6 Argentinien – Mexiko: Waffen, Drogen und Frauen

Raúl Martins: Der Unberührbare

Das einmalige Türkis des Meeres und der strahlend blaue Himmel locken Touristen in die Karibik, die vom Paradies auf Erden träumen. In den großen Fünf-Sterne-Hotels machen Familien Urlaub, die in Xcaret mit den Delphinen schwimmen wollen, aber auch Männer, vor allem Ausländer, die an einem geschützten Ort Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen suchen. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass sich Mexiko in das Thailand Lateinamerikas verwandelt hat. In Cancún und Playa del Carmen finden Amerikaner und Kanadier die perfekte Gelegenheit, denn hier sind die Gesetze außer Kraft gesetzt, mit denen die Klienten der Zwangsprostitution und der sexuellen Ausbeutung von Kindern bestraft werden.

Mitten im Hotelbezirk leitet Raúl Martins Coggiola – ein ehemaliger Agent des argentinischen Inlandsgeheimdienstes SIDE, der angeklagt wird, während der Militärdiktatur an der Entführung und Ermordung von Regimegegnern beteiligt gewesen zu sein – die Bordelle und Tabledance-Bars The One und Maxim. Dort tanzen junge Frauen aus Argentinien, Kolumbien, Kuba und Brasilien, von denen keine älter ist als 23, und bieten unter den misstrauischen Blicken des Wachpersonals sexuelle Dienstleistungen an. Angeblich ist die Prostitution in Cancún verboten, doch Martins' Freunde und Beschützer scheinen sogar noch mächtiger zu sein als der Gouverneur des Bundesstaates, Félix González Canto. Die Bundesrichter verhinderten die Schließung von The One und Maxim durch die Behörden von Cancún jedenfalls erfolgreich.

 

Es war im Oktober des Jahres 2005, und der Wirbelsturm Wilma hatte gerade die mexikanische Karibikküste verwüstet. Einen Moment lang war Cancún wie gelähmt. Noch einige Wochen nach dem verheerenden Unwetter hatten nur einige wenige Restaurants und Bars geöffnet. Die Reparaturarbeiten an den Hotels kamen zwar rasch voran, doch die Touristen waren vor der Naturkatastrophe geflohen. Eines Nachmittags traf ich mich mit einigen Freunden – ausschließlich Männern – zum Essen und schlug ihnen danach vor, ins The One zu gehen. Das Maxim in Playa del Carmen, das denselben Geschäftsleuten gehörte, kannte ich bereits und hatte mehrmals 17- und 18-jährige Mädchen beobachtet, die dort als Tänzerinnen arbeiteten. Jetzt wollte ich mit den Mädchen in Cancún sprechen, doch allein hätte ich keinen Zutritt bekommen.

Meine Freunde freuten sich über den Vorschlag. Als wir ankamen, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass ein 65-jähriger Architekt, der zu unserer Gruppe gehörte, offenbar Stammgast des Lokals war. Wir stiegen eine Metalltreppe hinauf zu einer dunklen Tür. Der Architekt begrüßte einige der Angestellten, und sie behandelten ihn wie einen VIP-Gast. Als wir eintraten, schenkten mir die Wachleute kaum Beachtung, wofür ich ihnen im Stillen sehr dankbar war. Auch The One litt unter den Folgen von Hurricane Wilma, nur ein Kunde tanzte mit einem der Mädchen auf der Tanzfläche.

Als meine Begleiter eine Flasche Whiskey für 300 Dollar bestellten, näherten sich drei Frauen. Sofort hatten sie den Attraktivsten der Gruppe ins Auge gefasst, einen großen, sportlichen Mann von 50 Jahren, der behauptete, wir würden unseren Hochzeitstag feiern. Ich stand auf, unterhielt mich mit den jungen Frauen und stellte mich ihnen mit einem falschen Namen vor. Danach luden sie mich ein, mit ihnen zu tanzen. Ich sah meine Chance, ihr Vertrauen zu gewinnen, und schloss mich ihnen an.

Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, wie schmierig der Laden war. Die Zuhälter, die normalerweise nervös und misstrauisch sind, standen herum und rauchten. Einer saß an der Theke und trank mit ein paar Frauen, die offenbar im Lokal arbeiteten. Meine Freunde baten, die Musik lauter zu stellen, und der Architekt nahm das Mikrophon, um uns anzusagen, als wäre er der Chef. Aus Spaß erfand er einen Namen und eine Nationalität für mich und verkündete, ich sei der Stargast des Abends. Ich trug Jeans, Sandalen mit hohen Absätzen und eine rote Bluse. Ich fühlte mich ein wenig unwohl, aber die Mädchen ließen nicht locker. Also tanzte ich zuerst ein wenig mit ihnen, dann tanzte ich an der Stange und schließlich mit einem Zirkusreifen, der auf die Bühne herunterhing, was nicht ganz einfach war.

Um das Eis zu brechen, bat ich die Tänzerinnen, mir ein paar ihrer Tanzbewegungen zu zeigen. Da ich jahrelang klassisches Ballett getanzt hatte, gelang es mir, mich mit meinen Hüftschwüngen nicht vollkommen lächerlich zu machen. Nach einer guten Stunde gingen wir zurück an den Tisch meiner Freunde, um uns ein wenig zu unterhalten. Diese tranken den teuersten Whiskey des Hauses und bezahlten eine Flasche Champagner für mich und die Mädchen. Ich erzählte ihnen, dass ich Romane über Frauen, Liebe und Sex schreibe, was ja nicht ganz falsch war. Es dauerte nicht lange, und wir unterhielten uns, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. »Bekommt ihr denn keinen Ärger, wenn wir hier quatschen?«, fragte ich sie. Aber sie meinten, solange die Kunden trinken und wir bei ihnen blieben, würden sie ihre Arbeit tun. Aber sie setzten sich nicht, genauso wenig wie ich. Gelegentlich tanzten wir ein wenig in der Nähe der Sofas, auf denen die solidarischen und zunehmend alkoholisierten Komplizen meiner journalistischen Arbeit saßen.

Wie schon öfter konnte ich feststellen, dass sich die Mädchen einer Frau eher anvertrauen als einem Mann. Die vier Frauen, mit denen ich mich etwa drei Stunden lang unterhielt, waren noch sehr jung. Eine Kolumbianerin, die mit dem Chef befreundet war, wusste von Anfang an, dass sie als Tänzerin und Prostituierte arbeiten würde. Eine 22-jährige Brasilianerin war mit 17 Jahren unter dem falschen Versprechen, sie würde als Modell arbeiten, nach Mexiko gebracht worden; sie war über die Grenzstadt Tijuana gekommen, von wo aus die Besitzer einen Bordell-Ring organisierten. Eine 19-Jährige mit Kindergesicht, Tochter eines Kolumbianers und einer Argentinierin, war im Urlaub nach Cancún gekommen, und ihr war das Geld ausgegangen. Ihre Tante hatte ihr eine Bekannte empfohlen, die ihr Arbeit verschaffen und Papiere besorgen würde: Es war die Frau von Raúl Martins. Eine 20-jährige Kubanerin, die zwei kleine Kinder bei ihren Eltern auf der Insel zurückgelassen hatte, war überzeugt, dass sie eine Menge Geld nach Hause schicken würde, sobald sie ihre Schulden bei Martins abbezahlt hatte.

Nach diesem Abend sah ich die Mädchen noch zweimal außerhalb der Bar wieder. In den Tagen nach unserer Begegnung schloss The One früh. Es waren kaum Touristen in Cancún, und die Einheimischen waren damit beschäftigt, ihre Häuser und Geschäfte wiederaufzubauen. Die Sicherheitsleute im The One waren weniger streng, und die Mädchen konnten ihre Wohnung verlassen und sich mit mir treffen. Martins hatte ihre Papiere einbehalten, aber sie schienen wenig Lust zu haben, sich gegen den mündlichen Vertrag aufzulehnen, obwohl sie ihn als ungerecht empfanden. Es schien ihnen immer noch besser, als zu Hause in Armut und ohne berufliche Aussichten zu leben. Keines der Mädchen hatte einen Schulabschluss, und in ihren Familien herrschte häusliche Gewalt vor. Die Anwälte von Raúl Martins hatten ihnen Aufenthaltsgenehmigungen besorgt; sie wussten zwar nicht, ob die Papiere tatsächlich echt waren, aber das bereitete ihnen kein Kopfzerbrechen. Sie erzählten mir, der einzige nette Mann unter den Anwälten sei ein gewisser Claudio gewesen.

Ich war überrascht, dass drei der vier Frauen, mit denen ich mich unterhielt, Kinder aus ungewollten Schwangerschaften hatten. Alle versicherten mir jedoch, sie hätten gelernt, ihre Kinder zu lieben. Zwei hatten ihre Kinder noch als Minderjährige bekommen. Alle vier erklärten, die Arbeit gefalle ihnen nicht, obwohl ihnen das Tanzen Spaß machte und sie hin und wieder interessante Männer kennenlernten. Sie weigerten sich, darüber nachzudenken, dass sie Sex gegen Geld verkauften, und trösteten sich damit, dass die Arbeit zeitlich befristet war und sie auf diese Weise ihre Schulden bei Martins möglichst schnell abbezahlen konnten. Die Kubanerin Smira meinte, sie ekele sich vor den Männern im The One. Die anderen stimmten zu: »Die Kunden sind unsicher, betrunken und glauben alles, was wir ihnen erzählen. Einige sind ordinär und meinen, wir würden uns in sie verlieben.« Die Mädchen beschrieben ihre Arbeit als Schauspielerei und ihre Kunden als reiche Idioten, die dafür bezahlten, dass die Mädchen so taten, als würden sie sich in ihrer Gegenwart wohlfühlen.

Zum Abschied hatte die Brasilianerin Nina eine Bitte: »Verrate bitte unsere Namen nicht. Wir haben gehört, dass Martins seinen Schwiegersohn umgebracht hat. Er ist ein grausamer Mann.«

Nach Auskunft der Kriminalpolizei stimmte das, was die junge Frau sagte. Im Jahr 2004 war der Norweger Peterson Kenneth Turbjorn alias Mike Arturo Wilson García, der Freund von Lorena Martins, ermordet im Hotelbezirk von Cancún aufgefunden worden. Im Polizeibericht wurde als Hauptverdächtiger Lorenas Vater genannt, doch der Fall wurde nie aufgeklärt, und die junge Frau floh nach Spanien. Polizeibeamte aus Cancún berichteten mir, nach dem Befund der gerichtsmedizinischen Untersuchung sei Kenneth Turbjorn vor seiner Ermordung gefoltert worden. Auf meine direkte Frage hin bestätigte mir der Leiter der Kriminalpolizei von Cancún, dass sich Martins unter den Verdächtigen befinde. Er sei jedoch unantastbar. Als ich nachhakte, was er damit meinte, erwiderte er: »Mischen Sie sich besser nicht ein. Dahinter steckt die Mafia.«

»Und du, pass auf, was du schreibst. Martins bringt dich um«, meinte die kubanische Tänzerin, als sie mich zum Abschied umarmte. Ich habe sie nie wiedergesehen. Später, als Martins’ früherer Anwalt Claudio Lifschitz den Argentinier öffentlich anklagte, verstand ich, wie ernst ihre Warnung gemeint war. Lifschitz behauptete unter anderem, Martins sei am Frauenhandel zwischen Südamerika und Mexiko beteiligt. In seiner Zeit als Agent des argentinischen Inlandsgeheimdienstes habe Martins das Netz der Zwangsprostitution kontrolliert. Im Hintergrund stünden politische Verflechtungen, die von Buenos Aires über Cancún bis nach Tijuana reichten.

 

Am 11. Januar 2007 machte die renommierte mexikanische Tageszeitung La Reforma auf der Titelseite mit einer Schlagzeile auf, die die Behörden wachrüttelte: »Exspion kontrolliert VIP-Prostitution.« Der Bericht stammte von Alejandro Pairone, dem Argentinien-Korrespondenten der Zeitung, und deckte die Globalisierung der Schleppernetze sowie ihre Verbindungen zu den politischen Machthabern und dem Justizsystem auf:

Buenos Aires. – »Ein ehemaliger Agent der argentinischen Militärdiktatur kontrolliert die VIP-Prostitution in Cancún und Playa del Carmen, dank eines Beschützernetzwerkes von staatlichen Funktionsträgern«, erklärte dessen früherer Anwalt. Der ehemalige Mitarbeiter des argentinischen Geheimdienstes Raúl Luis Martins Coggiola lebe ohne Aufenthaltserlaubnis in Mexiko.

Der Argentinier sei gegenwärtig Besitzer von The One in Cancún und Maxim in Playa del Carmen, in denen 150 Frauen unter sklavereiähnlichen Bedingungen der Prostitution nachgingen, so der ehemalige Anwalt von Martins in Mexiko und Argentinien, Claudio Lifschitz.

Gegenüber La Reforma erklärte der Anwalt, die besten Kunden von Martins seien Drogenhändler, Unternehmer und Politiker des Bundesstaates Quintana Roo, die seine Lokale besuchten oder bei ihm junge Frauen für ihre privaten Feiern in Villen, auf Yachten oder Kreuzfahrtschiffen bestellten.

»Martins prahlt damit, dass er auf seinem Handy die Privatnummer des Staatsanwalts von Cancún [Pedro Ramírez] hat. Er steht unter dem Schutz des mächtigen Unternehmers Isaac Hamui, der wiederum Partner des früheren Gouverneurs Joaquín Hendricks ist«, so der Anwalt.

Lifschitz bestätigte, dass der amtierende Gouverneur Félix González Canto den Schutz aufrechterhalte, unter den sein Vorgänger Joaquín Hendricks The One, das einzige Bordell im Hotelbezirk, gestellt hatte.

»Es wurde immer darüber spekuliert, ob die Besitzer von The One vom Staat oder von der Stadt geschützt werden. Angeblich besteht dieser Schutz unter dem neuen Gouverneur nicht weiter, aber Raúl Martins wurde trotzdem nicht angerührt«, erklärte Raúl Poveda, Besitzer von Plaza 21, das als neues Nachtclub-Zentrum in Cancún geplant war. Auf Anfrage von Reforma bestätigten anonyme Behördenvertreter in Cancún, dass der Schutz für die Unternehmen des Argentiniers weiter Bestand hat.

Raúl Martins war von 1974 bis 1987 Agent des argentinischen Geheimdienstes SIDE. Während der Militärdiktatur arbeitete er in der Einheit, die Personen beobachtete und zur Folter und Ermordung auswählte. Nach Informationen von Lifschitz bestand Martins' Aufgabe darin, Dissidenten zu verfolgen und zu fotografieren, die später verschwanden.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Geheimdienst baute Martins sein Unternehmen der VIP-Prostitution aus. Er leitete elf Bordelle und war Boss der Sexmafia von Buenos Aires. Als das Netzwerk aus Polizei, Justiz und Politik zusammenbrach, das ihn beschützt hatte, musste er das Land verlassen. Im Jahr 2002 tauchte er in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana auf. Dort war er sicher vor der argentinischen Justiz, die ihm auf den Fersen war.

Abgesehen von einer zweijährigen Gefängnisstrafe, der er sich entzog, sind gegen Martins vier Strafverfahren zu insgesamt zwölf Delikten anhängig. Nach Auskunft der argentinischen Staatsanwaltschaft wird er unter anderem wegen Erpressung, Körperverletzung, Betrug, Unterschlagung, Dokumentenfälschung, Korruption, Bestechung, Raub, Diebstahl und Zuhälterei angeklagt.

Claudio Lifschitz, der bis heute Angehörige der argentinischen Militärdiktatur vor Gericht vertritt, war sieben Jahre lang als Anwalt von Martins in Buenos Aires und Mexiko tätig. Nach einem Streit kehrte er nach Argentinien zurück, da er die Rache seines früheren Klienten fürchtete. Um sich zu schützen, machte er Martins' Machenschaften öffentlich und erklärte sich bereit, vor der mexikanischen Justiz auszusagen, wenn diese seine Sicherheit garantierte. Der Streit hatte begonnen, als Martins ihn bedrängt hatte, seine Aussage in einem Verfahren zurückzunehmen, in dem auch gegen hochrangige Funktionäre des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem ermittelt wurde. Lifschitz hatte ausgesagt, dass das Attentat gegen den Verein für Israelisch-Argentinische Freundschaft (AMIA) von höchster Stelle gedeckt wurde, und hatte die Verantwortlichen genannt.

Nach dem Erscheinen des Artikels in La Reforma beschrieb Martins' ehemaliger Geschäftspartner Sandro Ossipof im Detail, wie Martins in seinen Lokalen Videokameras versteckte, um seine Klienten beim Sex mit den Prostituierten zu filmen. Dem Gericht Nummer 28 von Buenos Aires liegt unter der Aktennummer 23799/04 eine Anklage wegen Bedrohung und Körperverletzung vor, die eine ehemalige Geschäftsführerin eines Bordells eingereicht hat. Als die mexikanischen Behörden Martins die offiziellen Genehmigungen zum Betrieb seiner Etablissements erteilte, war außerdem unter der Aktennummer 103933/97 ein Verfahren wegen Bestechung von Polizeibeamten anhängig, in dem es um den Schutz von Martins’ zuhälterischen Aktivitäten in Buenos Aires ging.

Nachdem die Staatsanwaltschaft in Tijuana wegen Betrugs gegen Martins zu ermitteln begonnen hatte, wechselte er nach Cancún und Playa del Carmen. In der mexikanischen Karibik baute er sein System der VIP-Prostitution aus, das er über mehr als ein Jahrzehnt hinweg in Argentinien errichtet hatte: Schritt für Schritt schuf er sich ein Beschützernetzwerk für die verschiedenen Banden von Frauenhändlern, die zwischen Feuerland und Mexiko aktiv sind.

In meinen Interviews mit den jungen Frauen und einigen Bedienungen erfuhr ich, dass Martins genau wie die meisten anderen Menschenhändler weiß, wie wichtig es ist, Frauen, die sich als professionelle Prostituierte betrachten, mit Opfern des Sklavenhandels zu mischen. Während erstere ihre Schulden bereits abbezahlt haben und sich frei bewegen können, werden letztere durch Drohungen gefügig gemacht, haben keine Papiere und können jederzeit ausgewiesen werden.

Als ich die Aussagen von Lifschitz in der mexikanischen Tageszeitung las, wurde mir klar, dass er der Anwalt war, den die jungen Frauen aus The One Claudio genannt hatten, der freundliche Vermittler von Aufenthaltsgenehmigungen der mexikanischen Einwanderungsbehörde. Leider stand er mir nicht für ein Interview zur Verfügung.

Viel Lärm um nichts: Martins Reloaded

Der Fall Martins enthüllte einen Filz aus Politik und Kriminalität, den weder die Bundesstaatsanwaltschaft noch die Justiz von Quintana Roo entwirren wollte. Behörden und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens brachten einen Monat damit zu, einander die Schuld in die Schuhe zu schieben. González Canto, Gouverneur von Quintana Roo, beschuldigte die Richter, sie hätten die Schließung von Martins' Nachtclubs verhindert und machten jetzt seine Verhaftung unmöglich. Martins griff seinen einstigen Rechtsbeistand an und beschuldigte ihn, gegen die Schweigepflicht verstoßen zu haben. Die Einwanderungsbehörde zeigte mit dem Finger auf die Bundespolizei und diese auf die örtlichen Behörden, die Martins die Lizenz zum Alkoholausschank erteilt hatten, und so weiter. Martins schien unter den mexikanischen Behörden ein ähnliches Durcheinander anzurichten wie in seiner Heimat.

Schließlich verschwand Martins, seine Bordelle wurden geschlossen, und einige der jungen Frauen wurden verhaftet, fotografiert und ohne Verhör in ihre Heimatländer abgeschoben. Ein Kriminalbeamter sagte mir, Martins befinde sich auf der Flucht, während Cecilia Romero, die Direktorin der Einwanderungsbehörde, erklärte, sie habe Anordnung, Martins auszuweisen; die Behörde gebe dem Fall besondere Priorität und verfolge vor allem die Ermittlungen zur Prostitution. Leider könne sie Martins in Wirklichkeit weder festnehmen noch ausweisen lassen, da ihr durch die Gerichte die Hände gebunden seien. Der Grund ist einfach: Die Justiz ist nicht nur ein Teil des Netzwerks der Korruption, sondern viele Richter sind zudem Kunden der Prostitution. Diese haben einerseits Angst, dass sie in den Etablissements gefilmt worden sein könnten, andererseits betrachten sie die Prostitution als ein vollkommen normales Gewerbe und sehen keinerlei moralischen Grund, die damit verbundenen Verbrechen zu ahnden. Auf diese Weise machen sie sich faktisch und moralisch zu Komplizen der Männer, die die Prostitution kontrollieren.

»Niemand hat etwas gegen Martins unternommen? Nicht einmal wegen Menschenhandel, Dokumentenfälschung, Betrug oder Mordverdacht?«, fragte ich Vertreter von verschiedenen Behörden. »Niemand. Kein Richter will sich mit ihm anlegen«, lautete die Antwort.

Die Erklärung für diese Untätigkeit der Behörden und Gerichte und für das nachfolgende Schweigen, das sich über den Fall breitete, gab mir eine junge Frau aus Argentinien, die mit falschen Versprechungen nach Playa del Carmen gelockt und dort zur Prostitution gezwungen wurde: »Hier und in Buenos Aires haben die Gorillas von Raúl alles gefilmt, sogar unsere Besuche in Fünf-Sterne-Hotels in Playa del Carmen und Cancún. Die Aufnahmen von Drogenbossen, die in Séparées neben Politikern und Unternehmern sitzen – das ist seine Lebensversicherung.«

Vermutlich tauche auch ich in einem dieser Videos auf, während ich mich auf der Tanzfläche lächerlich mache und mit den jungen Frauen anstoße, die mir bei meinen Recherchen halfen. Wenn ich ein Mann wäre, dann hätte ich problemlos Zugang zu diesen Lokalen. Ich könnte ein paar Getränke zu mir nehmen und mir damit ein paar Stunden mit einer jungen Frau erkaufen, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu befragen. In dieser Umgebung ist eine Frau automatisch Teil der »Ware«, während die Männer auf Seiten der »Kunden« stehen, die wiederum von der Mafia gefressen werden.

 

Am 9. September 2007, acht Monate nach dem Skandal um die Aussagen von Claudio Lifschitz und lange nachdem mir die mexikanischen Behörden versichert hatten, Martins sei an einen unbekannten Ort außer Landes geflohen, wurde das Bordell Sex & Girls eröffnet. Einer der Ehrengäste, der das Band des VIP-Bereichs durchschnitt, war ein kahlköpfiger Mann in schwarzem Anzug mit einer auffälligen Rolex Oyster am rechten Handgelenk: Es war kein anderer als Bordellkönig Raúl Martins. Er wurde als Geschäftsführer des neuen Bordells von Cancún vorgestellt, das sich diesmal im Rotlichtbezirk am Stadtrand befand. Niemand schien diese Nachricht zur Kenntnis zu nehmen.

Im Dezember 2009 wurde Raúl Martins beobachtet, als er mit zwei Models oder Tänzerinnen das Restaurant Rolandi's betrat, einen der renommiertesten Gastronomiebetriebe im Hotelbezirk von Cancún. Offenbar ohne von der Justiz behelligt zu werden, hat er sich inzwischen mit einigen Unternehmern aus Mexiko-Stadt zusammengetan. Auch dort unterhält er VIP-Bars mit Stripperinnen aus Südamerika und Osteuropa, die gezwungen werden, sich zu prostituieren, um ihre Schulden zu bezahlen.

Als ich die Frauen aus den Bordellen von Martins fragte, ob sie sich als Sklavinnen betrachteten, lächelten sie nur spöttisch oder fragten mit gespieltem Erstaunen, was ich denn damit meine. Doch als ich sie fragte, ob sie eine Möglichkeit wahrnehmen würden, in Mexiko zu bleiben und als Verkäuferin, Lehrerin, Kellnerin oder in irgendeinem anderen Beruf ihrer Wahl zu arbeiten, antworteten alle, ohne zu zögern, mit ja.