körper und die Sexualität von Frauen ein. Und da es sich hierbei um ein Recht handelt, ist es legitim, dieses einzufordern und zu verteidigen, zur Not auch mit Gewalt.

Die Prostitution institutionalisiert genau diese Vorstellung, denn der Freier erhält von der Prostituierten etwas, das er andernfalls nur unter Gewaltanwendung bekommen könnte. Der Freier (und mit ihm die gesamte Gesellschaft) verbirgt die Gewalt vor sich selbst mittels einer (von Zuhältern geschaffenen) Infrastruktur und einer Zahlung.

Die Vereinnahmung und Kontrolle des Alltags der Frauen in der Zwangsprostitution hat große Ähnlichkeit mit den Mechanismen der häuslichen Gewalt. Nach Auskunft des Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen (Unifem)[18] sind weltweit sechs von zehn Frauen von häuslicher – körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher – Gewalt betroffen, die von Ehemännern, Freunden oder Lebenspartnern ausgeübt wird. Die Frauen, die über intime oder familiäre Beziehungen für das Sexgewerbe angeworben werden, leugnen die Existenz der Gewalt, unter der sie leiden, genauso häufig wie misshandelte Ehefrauen, die nicht in der Prostitution tätig sind, und gestehen sie erst ein, wenn sie eine wirkliche Alternative erhalten.

Die Erfahrung der Ausbeutung und Diskriminierung durch Freier, Menschenhändler, Polizei und Gesellschaft haben einige Frauen derart gezeichnet, dass sie nach ihrer Flucht aus der Zwangsprostitution zu mutigen und erfolgreichen Kämpferinnen gegen die Sklaverei wurden. Eine dieser Frauen war Norma Hotaling, Gründerin von Standing Against Global Exploitation (SAGE) in San Francisco, die ich einige Jahre vor ihrem Tod kennenlernen durfte. Der Arbeit von Norma ist es zu verdanken, dass Zuhälter von Minderjährigen als Sexualstraftäter verurteilt wurden. Außerdem richtete sie das erste Aufklärungsprogramm für inhaftierte Klienten der Prostitution ein. Andererseits beklagen sich Prostituierte oft zu Recht, dass diese Organisationen zur Abschaffung der Sklaverei ihnen das Leben schwerer machen, als es ohnehin schon ist, indem sie dafür sorgen, dass sie in Razzien verhaftet und von der Polizei misshandelt, kriminalisiert, ausgewiesen und nicht selten vergewaltigt und inhaftiert werden.

In den Fällen der häuslichen Gewalt verhaftet die Polizei den Aggressor und nicht die misshandelte Frau (vorausgesetzt natürlich, ein Land hat entsprechende Gesetze). Warum werden also Prostituierte verhaftet, und warum bleiben die Zuhälter und Klienten in 90 Prozent der Fälle unbehelligt? Der Grund ist, dass die Diskriminierung der Frauen in weiten Teilen der Welt unverändert fortbesteht, ebenso wie die Vorstellung, dass Männer sich alle sexuellen Freiheiten nehmen dürfen. Beides schlägt sich in den Gesetzen gegen den Menschenhandel und die Zwangsprostitution genauso nieder wie in der Doppelmoral des politischen Diskurses.