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Ich checkte unter dem Namen Howard Shaw im Collingwood-Hotel ein. Das Collingwood war ein gutes, wenn auch nicht erstklassiges Hotel in der Fünfunddreißigsten Straße westlich der Fifth Avenue. Das Zimmer kostete zweiunddreißig Dollar die Woche; es war sauber und gemütlich. Das Hotel lag zentral, wenn auch nicht direkt im Stadtzentrum. Die Chancen, dass ich auf alte Bekannte traf, lägen viel höher, wenn ich in einem Hotel am Times Square abgestiegen wäre.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich ließ meine drei Koffer auf den Boden fallen. Den Aktenkoffer schob ich unter das Bett in der Hoffnung, dass alles gut gehen würde.

Das Collingwood war ein Hotel, in dem viele Dauergäste wohnten, deshalb gab es keine Pagen, die einem die Koffer hoch trugen. Niemandem fiel auf, dass auf meinem Gepäck die Initialen L. K. B. standen, was mir nur recht war. Jetzt musste ich die Koffer nur noch loswerden. Es wäre natürlich ein Leichtes gewesen, sie in ein Schließfach in der U-Bahn zu stecken und den Schlüssel wegzuwerfen, aber dafür waren sie zu gut, und ich war zu pleite. Also riss ich die Etiketten der Reinigung aus sämtlichen Kleidungsstücken Brassards, mit Ausnahme von denen, die mir passten. Ich stopfte die Kleider in die Koffer und machte mich auf den Weg in die Innenstadt, wo die Third Avenue zur Bowery wird.

Ich verkaufte die Kleider im Wert von mehr als dreihundert Dollar an einen kleinen Mann mit runden Schultern und vorstehenden Augen für gerade mal dreißig Dollar. Dann versetzte ich die beiden Koffer im Wert von mehr als hundert Dollar für fünfundzwanzig. Ich überließ Brassards Sachen den Pennern, die in einem Pfandhaus einkauften, ging zurück ins Hotel und legte mich schlafen.

Es war Donnerstag. Am Sonntag oder Montag würden sie nach New York zurückkommen. Jetzt waren sie zusammen im Shelburne. Wahrscheinlich im Bett.

Ich träumte von ihnen und wachte schweißgebadet auf.

 

Am Freitag suchte ich ihn im Telefonbuch. Es war nur ein simpler Eintrag, nicht einmal in Fettdruck. Dort stand: Brassard, L.K., 117 Chmbrs … WOrth 4-6363. Ich verließ das Hotel, im Laden gleich um die Ecke war ein öffentliches Telefon. Ich wählte WOrth 4-6363 und ließ es achtmal läuten. Niemand meldete sich. Ich ging zur Sixth Avenue hinüber und nahm den D-Train zur Chambers Street. Dort schlenderte ich die Straße entlang, bis ich Hausnummer 117 fand.

Es war genau das richtige Gebäude für ihn. Die Ziegel waren einmal rot gewesen; jetzt waren sie verblasst. Die Fenster hätten mal geputzt werden müssen. Die Namen der Mieter standen auf den Fensterscheiben – Comet Enterprises, Inc …. Billige Autoversicherungen … Ausweisphotos in einer Stunde … Zenith Jobagentur … Kallett – Vertrauliche Ermittlungen … Kanzlei Rafael Messero – Scheidungsangelegenheiten. Neun Stockwerke voller kleiner Büros, neun Stockwerke freien Unternehmertums. Ich fragte mich, warum er kein standesgemäßeres Büro hatte. Und ich fragte mich, ob er wirklich jemals in seinem Büro auftauchte.

Sein Name stand auf der Hinweistafel. Der Lift ging automatisch, und ich fuhr damit in den fünften Stock. Ich stieg aus, ging an dem Büro der Jobagentur vorbei zu der Tür mit der Aufschrift L. K. Brassard. Die Tür hatte eine Milchglasscheibe, die mir den Blick ins Innere versperrte.

Ich versuchte die Tür zu öffnen, doch es hätte mich gewundert, wenn das Büro offen gewesen wäre. Die Tür war mit einem normalen Schnappschloss ausgestattet, das sich nur mit dem Schlüssel öffnen ließ, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. Zwischen Tür und Rahmen war ein Spalt von gut drei Millimetern. Ich blickte zur Zenith Jobagentur hinüber; die Tür war verschlossen. Ich fragte mich, wie hoch wohl die Strafe war, wenn man eine Tür aufbrach.

Mit Hilfe meines Taschenmessers brauchte ich gerade mal zwanzig Sekunden. Es ist eine ganz einfache Operation: Man schiebt die Messerklinge zwischen Tür und Rahmen und drückt den Schlossmechanismus zurück. Gute Türen liegen auf dem Türrahmen auf, dann lassen sie sich nicht so einfach knacken. Doch dies hier war keine gute Tür. Ich öffnete sie einen Spalt und sah mich noch einmal im Gang hinter mir um. Dann drückte ich sie auf, trat ein und schloss sie hinter mir.

Der Raum sah aus wie ein ganz normales Büro. In einer Ecke stand einer der ältesten Rollschreibtische Amerikas mit einem Tintenfass darauf. Ich suchte automatisch nach einem Federkiel und war beinahe überrascht, keinen zu finden.

Auf dem Schreibtisch lagen ein halbes Dutzend großformatiger Geschäftsbücher, die ich ziemlich genau unter die Lupe nahm. Ich weiß nicht, was ich hier zu finden hoffte. Vielleicht waren die Eintragungen verschlüsselt oder sie bedeuteten überhaupt nichts. Jedenfalls war es Zeitverschwendung, sie länger durchzusehen.

Die Schubladen und Fächer des Schreibtisches brachten auch nichts Besonderes zutage, da waren nur Rechnungen, abgestempelte Schecks und Kontoauszüge. Offenbar wickelte Brassard neben seiner Haupteinnahmequelle auch ein paar durchaus legale Geschäfte ab. Soweit ich das feststellen konnte, importierte er eine Menge japanischen Kram – Feuerzeuge, Spielwaren, Modeschmuck. Das passte ins Bild. Gut möglich, dass Heroin aus China oder Hongkong oder Macau über Japan in die USA eingeführt wurde.

Ich saß auf dem Lederstuhl an seinem Schreibtisch und versuchte, mich in seine Lage zu versetzen. Am meisten beeindruckte mich das Doppelleben, das er führte. Er war kein Verbrecher wie Reggie Cole oder Max Treger. Wer Treger kannte, wusste, was für ein Mensch er war. Er war nur noch nicht im Knast gelandet, weil niemand genügend Beweise beschaffen konnte, um ihn dorthin zu befördern. Doch falls Treger verheiratet war, dann wusste Mrs. Treger ganz genau, womit ihr Mann die Nerzmäntel bezahlte. Einige von Tregers Nachbarn schnitten ihn, andere taten so, als wäre er einer der ihren. Aber alle wussten, dass er ein Krimineller war. Die Leute in Cheshire Point aber hatten keine Ahnung, wer sich hinter der Fassade des guten alten Keith Brassard verbarg.

Ich trommelte mit den Fingern ein Solo auf dem respektablen Schreibtisch und fragte mich, warum zum Teufel ich überhaupt in sein Büro gekommen war. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Ich war nicht vom Rauschgiftdezernat, ich wollte keinen Rauschgiftring ausheben. Ich war ein Klugscheißer, der Brassard umbringen und sich seine Frau schnappen wollte. Was hatte ich also hier verloren?

Ich wischte jeden Gegenstand ab, den ich berührt hatte. Wahrscheinlich war das nicht notwendig. Aber ich wollte keine Fingerabdrücke in seinem Büro hinterlassen, falls doch einmal jemand eine Verbindung zwischen mir und ihm herstellte. Dabei stieß ich noch auf einen Fetzen Papier mit vier Telefonnummern und ohne den geringsten Hinweis, was die Nummern bedeuteten. Ich schrieb sie ab.

Er würde merken, dass jemand in seinem Büro gewesen war. Ich bemühte mich, alles so zu hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte, doch einige verstellte Gegenstände würden den Einbruch verraten. Hoffentlich gab es eine Putzfrau mit einem eigenen Schlüssel; dann würde er nicht auf den Gedanken kommen, dass jemand sein Büro durchsucht hatte.

Auf dem Weg zurück zum Hotel erstand ich ein paar Freizeithosen und etwas Unterwäsche. Ich fand einen Anzug mit einem zusätzlichen Sportsakko und veranlasste, dass man mir die Kleidungsstücke am Montag ins Collingwood lieferte. Insgesamt kosteten mich die Klamotten über hundert Dollar, sodass mir nicht mehr viel Geld übrig blieb. Ich gab ungern so viel für Anzüge aus, doch es ließ sich nicht vermeiden. Ich brauchte anständige Kleidung. Und wenn sie zu billig wirkten, würde ich damit Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Dann erstand ich noch einen ganz ordentlichen Koffer für fünfundzwanzig Dollar. Reine Verschwendung, aber mir blieb nichts anderes übrig.

Als ich ins Hotel zurückkam, war mir ziemlich scheußlich zumute. Ich war müde, gelangweilt und ziemlich verschwitzt. Gegen das Schwitzen half eine Dusche, doch die Langeweile blieb. Ich hatte nichts zu tun und wusste nicht, wo ich hingehen könnte. Meine eigene Gesellschaft konnte ich auch nicht besonders gut ertragen. Ich vermisste Mona so sehr, dass ich es geradezu körperlich spürte.

Ich genehmigte mir ein gutes Abendessen mit einem Drink vorab und einem Brandy danach. Dann ging ich in den Laden an der Ecke, erstand eine Flasche Whiskey und ging damit zu Bett.

 

Der Samstag ging vorüber, ohne dass ich besonders viel getan hätte. Ich ließ mir beim Friseur einen Bürstenhaarschnitt verpassen, eine Frisur, die ich schon lange nicht mehr getragen hatte. In meinem Zimmer musterte ich mich lange im Badezimmerspiegel. Der Haarschnitt hatte mich vollständig verändert. Mein Gesicht wirkte runder, meine Stirn höher, ich sah gut zwei Jahre jünger aus.

Unten im Laden holte ich mir ein paar Taschenbücher. Den Rest des Tages verbrachte ich im Hotel mit Lesen, wobei ich nach und nach die Flasche leerte. Ich musste die Zeit totschlagen, und ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Hätte ich zwei Tage im Koma liegen können, wäre ich froh gewesen. Ich wollte über nichts nachdenken, und ich wollte keine Pläne machen, ich wollte überhaupt nichts tun. Ich wartete nur, dass die Zeit verging.

Am Sonntagnachmittag ging ich zur Penn Station hinüber und suchte ihre Nummer im Telefonbuch von Westchester. Die Straße, in der sie wohnte, hieß Roscommon Drive. Ich merkte mir die Nummer und verließ den Bahnhof.

An diesem Abend rief ich sie an.

Es war ein warmer Abend, und der Ventilator in der Telefonzelle funktionierte nicht. Ich warf ein Zehncentstück in den Schlitz und wählte ihre Nummer. Es meldete sich ein Mädchen von der Vermittlung, die mir meine zehn Cent zurückgab und mich aufforderte, zwanzig Cent einzuwerfen. Ich warf das erste Geldstück und ein zweites ein, dann klingelte das Telefon. Eine Männerstimme sagte: »Hallo.«

»Ist Jerry da?«

»Ich fürchte, Sie haben sich verwählt.«

»Ist das nicht die Nummer von Jerry Hillman?«

»Nein«, sagte er. »Tut mir leid.«

Er legte auf, und ich saß in der heißen Zelle und hörte im Geist immer noch seine Stimme. Es war eine gepflegte Stimme. Er sprach langsam, mit einem angenehmen Tonfall.

Ich verließ das Telefonhäuschen und ging die Straße entlang. Sie waren zu Hause. Ich steckte mir eine Zigarette an und rauchte hastig. Ich musste mit ihr in Verbindung treten, wusste aber nicht, wie ich es anpacken sollte. Ich fragte mich, ob sein Telefon überwacht wurde. Höchstwahrscheinlich. Bestimmt hatte er es selbst veranlasst. Es war sicher nicht das erste Mal.

Ich rief wieder von derselben Zelle aus an; diesmal meldete sie sich. Als sie Hallo sagte, sah ich sie vor mir, spürte sie in meinen Armen. Ich zitterte.

»Ist Jerry Hillman da?«

»Nein«, sagte sie. »Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.«

Sie erkannte meine Stimme. Ich war mir absolut sicher.

»Ist das nicht AL 5-2504?«

»Nein«, sagte sie.

Ich saß über eine Viertelstunde in der Telefonzelle. Den Hörer hielt ich gegen mein Ohr gepresst, damit es so aussah, als telefonierte ich. Mit der anderen Hand hielt ich die Telefongabel gedrückt. Dann klingelte es, und ich ließ die Gabel los und sagte Hallo.

»Joe«, sagte sie. »Hallo, Joe.«

»Wie ist es dir ergangen?«

»Es war ganz okay«, sagte sie. »Glaube ich wenigstens. Du hast mir gefehlt, Joe.«

»Ich werde vor lauter Warten auf dich fast verrückt. Ich hatte schon Angst, du hättest die Nummer nicht verstanden. Von wo aus rufst du an?«

»Von einem Laden«, sagte sie. »Ich … ich habe auf deinen Anruf gewartet. Keith ist beim ersten Mal ran. Er hat gemeint, jemand hätte sich verwählt. Aber ich hab gewusst, dass du es bist.«

Ich holte tief Luft. »Ich muss dich sehen«, sagte ich. »Kannst du morgen nach Manhattan kommen?«

»Ich denke schon. Er geht ins Büro. Ich begleite ihn einfach in die Stadt und sage ihm, ich hätte Einkäufe zu erledigen. Irgendwann zwischen neun und zehn bin ich da. Einverstanden?«

»Perfekt.«

»Wo wohnst du?«

»In einem Hotel«, sagte ich. »Im Collingwood. Östlich vom Herald Square.«

»Wollen wir uns dort treffen?«

Ich überlegte. »Nein, besser nicht«, sagte ich. »In der Vierunddreißigsten Straße zwischen Sixth und Seventh Avenue ist ein Selbstbedienungsrestaurant. Treffen wir uns dort.«

»Die Vierunddreißigste zwischen der Sixth und Seventh. Ich werde dort sein. Ich liebe dich, Joe.«

Ich sagte ihr, dass ich sie auch liebte. Ich sagte ihr, wie scharf ich auf sie war.

»Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie. »Ich bin in den Laden, um Tampons zu holen. Er wird sich wundern, weshalb ich so lange brauche.«

»Tampons?«

Meine Stimme muss enttäuscht geklungen haben, denn sie kicherte. Ihr Kichern klang sehr sexy. »Keine Sorge«, meinte sie. »Auf diese Weise schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Mit der Ausrede konnte ich zum Laden fahren, und gleichzeitig halte ich mir so Keith vom Leib. Ich will nicht, dass er mich heute Nacht anfasst, Joe. Nicht, wenn du so nahe bist. Ich könnte das nicht ertragen.«

Sie legte auf, und ich stand da mit dem Telefonhörer in der Hand. Ich trat auf die Straße und versuchte, mir mein Zittern nicht anmerken zu lassen. Auf dem Weg ins Hotel kehrte ich in einer kleinen Bar ein, kippte einen doppelten Bourbon und trank dann langsam das Bier zum Nachspülen.

Der Barkeeper war ein hünenhafter Mann mit breiter Stirn. Er hörte Countrymusic auf einem Transistorradio, das er hinter der Bar auf die Theke gestellt hatte. Der Song handelte von einer herzlosen Zicke, die dem Sänger furchtbaren Liebeskummer bereitete. Der Barkeeper polierte im Rhythmus seine Gläser. Zwei oder drei Burschen saßen allein da und tranken. Ein Mann und eine Frau saßen in einer Nische und tranken und kamen sich dabei immer näher.

Wie lange war es her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte? Weniger als eine Woche. Fünf oder sechs Tage. Doch selbst in so kurzer Zeit kann man eine Menge vergessen. Ich konnte mich an ihr Aussehen erinnern, wie sie sich anhörte und wie es war, sie in den Armen zu halten. Aber ich hatte fast vergessen, wie sehr ich sie brauchte.

Der Klang ihrer Stimme hatte alle Erinnerungen in mir aufleben lassen. Sie brachen mit Gewalt über mich herein.

Ich überlegte, wie ich ihn töten würde. Denn natürlich musste ich der Killer sein. Und ich würde es allein tun. Denn der Verdacht würde sofort auf sie fallen. Sie war die Hauptverdächtige, mit der sich die Bullen als Erstes beschäftigten. Ich musste dafür sorgen, dass sie ein perfektes Alibi hatte.

Ich konnte ihn zu Hause oder in seinem Büro töten. Zu Hause war es vielleicht besser. Das Morddezernat von Manhattan ist verdammt gründlich. Vielleicht war die Polizei von Westchester weniger auf Draht.

Wie sollte ich ihn töten? Mit der Pistole oder mit einem Messer? Dem berüchtigten stumpfen Gegenstand? Oder sollte ich ihm mit bloßen Händen den Hals umdrehen? Ich versuchte mich zu erinnern, ob man auf dem Hals eines Menschen Fingerabdrücke hinterlassen konnte. Ich konnte es mir nicht recht vorstellen.

Wieder begann ich zu zittern. Ich bestellte noch einmal einen doppelten Bourbon und kippte noch ein Bier hinterher. Dann ging ich zurück ins Hotel.