Die Erfahrung der Opfer

Wie lässt sich ermitteln, ob eine Frau, ein Mädchen oder ein Junge Opfer des Menschenhandels geworden ist? Es sind Dutzende Fälle bekannt, in denen die Opfer systematischer Vergewaltigungen vor Gericht ihre Peiniger entlastet haben. Staatsanwälte müssen bei ihren Ermittlungen gegen Menschenhändler die Opfer auf das Stockholm-Syndrom oder eine Identifikation mit dem Aggressor untersuchen oder nachforschen, ob die betroffene Person in ihrer Kindheit häuslicher Gewalt ausgesetzt war. Durch die schweren Misshandlungen haben viele die psychische und sexuelle Gewalt als etwas Natürliches verinnerlicht und meinen, sie hätten die Misshandlungen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, ihrer Nationalität, ihrer Klasse oder wegen allem zusammen verdient.

Die individuellen Erfahrungen der Opfer sind ganz entscheidend, um dieses gesellschaftliche und kriminelle Phänomen in seinem gesamten Ausmaß erkennen und verstehen zu können. Wir müssen verstehen, wie beispielsweise ein Mädchen aus El Salvador, das täglich mehrmals in einem Bordell vergewaltigt wurde, emotional und psychisch mit ihren Erfahrungen umgeht. Oder wie ein sechsjähriges Mädchen aus Brasilien, das seit dem vierten Lebensjahr in der Produktion von Kinderpornos missbraucht wurde, seine Ängste verinnerlicht und glaubt, was mit ihm passiert, so unangenehm es dies auch empfindet, passiere mit allen Mädchen, weil seine Vergewaltiger ihm das gesagt haben. Oder was in einem Geschäftsmann oder Priester in Mexiko, Spanien oder den Vereinigten Staaten vorgeht, der diese Videos kauft und sieht, ohne sich die geringsten Gedanken darüber zu machen, dass hinter dem Video eine Verbrecherorganisation steckt, die das Mädchen versklavt hat. Oder wie eine philippinische Menschenhändlerin denkt, die Prostitution als Teil der sexuellen Freiheit darstellt, bis sie mir irgendwann in einem freundlichen Gespräch berichtet, wie sie als Kind sexuell missbraucht wurde und später auf den Philippinen in einem Bordell für koreanische Touristen arbeiten musste; diese Frau hat den Missbrauch so weit verinnerlicht, dass sie sich nicht mehr als Opfer fühlt und nun in der Lage ist, ihrerseits Mädchen und junge Frauen ohne jedes Schuldgefühl der Prostitution zuzuführen.

Nur anhand dieser persönlichen Geschichten können wir verstehen, warum die Normalisierung der Gewalt derart fatale Folgen hat: Sie macht nämlich die Gewalt selbst unsichtbar und nimmt auf diese Weise den Opfern jede Möglichkeit, ihr Recht auf ein gewaltfreies Leben in Anspruch zu nehmen. Das kann dazu führen, dass allein die Vermutung, eine Frau könnte ein Opfer der Gewalt sein, schon fast zu einer Beleidigung wird, wie ich es bei organisierten Prostituierten in Europa und den Vereinigten Staaten erlebt habe. Das liegt daran, dass die sexuelle Gewalt aus liberaler Sicht ein Einzelfall ist. Daher konnte mir eine Prostituierte aus Barcelona sagen: »Ich verkaufe nicht meinen Körper, sondern einen konkreten sexuellen Akt, genau wie eine Sekretärin ihr Wissen verkauft, wenn sie einen Brief schreibt.«

Fina Sanz ist eine außergewöhnliche spanische Psychologin, Expertin auf dem Gebiet der Psychoerotik und Erfinderin der »Therapie der Wiederbegegnung«. In der spanischsprachigen Welt hat sie einen unschätzbaren Beitrag bei der Therapie von Überlebenden der sexuellen Gewalt geleistet. Sie argumentiert, durch die sexuelle Ausbeutung werde nicht nur der Körper in Mitleidenschaft gezogen, sondern die gesamte Persönlichkeit mit all ihren Emotionen. Dazu kommt, dass aus Sicht des Zuhälters, Klienten oder Vergewaltigers die sexuelle Erfahrung im Zusammenhang mit der Prostitution und Zwangsprostitution ein erotischer Akt – nicht für sie, sondern für ihn – und eine Form der Machtausübung ist.

Nach Ansicht von Sanz ist die Erotik »ein Spiegel der gesellschaftlichen und kulturellen Werte. Sie wird als sexuelle, sinnliche, emotionale, spirituelle und gesellschaftliche Einheit gelebt, und sie wird lustvoll gelebt«[24] – vorausgesetzt natürlich, sie wird überhaupt gelebt. Das sind nur einige Nuancen, die in der Diskussion um ein Verbot oder eine schärfere Reglementierung des Sexgewerbes bislang nicht erörtert werden. Dem konkreten Akt geht immer ein langer Prozess der Sozialisierung voraus, und dieser lässt Frauen in der Prostitution oft vermuten, das Thema der psychosexuellen Gesundheit hänge mit einer religiösen Moral zusammen, die Frauen verbieten will, ihre Sexualität auszuleben. In den Augen der Frau, mit der ich in Barcelona sprach, ist die sexuelle Dienstleistung offenbar nichts anderes als der Verkauf eines Sandwichs in einer Bar. Aber für den Klienten, der in ihren Körper eindringt, ihn unterwirft und instrumentalisiert, ist dies definitiv etwas anderes als der Verzehr eines Sandwichs. Und gesellschaftlich und kulturell gesehen, bestärkt der Verkauf einer sexuellen Dienstleistung die Wahrnehmung, es sei vollkommen in Ordnung, Menschen gegen Geld zu kaufen und zu misshandeln.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es in aller Welt nicht einmal eine halbe Million organisierte Prostituierte (beziehungsweise Sexarbeiterinnen, wie sich einige nennen) gibt. Das bedeutet nicht, dass sie als Minderheit unter den Prostituierten keine Stimme haben. Aber die Diskussion um die Rechte dieser Gruppe wird komplizierter, wenn mit deren Ausübung gesellschaftliche und kulturelle Werte und vor allem Delikte gefördert werden, die der Mehrheit schaden.

Carmela, eine ehemalige mexikanische Prostituierte, die in einer Organisation zur Prävention von Gewalt in Miami arbeitet, erklärt:

Früher haben wir Frauen gesagt: »Mein Mann schlägt mich, weil er mich liebt«, weil man uns von klein auf gesagt hat, dass Schläge Liebe bedeuten. Aber irgendwann haben wir verstanden, dass sie das genaue Gegenteil bedeuten. Und heute sollen wir sagen: »Meine Kunden vergewaltigen und erniedrigen mich, weil ich frei bin.« Was für eine Riesendummheit! Sexuelle Freiheit bedeutet, nicht ausgebeutet zu werden und zu schlafen, mit wem man will, und zwar nicht, um einem Gewerbe zu nutzen, das die Erniedrigung der Frau und die Normalisierung der Gewalt betreibt.

Wenden wir uns der Debatte über die von der Pornographie ausgelösten gesellschaftlichen Schäden zu. Catharine MacKinnon schreibt, mit der fortschreitenden Legitimierung und Popularisierung der Pornographie gehe eine zunehmende Normalisierung der Gewalt gegen Frauen einher, und die Gesellschaft stumpfe gegen die sexuelle Ausbeutung ab. Kritiker der Pornographie und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Folgen würden zudem als Gegner der freien Meinungsäußerung angefeindet und disqualifiziert. In diesem Zusammenhang sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass viele der im Kampf gegen den Menschenhandel aktiven Therapeuten fordern, die sexuelle Ausbeutung als Menschenrechtsverletzung zu behandeln. All diese Faktoren spielen beim Verständnis der Prostitution und des Sexgewerbes eine Rolle.

Versteht ein Philosoph, der vom Katheder seiner britischen Eliteuniversität aus über die Freiheit, sich zu prostituieren, schwadroniert, was seine Ausführungen für die konkreten Menschen bedeuten, die in den Netzwerken der Prostitution Gewalt erdulden müssen, und zwar nicht nur sexuelle, sondern auch rassistische und sexistische Gewalt? Es handelt sich um eine strukturelle Gewalt mit zutiefst frauenfeindlichen Wurzeln, die nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Gruppen betrifft.

Aber am anderen Extrem des Meinungsspektrums steht eine katholische oder protestantische Nonne, die junge Frauen aus der Prostitution befreit, nicht sehr viel besser da. Die Vertreter der christlichen Kirchen haben in der Regel große Schwierigkeiten, die Sexualität als etwas Normales und Gesundes anzuerkennen. Ihr radikaler Standpunkt, von dem aus sie gegen den Menschenhandel ankämpfen, basiert auf Vorurteilen, Ängsten und Dogmen, die keinen Dialog zulassen, nicht einmal mit den Opfern selbst. Im Gegenteil, die Kirchenvertreter stülpen den Opfern dogmatische Diskurse über und verdecken auf diese Weise die Komplexität der Hypersexualisierung, die einige der Opfer im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung erleben.