4 Kambodscha: Das europäische Versteck

Über Phnom Penh geht die Sonne auf. Vom Fenster meines Hotelzimmers aus blicke ich auf eine idyllische Landschaft. Auf einem Holzsteg stehen runde Tische mit weißen Tischdecken und Metallstühlen. Einige Touristen frühstücken unter dem durchsichtig blauen Himmel, die Sonnenstrahlen umhüllen ihre blasse, schwitzende Haut. Mit ihren Kameras um den Hals und ihren Strohhüten auf dem Kopf nehmen die meisten an einer Bootstour teil, die sie den Fluss Mekong hinauf bis an die Grenze von Vietnam bringt. Der Ausflug wird sie an all die Bilder und Filme erinnern, die sie nach Südostasien gelockt haben. Sie suchen nach Abenteuern und dem Glanz einer unbekannten Kultur. Ich dagegen bin gekommen, um das Dunkel der Sklaverei zu erforschen.

Vom Ufer des Tonlé Sap, eines Nebenarms des Mekong, der vom Grün der tropischen Pflanzen eingerahmt ist, fotografiere ich eine kleine Pagode mit goldenen, roten und gelben Balken. Dann gehe ich hinaus auf die Straße mit dem Namen Preah Sisovath und besteige ein Tuk-Tuk, das dort auf mich wartet. Der junge Fahrer, der mir empfohlen wurde, stellt sich mit dem amerikanisierten Namen Jaz vor. Ich nenne ihm das Ziel. Unser erster Halt ist eine Filiale von Western Union, in der ich das Geld abhole, das ich mir aus Mexiko habe schicken lassen. Ich will den Weg des Geldes verfolgen, dessen Spuren sich an den imaginären Grenzen zwischen Banken und Ländern verwischen, um nachzuvollziehen, wie kleine Summen von Schwarzgeld gewaschen werden.

Die Fahrt in einem Tuk-Tuk ist ein besonderes Erlebnis. Die Autos sind Ausländern, Reichen und Mafiosi vorbehalten. Der Rest der Bevölkerung und die Touristen bewegen sich in diesen folkloristischen und buntbemalten Blechkisten, die von einem Motorrad gezogen werden. »Three dollars!«, rufen die Fahrer, »Hello, Madam, three dollars!«. Es ist egal, ob man drei Straßenzüge weit fährt oder zwanzig, der Preis ist immer derselbe. Wie in so vielen Touristenstädten der unterentwickelten Welt mögen die Fahrer die Landeswährung (den Riel) nicht sonderlich und bevorzugen harte Dollars. In meinem Rucksack habe ich ein Diktiergerät, Notizbücher, eine Kamera und eine kleine digitale Videokamera dabei.

Der strahlend blaue Himmel, die Temperatur von 34 Grad, die feuchte Luft, die Palmen, die sich in der leichten Brise wiegen, die mystischen buddhistischen Klöster und der beeindruckende Königspalast lassen den Touristenbezirk von Phnom Penh wie ein Paradies auf Erden erscheinen. Je weiter wir uns von den Hotels am Fluss entfernen, desto bunter und lebendiger wird die Stadt. In den Wellen von Tausenden Motorrollern, die mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen düsen, muss ich einige Male aus Angst vor einem Zusammenstoß die Augen schließen. Die Motorräder brummen durch die Straßen wie ein Hummelschwarm. Auf einem ist eine ganze Familie mit Vater, Mutter und zwei Töchtern unterwegs; die Kleinste, die vielleicht zwei oder drei Jahre alt ist, sitzt vorn auf der Lenkstange und hält das Gleichgewicht wie eine professionelle Seiltänzerin. Die einzige Verkehrsregel lautet, dass es keine Regeln gibt, sondern nur Massenbewegungen. Horden von Motorrädern und Tuk-Tuks bewegen sich im Gleichklang mit einem Geknatter, an das ich mich auch nach einer Woche nicht gewöhnt habe. Alle machen den Autos Platz, die Motorroller den Tuk-Tuks, und die Fußgänger den Motorrollern: Die mobile Hackordnung ist eindeutig. Auch die Fußgänger marschieren in großen Blöcken. Die buddhistischen Mönche und die Novizen, die mit ihren Holzschalen um Essen und Medikamente betteln, stechen als orangefarbene und goldene Farbtupfer aus der Menge hervor. Sie sind die einzigen Fußgänger, für die sogar die Autofahrer anhalten.

Die neuen Autos der Reichen und Politiker bahnen sich leicht ihren Weg durch das Chaos. In den offenen Tuk-Tuks sind die Touristen gut erkennbar. Die Einheimischen werfen verstohlene Blicke auf die Motorradtaxis, in denen ältere Männer im Alter von 50 oder 60 Jahren neben 12- oder 14-jährigen Mädchen sitzen: Es sind die Dadas oder Papis, ausländische Klienten der Prostitution, die als reiche Weiße eine Sonderbehandlung genießen, Dollars und Euros in der Tasche haben und jeden Luxus bezahlen, den sie haben wollen. Kambodscha ist Ursprungs-, Durchgangs- und Zielland des Sextourismus, das heißt, hier werden Frauen und Kinder gekauft, verkauft und ausgebeutet.

Schon auf den ersten Blick wird deutlich, wie wenig die Wirklichkeit mit den Broschüren zu tun hat, die die Einwanderungsbehörde den Touristen bei ihrer Ankunft am Flughafen in die Hand drückt. Sie verteilen Heftchen mit einem Stadtplan und verschiedenen Verhaltensregeln. Die Gesetze des Königreichs Kambodscha sehen Gefängnisstrafen für alle vor, die mit minderjährigen Prostituierten angetroffen werden. Menschenrechtsorganisationen aus verschiedenen Ländern (zum Beispiel die berühmte AFESIP[5] von Somaly Mam, einer kambodschanischen Überlebenden des Menschenhandels, und ECPAT, eine Organisation zum Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern) konnten dagegen nicht nur die Existenz, sondern auch den Umfang der Prostitution Minderjähriger nachweisen. Dank der Arbeit dieser Organisationen wissen wir, dass in Kambodscha jedes Jahr rund zweitausend Kinder Opfer der Zwangsprostitution werden, und mehrere Tausend zur Bettelei und Haussklaverei gezwungen werden. Wie in Thailand sind 70 Prozent der Freier der minderjährigen Zwangsprostituierten Einheimische, und die Zuhälterringe unterstehen Mafiabossen mit internationalen Verbindungen.

Nach einem kurzen Stopp in der Filiale von Western Union und einer Tasse Kaffee in einem kleinen Lokal, das während meines Aufenthalts mein Hauptquartier ist, besuche ich ein Restaurant von Hagar, einer christlichen Organisation, die seit 15 Jahren in der Region aktiv ist und sich auf die Befreiung und Umsiedlung von Opfern des Menschenhandels und der häuslichen Gewalt spezialisiert hat. Hagar wurde 1994 von dem Schweizer Christen Pierre Tami gegründet, um Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten für ein Leben ohne Gewalt zu eröffnen.

Sue Hanna, eine Vertreterin der Organisation, kommt aus Australien. Sie hat kurzes Haar, ein rundes Gesicht mit rosigen Bäckchen und spricht mit rhythmischer und freundlicher Stimme. Mit halb verletztem, halb zärtlichem Blick erklärt sie mir, wie Hagar Mädchen befreit und ihnen hilft. In ihrer Arbeit wird die Organisation meist von der örtlichen Polizei unterstützt. Nachdem wir uns ein wenig unterhalten und einen Salat gegessen haben, fahren wir mit einem rostigen weißen Jeep zu einer Unterkunft für Mädchen. Ich habe Jaz gebeten, mich später an einer anderen Kreuzung abzuholen.

Die Einrichtung der Betreuungsstätte steht in krassem Gegensatz zur Armut des Stadtteils, in dem sie sich befindet. Das westlich anmutende Gebäude mit seiner hohen Mauer wurde ganz offensichtlich mit ausländischen Mitteln gebaut. Am Tor werden wir von einem Wachmann begrüßt, und ich muss einen Ausweis abgeben, um eintreten zu dürfen. Wir stellen die Sandalen am Eingang ab und machen einen kurzen Rundgang. Sue zeigt mir die einfachen, aber sauberen Räume mit den bunten Gegenständen, die die Mädchen unter Anleitung herstellen. In jedem Zimmer schlafen drei Mädchen und eine Betreuerin, die sie psychologisch begleitet und ihnen hilft, ein neues Leben mit neuen Verhaltens- und Anstandsregeln anzufangen.

Die Menschenhändler verwenden die für alle Entführer typischen Methoden: Sie provozieren Streit und Rivalität unter den Opfern, die an einem Ort zusammenleben, damit wollen sie verhindern, dass sie sich verbünden und gemeinsam aufbegehren. Sie arbeiten mit Belohnungen und Strafen und machen die Mädchen zu ihren Lieblingen, wenn sie sich in die Ausbeutung fügen und hypersexuell, verführerisch und anpassungsfähig werden. Wenn die Mädchen noch sehr jung sind, verinnerlichen sie die emotionale Konditionierung und machen sie zu einem Teil ihrer Persönlichkeit. Sie sind nicht in der Lage, ihre Erfahrungen moralisch zu beurteilen. Sie waren ein Leben lang Sklavinnen, und in der Betreuungsstätte erhalten sie die Chance, ein völlig anderes Leben anzufangen und sich neu zu erfinden.

Im Garten sitzen vier junge Frauen in einem Baumhaus und unterhalten sich mit leiser Stimme. Einige leben schon seit mehr als zwei Jahren hier; sie können nicht zu ihren Familien zurückkehren, da diese sie wieder an die Menschenhändler ausliefern würden. Rund 43 Prozent aller befreiten Mädchen geben an, sie seien von ihrer Mutter verkauft worden. Einige stammen aus Vietnam und den Dörfern im Süden von Kambodscha, andere aus den Philippinen, wieder andere wurden aus thailändischen Bordellen befreit.

Die jungen Frauen beobachten uns einige Minuten lang. Ich gebe ihnen die Hand, sie lächeln wohlerzogen und wenden sich dann wieder ihren Beschäftigungen zu. Gegenüber befindet sich ein kleines Schwimmbecken. Sechs Mädchen zwischen fünf und zehn Jahren planschen kreischend, spritzen mit Wasser und spielen Delphin. Einige tragen Badeanzüge, andere leichte Bekleidung, mit der sie schwimmen können. Sue erzählt mir ihre Geschichten. Ein Mädchen wurde an einen Menschenhändler aus ihrem Dorf verkauft, der für die Mafia in Phnom Penh arbeitete, und wurde später von ausländischen Touristen sexuell missbraucht. Sue stellt mir die Mädchen vor, und sie schenken mir das Lächeln von freien Kindern. Ich bin bewegt.

Es ist nicht der Moment, ihnen Fragen zu stellen; sie haben ihre Geschichten der systematischen Vergewaltigung hinter sich gelassen. Ich sehe ihnen beim Spielen zu. Es sind kleine Mädchen mit langen, schwarzen Haaren; schlank, aber gut genährt; einige mit kupfer-, andere mit alabasterfarbener Haut; die einen mit großen, mandelförmigen, die anderen mit schmalen, feinen Augen. Die neunjährige May bewegt sich mit einer Sinnlichkeit, mit der sich nur Kinder bewegen, die sexuell missbraucht wurden. Im Becken steht sie immer wieder auf und wirft die Haare zurück wie die Models im Fernsehen. Sie weiß, dass wir sie beobachten, und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, so wie sie es gelernt hat.

Die Kleinen wissen, dass es besser ist, die Verführungskünste zu lernen, erklärt mir die Psychologin: Wenn sie wissen, was sie zu tun haben, dann werden sie von den Menschenhändlern und Freiern weniger schlecht behandelt. Sie wurden zu Prostituierten ausgebildet und wissen das nur zu genau. Sie verstehen den Grund nicht, aber im Alter von neun oder zehn Jahren erklären sie mit ihrer zarten, kindlichen Stimme, dass sie dazu geboren sind oder dass ihnen dies zumindest die Menschenhändler und Zuhälter gesagt haben. Die Psychologen versuchen, diese Konditionierung, der die Mädchen von klein auf unterzogen wurden, wieder rückgängig zu machen. Das ist eine gewaltige Herausforderung, denn die Entwicklung einer hypersexuellen Persönlichkeit und die dauernde Erotisierung verhindern, dass sie schützende Grenzen, wie weit sie sich anderen Mädchen oder Erwachsenen nähern können, setzen oder verstehen. Mit viel Geduld und Respekt bringen ihnen die Therapeutinnen bei, ihre Persönlichkeit neu zu strukturieren und ihr alltägliches Verhalten zu enterotisieren. Die größte Schwierigkeit besteht darin, sie dazu zu bringen, Erwachsenen zu vertrauen und ohne Schuldgefühle ihre Sexualität zu leben.

May lächelt mich an. Ich frage sie, ob sie gern schwimmt, wie alt sie ist und was ihr Lieblingsessen ist. Sie ist begeistert, dass ihr die unbekannte Besucherin so viel Aufmerksamkeit schenkt. Sie berührt mein Haar, zeigt mir ein Fahrrad und erklärt mir stolz, dass sie schon radfahren kann. Sie lacht über unser Dreiecksgespräch mit dem Umweg über die Dolmetscherin. Ich spreche Englisch und sie Khmer. Sie wird abgelenkt und wendet sich wieder dem Spiel zu. Die Mädchen kreischen und klatschen mit ihren Händen aufs Wasser. Plötzlich ruft May laut: »That's it, baby girl … good job!« Ich bin erstaunt. Der amerikanische Akzent ist perfekt. »Wer hat ihr wohl diesen Satz beigebracht?«, fragt Sue. Sie ahnt es wohl. Später erfahren wir, dass die Menschenhändler ihr diesen Satz sagten, wenn sie ordentlich yum-yum (oralen Sex) gemacht hat oder von einem Freier vergewaltigt worden war. Sie musste lächeln und küssen, damit es schneller vorbei war.

Für May und Tausende andere sexuell ausgebeutete Kinder steht dieser Satz, dessen Bedeutung die meisten Menschen erschüttert, für Gehorsam und Befreiung zugleich. Sie lernen, jede Verhaltensweise, für die sie besser behandelt werden, als Wunder zu sehen.

Sie erhalten eine Ausbildung. Sie ähneln dem Jungen, der von Geburt an täglich von seinem Vater geschlagen wurde und der die Psychologin nach seiner Befreiung fragte: »Und du, womit schlägst du?« Er war sich sicher, dass er auch in der Unterkunft jeden Moment geschlagen werden könnte. Als die Therapeutin antwortete, dass sie ihn niemals schlagen werde, war der Kleine verwirrt und verärgert. Für ihn war die Gewalt die einzige Möglichkeit, einen Kontakt herzustellen. Er musste erst andere Formen des Zusammenlebens lernen, und die Psychologen mussten ihm beibringen, Zärtlichkeiten zu verstehen und zu schätzen.

Schweigend gehe ich durch den Hof und beobachte von weitem, wie eine Lehrerin einer Gruppe auf dem Boden sitzender Mädchen eine Geschichte vorliest. Ich mache ein paar Fotos. Auf dieser Reise will ich unter anderem die Perspektive der Opfer und die individuellen Zeugnisse kennenlernen, die sie über ihre Erlebnisse ablegen. Ich habe nicht vor, ihre Geschichten aus der moralischen Sicht ihrer Betreuerinnen zu erzählen oder mit der geheuchelten Entrüstung der Behörden. Die Begegnung mit May bewegt mich, und ich frage mich, wie ich wohl im Alter von neun Jahren eine solche Tragödie erlebt hätte. Aber sofort erinnere ich mich: Diese Mädchen leben unter ganz besonderen Umständen. In ihrem Alter haben sie noch keine Vorstellung von Sexualmoral oder Erotik oder auch nur vom Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Sie wurden als kleine Kinder von ihren Müttern oder Vätern verkauft. Für das, was wir Mutterliebe nennen, haben sie weder Vorstellungen noch Worte. Deshalb können sie lachen, spielen und Spaß haben, während wir Erwachsenen aus unserer Sicht erschüttert von einer zerstörten Kindheit sprechen. Andere Mädchen lächeln nicht: Mädchen, die von Männern versklavt, misshandelt und bedroht oder zur Kinderpornographie gezwungen werden, lächeln selten. Das Phänomen hat viele Facetten, es gibt die unterschiedlichsten Formen und Grade des Missbrauchs, bis hin zu extremen Grausamkeiten, die ich im Jahr 2005 in meinem Buch Los Demonios del Edén (zu Deutsch etwa »Die Dämonen im Garten Eden«) über die Kinderpornographie in Mexiko dokumentiert habe.

Ich denke darüber nach, ob es eines Tages globalisierte Vorstellungen von Freiheit, Glück, Liebe, familiärer Fürsorge und Würde geben wird. Während ich den Garten betrachte, frage ich mich, ob sich die zunehmende gesellschaftliche und kulturelle Normalisierung des Kindesmissbrauchs, die in einigen Ländern zu beobachten ist, wieder rückgängig machen lässt, und zwar ohne den Rückgriff auf religiöse Dogmen einerseits oder einen philosophischen Diskurs der absoluten Freiheit andererseits. Letzteren bemühen all diejenigen, die meinen, die Normen und Gesetze der Sexualität seien überholt und müssten jenseits der Moralvorstellungen neu erfunden werden. Einer der Vertreter dieser Richtung ist Isaiah Berlin, der schrieb: »Freiheit ist Freiheit – sie ist weder Gleichheit noch Gerechtigkeit, noch Kultur, noch menschliches Glück, noch ein ruhiges Gewissen.« Ich atme die laue kambodschanische Luft und frage mich: Was bedeutet Freiheit für diese Mädchen, für diese Frauen?

Bevor ich mich wieder auf den Weg mache, erfahre ich noch etwas mehr über das Programm zur Wiedereingliederung und Erziehung der Mädchen und jungen Frauen. Wenn sie 16 Jahre alt sind, müssen sie die Unterkunft verlassen und mit anderen jungen Frauen zusammenleben. Die Rückkehr in ihr Dorf oder ins Elternhaus ist für die meisten keine Option. Die Verachtung der Familie bringt die Mädchen oft nur dazu, zu den Zuhältern zurückzugehen. Sie erhalten das Gefühl, dass sie einer unerwünschten Kaste angehören und dass sie wirtschaftlich nur überleben können, wenn sie ihren Körper verkaufen. Der große Triumph der Menschenhändler besteht darin, ihre Opfer zu Unberührbaren zu machen, die glauben, dass ihre Peiniger ihre einzigen Retter sind.

Einige, die Jüngsten, werden gelegentlich von ausländischen Familien adoptiert, die ihnen eine neue Chance geben wollen. Doch das ist keine einfache Aufgabe. Je nach ihren Erfahrungen benötigen die Mädchen bis zu zehn Jahre, um die posttraumatischen Belastungsstörungen zu überwinden. Wer sie adoptiert, muss sich bewusst sein, dass es eine Lebensaufgabe ist, das Verständnis zu ändern, das diese Mädchen von sich, von Frauen, von der Sexualität und von ihren Beziehungen zu Männern haben. Ansonsten werden sie unangepasst, laufen von zu Hause weg und enden wieder in der vertrauten Welt der Prostitution, in der eindeutige Regeln herrschen: Alle lügen und nehmen mit, was sie können.

»Liebe und Geduld sind nicht genug«, erklärte mir die mexikanische Psychologin und Sexualforscherin Claudia Fronjosá. Die große Herausforderung besteht darin, in Amerika, Europa und Asien Tausende Therapeuten auszubilden, die die minderjährigen Opfer der Sexsklaverei auf effektive, ethische und respektvolle Weise betreuen. Sie erfordern eine andere Behandlung als Kinder, die in der Industriearbeit versklavt werden und beispielsweise in Indonesien Fußbälle nähen. Erst ganz allmählich entsteht ein Bewusstsein dafür, dass sich die verschiedenen Formen des Menschenhandels stark voneinander unterscheiden.

Auf dem Weg nach draußen frage ich mich, von welcher Mafia diese Mädchen wohl versklavt wurden. Keine 24 Stunden später sollte ich eine Antwort erhalten. Nachdem ich die Gesichter ihrer Peiniger gesehen hatte, sollte ich die Mädchen umso mehr dafür bewundern, wie sie ihre Situation überwunden hatten.