12

Am Morgen ist Las Vegas eine sehr seltsame Stadt. Das Leben spielt sich hier ausschließlich nachts ab, aber in Vegas ist es auch tagsüber wie bei Nacht. Die Spielkasinos schließen nie. Neben jeder Registrierkasse in der Stadt sind Spielautomaten installiert. Einen ruhigen Ort fürs Frühstück zu finden, war nicht einfach. Ich saß in einem Café, trank meinen ersten Kaffee und rauchte meine erste Zigarette. Ein paar Meter entfernt verspielte eine Frau, die meine Großmutter hätte sein können, ihr Kleingeld in einen verchromten Spielautomaten. Es störte mich. Wer sich vor Mittag dem Glücksspiel hingab, konnte gleich die eigene Schwester am Sonntagmorgen auf der vordersten Kirchenbank flachlegen, für mich war das so ziemlich dasselbe. Sie können mich einen Puritaner nennen – jedenfalls sehe ich das so.

Ich trank den Kaffee aus, drückte die Zigarette in den Aschenbecher und verließ das Hotel. Die Greyhound-Station war ganz in der Nähe. Ein Angestellter mit fliehendem Kinn informierte mich, dass alle zwei Stunden, immer zur halben Stunde, ein Bus nach Tahoe aufbrach. Ganz ohne Papier und Bleistift rechnete ich mir aus, dass einer um 3:30 Uhr fuhr; den wollte ich nehmen.

Doch zuerst hatte ich etwas zu tun.

Ich musste einen gewissen Mann finden; also suchte ich nach ihm. Leicht war es nicht, ihn zu finden, aber am Ende entdeckte ich ihn.

Ich suchte einen gewissen Mann, den ich nicht kannte. Ich trieb mich in den Vierteln von Las Vegas herum, die Touristen niemals sehen – in den heruntergekommenen Gegenden, den versteckten Stadtteilen, den Vierteln, in denen in den Neonreklamen öfter mal Buchstaben fehlen und weitaus gefährlicheren Lastern als dem legalisierten Glücksspiel gefrönt wurde.

Es dauerte drei Stunden. Drei Stunden wanderte ich herum und bemühte mich aufrichtig, meine Umgebung durch andere Augen zu sehen. Und nach drei Stunden fand ich ihn. Teufel, er versteckte sich ja auch nicht. Es war sein Job, sich finden zu lassen. Männer wie ihn findet man überall, in jeder Stadt im ganzen Land. Sie warten, bis man zu ihnen kommt. Warten immer.

Es war ein großer Mann. Als ich ihn fand, saß er auf einem Stuhl in einem kleinen, dunklen Café auf der Nordseite der Stadt. Seine Schultern waren vorn übergebeugt, und die Krawatte lag ihm locker um den Hals. Er wirkte jedenfalls groß. Er trank Kaffee, während alle anderen Gäste in dem Lokal entweder Bier oder Schnaps tranken. Die Kaffeetasse stand vor ihm, und er saß da, kümmerte sich nicht darum und las Zeitung. Hin und wieder, wenn die Brühe in der Tasse lauwarm geworden war, erinnerte er sich daran und leerte sie. Kurz darauf brachte ihm eine aufgedunsene Blondine einen frischen Kaffee.

An der Bar holte ich mir eine Flasche Bier, lehnte das angebotene Glas ab und nahm einen Schluck aus der Flasche. Ich ging mit meinem Bier zu seinem Tisch, stellte es ab und setzte mich ihm gegenüber.

Er ignorierte mich ein paar Sekunden lang. Ich sagte nichts und wartete, dass er etwas sagte. Schließlich ließ er die Zeitung sinken, und seine Augen musterten mich.

Er sagte: »Ich kenne Sie nicht.«

»Das brauchen Sie auch nicht.«

Er ließ es sich durch den Kopf gehen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Reden Sie«, sagte er. »Es ist Ihre Kohle.«

»Ein bisschen Kohle könnte ich schon gebrauchen«, sagte ich, »einen ganzen Haufen davon.«

»Ja?«

Ich nickte.

»Was ist Ihr Ding?«

»Ich kaufe und verkaufe.«

»Hier in der Gegend?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ach, was soll’s«, sagte er langsam. »Wenn hier was faul wäre, wüsste ich schon längst Bescheid. Ein Pfund?«

Ich nickte.

»Gleich?«

»Okay.«

Er erinnerte sich an seinen Kaffee und nahm einen kleinen Schluck. »Ziemlich weit«, sagte er. »Haben Sie ’ne Karre?«

Das hatte ich nicht. »Nehmen wir eben meine«, meinte er. »Fahren wir zusammen. Dealer und Kunde im selben Wagen. Nett, wenn die richtigen Leute die Stadt leiten. Alles paletti. Kein Trouble.«

Ich verließ das Café zusammen mit ihm. Niemand blickte uns nach. Offenbar wussten die anderen Gäste, was gut war für sie. Seine Karre stand um die Ecke: ein nagelneues taubenblaues Oldsmobile mit allen Schikanen. Er fuhr langsam und gut. Das Olds schwebte durch die Innenstadt, dann über die Stadtautobahn in einen Außenbezirk auf der Südseite der Stadt.

»Nette Gegend«, sagte er.

Ich erwiderte etwas Passendes. Er hielt vor einer großen Ranch mit einem bunten Glasfenster. Er wohne hier allein, erzählte er mir. Wir gingen hinein, und ich sah mir das Haus an. Es war geschmackvoll eingerichtet, mit modernen Möbeln, die aber nicht extravagant wirkten. Teuer, aber nicht auffällig. Ich fragte mich, ob er die Einrichtung selbst ausgesucht oder einen Innenarchitekten beauftragt hatte.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Machen Sie es sich bequem.«

Ich nahm auf einem Stuhl Platz, der viel bequemer war, als er aussah. Die Transaktion ging mir fast zu glatt. Mein Mann hatte recht – es war nett, wenn die richtigen Leute eine Stadt leiteten. Keine Spur von Trouble.

Ich starrte auf die Wände und wartete, dass er zurückkam. Als er wieder erschien, hielt er eine kleine, sorgfältig gefaltete Papiertüte in der Hand. »Dreißig für einen Dollar«, sagte er. »Heute gibt’s einen Spezialpreis im Zoo. Sie haben sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Wir haben zu viel auf Lager, also machen wir einen Sonderverkauf. Wollen Sie nachzählen?«

Ich schüttelte den Kopf. Wenn er mich bescheißen wollte, würde ich es auch nicht merken, wenn ich nachzählte. Ich griff nach meiner Brieftasche, da fiel mir ein, dass ich noch etwas brauchte.

»Warten Sie«, sagte ich, »ich könnte noch ein Besteck gebrauchen.«

Er sah mich amüsiert an. »Für Sie selbst?«

»Für jemanden.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das kostet Sie noch einen Zehner.«

Ich erklärte mich einverstanden. Er verschwand wieder und kam mit einem flachen Lederetui zurück, das aussah, als enthielte es Zeichenutensilien. Ich nahm das Etui und das Tütchen und reichte ihm einhundertzehn Dollar – einen Dollar und einen Zehner in seiner Sprache. Er faltete die Scheine zweimal zusammen und steckte sie in die Hemdtasche; dort trug er wahrscheinlich sein Kleingeld.

Auf dem Rückweg in die Innenstadt wurde er beinahe gesprächig. Er fragte mich, was ich in Vegas zu tun hätte, und ich sagte, ich sei nur auf der Durchreise, was ziemlich genau der Wahrheit entsprach.

»Ich reise ziemlich viel herum«, sagte ich. »Überall, wo es Leute gibt. Aber wenn man zu lange bleibt, wird es überall zu heiß.«

»Kommt darauf an, was für Beziehungen man hat.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Besuchen Sie mich, wenn Sie das nächste Mal nach Vegas kommen«, sagte er. »Ich bin immer an derselben Stelle. Oder fragen Sie nach mir, lassen Sie mir ausrichten, dass Sie in der Stadt sind. Manchmal kann ich Ihnen einen noch besseren Preis als heute bieten. Wir können immer ein Geschäft machen.«

»Klar.«

Ehe er mich aussteigen ließ, fing er zu lachen an. Ich fragte ihn, was denn so witzig sei.

»Nichts«, sagte er. »Mir ist nur gerade was eingefallen. Sind wir nicht in einem coolen Business? Nicht mal eine Wirtschaftskrise kann uns etwas anhaben. Ist das nicht zum Brüllen?«

 

Ich ließ meine Koffer in meinem Zimmer im Dunes. Ich wollte nicht aus dem Hotel auschecken, jetzt noch nicht. Um drei Uhr dreißig nahm ich den Bus nach Tahoe. Er war ziemlich leer. Die Straßen waren auch nicht überfüllt, und wir kamen schnell voran. Es war eine angenehme Fahrt – die Sonne schien, der Himmel war klar. Ich saß allein, sah zum Fenster hinaus und rauchte. Der Bus hatte eine Klimaanlage. Der Rauch kroch von der Spitze meiner Zigarette an der Fensterscheibe hoch und verschwand dann.

Als wir in Lake Tahoe ankamen, war es Zeit zum Abendessen. Ich hatte Hunger. Im Waschraum der Busstation warf ich einen Vierteldollar in einen Schlitz und verschaffte mir so Zugang zu einem abgetrennten Waschraum mit frischen Handtüchern und einem großen Waschbecken. Ich wusch mich, richtete mir die Krawatte gerade und kam mir wieder beinahe wie ein Mensch vor.

Ich aß ausgiebig, aber schnell zu Abend. Das Essen schmeckte ich allerdings kaum. Danach verließ ich das Restaurant und machte meine Runde.

Es war noch zu früh, aber ich schaute mich trotzdem schon nach ihr um. Wenn sie in Tahoe war, würde sie auch spielen. Und es gab nicht besonders viele Kasinos in Tahoe. Früher oder später würden wir uns in die Arme laufen.

Im ersten Kasino ging ich an den Würfeltisch und setzte ein paar Dollarwetten. Als ich dran war, ließ ich die Würfel liegen und verließ den Tisch. Ich hatte ein paar Dollar gewonnen, doch darum ging es mir nicht.

Im zweiten Kasino verspielte ich meinen Gewinn in einem Spielautomaten. Dabei sah ich mich nach ihr um, aber ich entdeckte sie nirgends. Also ging ich.

Dann kam ich an einem Herrenmodegeschäft vorbei, sah einen Hut im Schaufenster und überlegte, dass es viel besser war, wenn ich sie entdeckte, ehe sie mich sah. Ein Hut war angeblich eine perfekte Verkleidung. Hüte ändern die Kopfform oder so etwas. An manchen Orten fällt ein Mann mit Hut sofort auf, doch nicht in einem Kasino in Nevada. Die Eigentümer selbst nehmen die Hüte nicht ab, wenn sie ihr Etablissement betreten. Ich ging in das Geschäft und kaufte den Hut. Es war ein Borsalino, direkt aus Italien importiert, und er kostete zwanzig Dollar. Irgendwie kam es mir verschwenderisch vor, zwanzig Dollar für einen Hut auszugeben, den ich nur einmal tragen und dann wegwerfen würde. Doch dann machte ich mir klar, dass ich nicht mehr darauf achten musste, was die Dinge kosteten. Ein Fünfdollar-Hut hätte es auch getan, aber hier in diesem Laden gab es keine Hüte für fünf Dollar. Ich kaufte den Borsalino und setzte ihn gleich auf.

Ich sah nicht schlecht damit aus. Der Hut war hoch und hatte eine schmale Krempe, er war schwarz und sehr weich.

Ich musterte mein Spiegelbild im Schaufenster, schob den Hut ein paarmal hin und her, bis er richtig saß und auch seinen Zweck erfüllte. Dann machte ich mich auf ins nächste Kasino.

 

Ein paar Minuten nach neun entdeckte ich sie im Charlton Room. Ich trank gerade einen Bourbon Sour und beobachtete das Roulette, als ich sie sah. Sie waren an einem Würfeltisch, nur ein paar Meter von mir entfernt. Ich nahm meinen Drink und entfernte mich.

Ich hatte gewusst, dass sie nicht allein sein würde. Ich hätte sogar beschreiben können, wie er aussah: schwarzes Haar – schwarz, nicht dunkelbraun –, breite Schultern und ein teurer Anzug. Das Haar eine Spur zu sorgfältig frisiert, sodass keine Strähne falsch lag. Die Kleider standen ihm ein wenig zu gut, das Understatement war zu auffällig, als dass es echt sein konnte. Und er lachte oft. Nur zwei Arten von Männern sehen so aus und verhalten sich so: Gigolos und Homos. Und er war kein Homo.

Ich kenne die Spielregeln. Sie gab ihm etwas Geld, mit dem er spielen konnte, und er behielt es, egal ob er gewann oder verlor. Natürlich behauptete er immer, dass er verloren hatte. Sie konnte es glauben oder auch nicht, je nachdem, in welcher Stimmung sie war.

Wahrscheinlich wusste sie aber nicht, dass er auch einen Prozentsatz von ihren Verlusten erhielt. Das hatte das Kasino sich einfallen lassen, damit er sie so lange wie möglich an den Spieltischen hielt. Sie konnte es nicht wissen, doch wahrscheinlich wäre es ihr gleichgültig gewesen. Geld hatte für sie nur dann eine Bedeutung, wenn sie nicht bekam, wofür sie bezahlte.

Ich versuchte den Gigolo zu hassen, konnte es aber nicht. Er konnte mich nicht verletzen. Außerdem wusste ich nur deshalb so viel über die Art, wie er sein Geld verdiente, weil ich das gleiche Spiel von Zeit zu Zeit selbst betrieben hatte. Es ist schwierig, jemanden zu verachten, dem man so ähnlich war.

Jetzt hielt sie die Würfel in der Hand. Aber sie passte nicht ganz zum Stereotyp der Frau, die sich einen Mann aushält. Normalerweise will eine solche Frau sich auf Teufel komm raus amüsieren. Sie lächelt ständig, gestikuliert heftig, und ihr Lachen klang brüchig. Und darunter eine profunde Unsicherheit. Man erkennt es daran, wie sie den Ellbogen ihres Gespielen zu fest umklammert, daran, dass sie über Dinge lacht, die nicht witzig sind, an dem generellen Eindruck, als wäre sie eine mittelmäßige Schauspielerin bei einem sehr wichtigen Vorsprechen. Doch wem spielt sie diese Rolle vor? Der Welt? Oder sich selbst?

Doch Mona war nicht so. Es war kaum zu begreifen, aber sie schien sich entsetzlich zu langweilen. Der Bursche an ihrer Seite war ein Traum von einem Mann, und sie schien ihn kaum wahrzunehmen. Das Würfelspiel hatte ein Tempo, wie es nur selten der Fall ist, und es langweilte sie zu Tode. Sie warf die Würfel von sich, nicht als hasste sie sie, sondern als wollte sie die Dinger loswerden.

Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Immer wieder musterte ich ihr Gesicht und versuchte diese Schönheit, ja, diese Unschuld mit der Person in Verbindung zu bringen, die mich hintergangen hatte. Ich sah sie an, starrte sie an und versuchte wieder, aus all den Teilen dieses Rätsels schlau zu werden und zu begreifen, wie das alles geschehen konnte. Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit ihr zusammenzuleben. Und dann stellte ich mir vor, wie es wäre, ohne sie zu leben. Mir wurde klar, dass ich weder das eine noch das andere tun konnte.

Monas Anblick erinnerte mich an das andere Mädchen, das Mädchen aus dem Eden Roc. Ich hatte ihren Namen vergessen, aber ich erinnerte mich, dass sie in der Bronx wohnte, bei einer Versicherungsgesellschaft arbeitete und sich im Urlaub amüsieren wollte. Ich erinnerte mich daran, wie wir einander geliebt hatten, und wie sie aussah, als sie eingeschlafen war. Damals hatte ich gedacht, wie gut es wäre, sich in sie zu verlieben, sie zu heiraten und das ganze Leben mit ihr zu teilen.

Aber ich hatte mehr als ihren Namen vergessen. Ich wollte mir ihr Gesicht vergegenwärtigen, doch es gelang mir nicht. Ich versuchte, mich an ihre Stimme zu erinnern, aber ich wusste nicht, wie ihre Worte geklungen hatten. In meiner Vorstellung war nur ein abstraktes Bild geblieben, das aus den Eigenschaften des Mädchens bestand. Sie hatte viele Vorzüge gehabt. Mona hatte fast keine davon, nur ihre Schönheit.

Und doch blieb alles, was Mona betraf, unwiderruflich in meinem Gedächtnis haften.

Ich fand einen Spielautomaten, der Fünfcentstücke annahm, und warf einen hinein. Ich zog sehr langsam an dem Hebel und beobachtete die sich drehenden Scheiben. Bei einer Glocke, einer Kirsche und einer Zitrone kamen sie zum Stillstand. Die Fünfcentautomaten machten viel mehr Spaß als die Automaten, in die man einen Dollar hineinwerfen musste. Ich konnte nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren. Hier verschwendete ich nichts als meine Zeit, und ich konnte zusehen, wie sich die Scheiben drehten.

Wieder versuchte ich es. Diesmal hatte ich Glück, und als der Rotator stoppte, waren die gleichen Bilder auf den drei Scheiben. Zwölf Fünfcentstücke purzelten in den Ausgabeschlitz.

Ich konnte nicht mit ihr leben, und ich konnte nicht ohne sie leben. Ein interessantes Problem. Ich hatte mir früher vorgestellt, wie es sein würde, Mona zur Frau zu haben. Ich wusste inzwischen, wie ihr Verstand arbeitete. Keith war tot, nicht weil sie ihn gehasst hatte, oder weil sie mich gewollt hatte, sondern weil sie ihn nicht mehr brauchte. Er war überflüssig geworden, und deshalb hatte sie ihn sich vom Hals geschafft. Wenn ich seine Stelle einnahm, würde es nicht viel anders laufen. Nicht dass sie mich töten würde, aber sie würde mich verlassen oder alles dafür tun, dass ich sie verließ. Es konnte nicht funktionieren mit uns beiden.

Und ich wusste verdammt gut, was geschehen würde, wenn ich versuchte, ohne sie zu leben. Ganz gleich wo oder mit wem ich zusammen war, würde ich jede Nacht an sie denken. Jede Nacht würde ich mir ihr Gesicht vorstellen, mich an ihren Körper erinnern und mich fragen, wo sie war und mit wem sie schlief, was sie für ein Kleid trug und …

Ein Mann ermordet eine Frau und verkündet: Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie auch kein anderer haben – es ist eines der gängigsten Motive für Mord auf der Welt. Früher hatte ich das nie begreifen können. Jetzt fing ich an, es zu verstehen.

Aber ich hatte entschieden, dass ich sie nicht töten konnte.

Ich konnte nicht ohne sie und nicht mit ihr leben. Ich konnte sie nicht töten. Und ich hatte auf keinen Fall vor, mich selbst umzubringen. Mein Problem schien unlösbar.

Wieder warf ich ein Fünfcentstück in den Spielautomaten. Ziemlich clever, dachte ich, dass ich von ganz allein auf die Lösung gekommen war. Ich zog am Hebel und blickte auf die rotierenden Scheiben.

 

Später gingen sie noch in ein anderes Kasino. Es war Mitternacht, als sie es verließen, Mitternacht oder kurz danach. Sie hatten ein paar Drinks gehabt und waren augenscheinlich beide etwas beschwipst. Sie gingen zu Fuß, und ich folgte ihnen zum Roycroft. Es war das beste Hotel in Tahoe. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass sie dort wohnen würden.

Ich wartete draußen und betrat die Lobby erst, als sie schon im Lift auf dem Weg hoch in ihr Zimmer sein mussten. Ich sah mich um, aber diesmal fiel mir der allgegenwärtige Geruch nach Geld kaum mehr auf. Teufel, das Eden Roc war mindestens ebenso luxuriös. Und ich hatte dort die Rechnung sogar selbst bezahlt. Wenigstens fast. Jedenfalls wurde es immer schwieriger, mich zu beeindrucken.

Ich entdeckte den Chefportier und ging auf ihn zu. Er musterte mich sorgfältig, von dem neuen Borsalino bis hinab zu Keiths Schuhen, die ich trug. Dann blickte er mir direkt in die Augen.

»Das Paar, das gerade hereingekommen ist«, sagte ich. »Haben Sie es bemerkt?«

»Kann schon sein.«

Der hier kam direkt aus Hollywood. Ich lächelte sanft. »Ein ziemlich gut aussehendes Paar«, sagte ich. »Wissen Sie, ich könnte wetten, Sie haben keine besonders gute Beobachtungsgabe. So ein Paar geht an Ihnen vorbei, die beiden wohnen hier im Hotel, und Ihnen fällt es nicht mal auf.«

Er erwiderte nichts.

»Ich meine«, sagte ich, »ich wette mit Ihnen um zwanzig Dollar, dass Sie nicht einmal wissen, in welchem Zimmer sie wohnen.«

Er überlegte. »Okay«, meinte er dann. »Achthundertvier.«

Ich reichte ihm die zwanzig. »Das war ziemlich gut«, sagte ich. »Aber richtig beeindruckt bin ich noch nicht. Ich wette einen Hunderter, dass Sie keinen Schlüssel haben, mit dem man die Tür von Zimmer achthundertvier aufbekommt.«

Beinahe hätte er gelächelt. »Kein Problem«, sagte er.

Er verschwand und tauchte nach einer Weile wieder auf. Dann tauschte er einen Schlüssel gegen eine Hundertdollarnote.

»Wenn es Ärger gibt«, sagte er, »wissen Sie nicht, woher Sie den Schlüssel haben.«

»Ich hab ihn unter einem Stein gefunden.«

»Genau«, sagte er. »Sie halten also den Mund, ja?«

»Klar.«

Er musterte mich noch einmal sehr genau. »Kapieren tu ich’s nicht«, meinte er.

»Für hundertzwanzig müssen Sie das auch nicht.«

Er zuckte mit den Schultern. »Reine Neugier«, sagte er. »Die menschliche Komödie.«

»Zu viel Neugier kann einem gefährlich werden.«

Er hob wieder die Schultern. »Sind Sie ihr Mann?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das hätte mich auch gewundert. Aber …«

»Der Bursche, der bei ihr ist«, sagte ich. »Haben Sie ihn gesehen? Der mit dem breiten Kreuz und den schwarzen Haaren.«

Sein Gesichtsausdruck verriet mir deutlich, was er von dem Burschen hielt.

»Der ist ihr Mann«, erklärte ich. »Ich bin ihr eifersüchtiger Geliebter. Das Miststück betrügt mich mit ihm.«

Er seufzte. Es war besser als ein Schulterzucken. »Wenn Sie mich nur verarschen wollen«, sagte er, »setze ich mich lieber vor den Fernseher. Das macht mehr Spaß.«

Er hatte ein Recht auf seine Meinung. Ich setzte mich in einen Sessel in der Lobby und ließ ihnen Zeit, damit sie richtig in Fahrt kommen konnten. Die Decke war schalldicht, und ich zählte die kleinen Löcher in dem Material. Natürlich zählte ich nicht wie ein Idiot jedes einzelne Loch. Ich zählte die Löcher in einem der Vierecke und dann kriegte ich heraus, wie viele Vierecke an der Decke sind. Und dann multiplizierte ich.

Was auch immer. Löcher in der Decke zu zählen ist auch eine Beschäftigung.

Ich rauchte meine Zigarette zu Ende, stand auf und steckte mir eine andere in den Mund. Ich zündete sie an und nahm einen langen Zug. Ich sog den Rauch bis in die Lungen und hielt ihn dort fest. Dann ließ ich ihn langsam in einer dünnen Säule aus Rauch entweichen. Auf diese Weise wird man etwas benommen; aber diese Benommenheit gibt einem auch Selbstvertrauen. Ich fühlte mich sehr selbstsicher.

Ich ging zum Lift. Der Liftboy las die Morgenzeitung. Er studierte die Rennberichte. Ist schon blöd, wenn man in Nevada lebt und immer noch auf Pferde setzen muss. Ich schüttelte traurig den Kopf, und er blickte zu mir hoch.

»Acht«, sagte ich.

Er gab keine Antwort, steuerte den Aufzug hoch in den achten Stock, wo ich ausstieg. Die Tür schloss sich, und er fuhr wieder hinunter, um weiter seine Rennberichte zu lesen. Hoffentlich verlor er jedes einzelne Rennen. Ich kam mir sehr fies vor.

Ich ging den Gang entlang und stellte bei der ersten Zimmernummer fest, dass ich in der falschen Richtung ging. Ich kehrte um und arbeitete mich bis 804 vor. Ein Bitte-nicht-stören-Schild hing am Türknopf. Das kam mir äußerst komisch vor. Ich überlegte, ob ich aus Spaß anklopfen sollte, damit sie mir durch die Tür zurufen konnten, ich solle verschwinden.

Ich klopfte nicht.

Stattdessen rauchte ich meine Zigarette zu Ende. Statt sie in dem dicken Teppich auszutreten, ging ich den Gang zurück bis zum Lift und drückte den Stummel in einer Vase mit Sand aus. Dann ging ich zurück und stand noch eine Weile vor der Tür.

Zwischen der Tür und der Schwelle war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Er war nicht besonders hell. So als wäre eine kleine Lampe eingeschaltet.

Das hieß, dass die Bühne bereit war.

Ich nahm den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Kein Laut war zu hören, auch nicht, als ich den Schlüssel umdrehte. In Gedanken bedankte ich mich bei dem käuflichen Chefportier. Ein Federmesser war wirksam, aber nicht so subtil. Mir kam es sehr darauf an, subtil vorzugehen.

Es war ein sehr gut geführtes Hotel. Die Tür quietschte nicht einmal. Ich öffnete sie ganz, und da lagen sie.

Das Deckenlicht war ausgeschaltet, aber sie hatten das Licht im begehbaren Kleiderschrank angelassen, was sehr nett von ihnen war. Auf die Weise konnte ich alles sehen, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen. Und es gab einiges zu sehen.

Sie lag auf dem Bett. Ihr Kopf ruhte auf dem Kopfkissen, und ihre Augen waren geschlossen. Ihre Beine waren weit gespreizt.

Er lag zwischen ihren Beinen. Er verdiente sich sein Geld und legte sich dabei mächtig ins Zeug. Spaß schien er auch daran zu haben. Genau wie sie. Aber ob sie wirkliche Leidenschaft empfanden, war bei beiden nicht mit Sicherheit festzustellen.

Ich trat ein und dankte dem toten Keith dafür, dass seine Schuhe nicht knirschten. Ich drehte mich um und schloss die Tür. Sie hörten mich nicht und bemerkten mich auch sonst nicht.

Dazu waren sie zu beschäftigt.

Ein paar Sekunden lang schaute ich ihnen zu. Als Kind hatte ich zufällig einmal meinen Vater und meine Mutter dabei erwischt, wie sie sich liebten. Ich war zu jung gewesen, um wirklich zu verstehen, was sie taten. Aber ich wusste, was Mona und ihr Freund trieben, und ihr Liebesspiel hatte etwas fast Hypnotisches. Vielleicht war es der Rhythmus. Ich weiß es nicht.

Und dann war der richtige Moment gekommen. Ich hätte gern etwas wahnsinnig Schlagfertiges gesagt, aber mir kam kein cleverer Spruch in den Sinn, der wirklich gepasst hätte. Eine Schande. Man bekommt nicht oft so eine Gelegenheit wie diese.

Aber mir fiel nichts Schlaues ein. Und ich hatte nicht die ganze Nacht Zeit. Was ich schließlich von mir gab, war so ziemlich das Banalste, was man in so einem Moment sagen konnte. Klar und eindeutig, aber nicht sehr originell.

Ich sagte: »Hallo, Mona.«