6
Ich betrat das Selbstbedienungsrestaurant um neun Uhr. Das Mädchen an der Kasse gab mir eine Handvoll Fünfcentstücke, und ich wanderte herum und stellte mir an New Yorks beliebtesten Spielautomaten mein Frühstück zusammen. Ich belud das Tablett mit einem Glas Orangensaft, einer gefährlich aussehenden Schüssel mit Müsli, zwei heißen Würstchen und einer Tasse schwarzen Kaffee. Dann fand ich einen Tisch, der mir gute Sicht auf den Eingang gewährte, und machte mich über mein Frühstück her.
Ich war bei der zweiten Tasse Kaffee, als sie auftauchte. Ich sah sie an, und sofort schwirrte mir der Kopf. Sie trug ein schlichtes blaugraues Sommerkleid, das vorn zugeknöpft war. Sie wirkte unschuldig und reizend, wirklich süß. Ich wartete darauf, dass sie an meinen Tisch gerannt kam und sich mir um den Hals warf.
Aber sie war so gelassen, dass ich es beinahe mit der Angst bekam. Sie sah mich an, und der Schatten eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Dann ging sie an mir vorbei, ließ sich einen Vierteldollar in Fünfcentstücke wechseln und investierte die Münzen in Kaffee und einen Donut mit Zuckerguss. Eine Weile stand sie mit dem Tablett in der Hand herum und suchte sich einen Platz. Schließlich kam sie zu meinem Tisch, stellte das Tablett ab und setzte sich.
»Das macht wirklich Spaß«, sagte sie. »Diese Mantel-und-Degen-Spielchen, meine ich. Ich übertreibe es vielleicht ein bisschen.«
Ich hatte ihr so viel zu sagen und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich steckte mir eine Zigarette zum Kaffee an und begann einfach mittendrin. »War es schwer, hierher zu kommen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich bin mit Keith im Zug gefahren. Ich habe ihm gesagt, ich wolle einkaufen. Erinnere mich daran, dass ich ein paar Dinge kaufe. Vielleicht ein Paar Schuhe oder so. Irgendetwas eben.«
»Es muss schön sein, wenn man Geld hat.«
Ich sagte das nur so dahin, vielleicht war es ein Fehler gewesen. Sie sah mich an, und in ihren Augen standen viele Dinge, die man nicht in Worte fassen kann. Natürlich war es schön, Geld zu haben. Es war auch schön, verliebt zu sein. Viele Dinge waren schön.
»Joe …«
»Ja?«
»Ich habe mir überlegt, dass wir ihn vielleicht gar nicht umbringen müssen.«
»Nicht so laut!«
»Niemand achtet auf mich. Hör zu, ich habe mir etwas anderes überlegt. Wenn es klappt, brauchen wir ihn nicht zu töten.«
»Tut er dir schon leid?«
»Nicht leid«, sagte sie.
»Was dann?«
»Vielleicht bekomme ich Angst. In New York bringen sie Mörder auf den elektrischen Stuhl. Ich … ich will nicht auf dem elektrischen Stuhl sterben.«
»Zuerst musst du verurteilt werden.«
Ihre Augen blitzten. »Du klingst, als würdest du ihn wirklich hassen«, sagte sie. »Du klingst, als wäre es dir wichtiger, ihn zu töten, als dass wir nicht geschnappt werden.«
»Und du klingst, als würdest du am liebsten einen Rückzieher machen. Vielleicht willst du das ja. Vielleicht vergessen wir die ganze Sache einfach. Du gehst deiner Wege, und ich gehe meiner Wege. Kauf dir doch so viele Schuhe, wie du willst. Und noch ein paar Pelzmäntel. Und …«
Ein Mann nahm an unserem Tisch Platz; ein alter Mann, dem die Zeit den Lebenswillen genommen hatte. Der Kragen seines sauberen weißen Hemds war abgewetzt, und es waren Flecken auf seiner breiten, gepunkteten Krawatte. Er schüttete andächtig Milch über seine Cornflakes und gab noch zwei Esslöffel Zucker dazu, während wir ihm mit offenem Mund zusahen.
»Gehen wir«, sagte ich. »Komm.«
In Manhattan gibt es immer irgendwo eine Bar gleich um die Ecke, egal wo man sich befindet. Es gab auch hier eine gleich um die Ecke, und dorthin gingen wir. Wir setzten uns in die hinterste der drei leeren Nischen. Ich hatte keinen Drink gewollt, aber jetzt brauchte ich einen. Ich ließ mir Bourbon und Eis bringen und sie sich einen Screwdriver.
»Also?«
»Du siehst das alles ganz falsch«, sagte sie. »Ich will mich nicht drücken. Für dich ist es ja nicht schwer, den Heiligen zu spielen. Du musst ja nicht mit ihm zusammenleben. Du brauchst nicht …«
»Komm zur Sache.«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink und atmete tief ein. »Das Heroin«, sagte sie. »Hast du es noch?«
Ich nickte.
»Wir könnten es nutzen«, sagte sie.
»Es verkaufen und abhauen?« Ich setzte an, um ihr noch einmal zu erklären, warum das nicht klappen würde, aber sie ließ mich nicht ausreden.
»Wir könnten es ihm unterschieben«, sagte sie. »In seinem Wagen, im Haus oder irgendwo. Dann rufst du oder ich anonym die Polizei an und geben ihnen den Tipp. Wenn sie alles durchsuchen, finden sie das Heroin und verhaften ihn.«
Irgendwo in meinem Kopf schlug eine Alarmglocke, doch ich achtete nicht darauf. »Einfach so?«, fragte ich. »Es ihm unterschieben, den Bullen einen Tipp geben und deinen Mann in den Knast schicken?«
»Warum nicht?«
»Weil es so nicht klappen kann.«
Sie sah mich an.
»Lass uns doch überlegen, was passieren würde, Mona. Die Polizei würde auf den Tipp reagieren und das Heroin finden. Dann fragen sie, wie es dorthin gekommen ist, und er wird sagen, dass er nicht die leiseste Ahnung hat. Richtig?«
Sie nickte.
»Also nehmen sie ihn fest und lochen ihn ein«, fuhr ich fort. »Man stellt ihn wegen unerlaubten Rauschgiftbesitzes unter Anklage. In zehn Minuten eist ihn ein teurer Anwalt mit einer Kaution wieder los. Zehn Monate später wird sein Fall zur Verhandlung kommen. Er plädiert auf unschuldig. Sein Anwalt macht dem Gericht klar, dass hier ein Mann ohne die geringsten Vorstrafen steht – ein Mann ohne irgendwelche Verbindungen zur Verbrecherwelt, ein angesehener Geschäftsmann, den jemand hereingelegt hat. Und er wird freigesprochen.«
»Aber das Heroin ist doch als Beweis da!«
»Na und?« Ich trank einen Schluck Bourbon. »Die Chancen stehen fünfzig zu eins, dass die Geschworenen ihn freisprechen. Und falls nicht, falls wirklich der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass sie ihn schuldig sprechen, dann geht sein Anwalt in die Revision. Und damit wird er auf jeden Fall durchkommen. Wenn nicht, wenn er selbst im Revisionsverfahren schuldig gesprochen wird – und die Chancen dafür stehen so schlecht, dass ich nie auch nur einen Cent darauf wetten würde –, dann dauert es immer noch zwei oder drei Jahre, bis er mal länger als fünf Stunden hinter einander in einer Zelle sitzt. Außerdem ist es durchaus möglich, dass er irgendwann während dieser zwei oder drei Jahre draufkommt, wer den Bullen den Tipp gegeben hat. Und dann sucht er sich einen fähigen Killer, der dir ein großes Loch in deinen hübschen Kopf schießt.«
Sie schauderte.
»Also müssen wir ihn töten.«
»Das will ich aber nicht.« Ihre Stimme war jetzt sehr leise.
»Weißt du einen besseren Weg?«
»Ich hatte gedacht … Aber du hast recht. Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen ihn … töten.«
Darauf trank ich. Ich bestellte noch einmal dasselbe für uns, und der Barkeeper brachte die Drinks; Bourbon und Eis für mich und einen Screwdriver für sie. Ich zahlte.
»Wie?«
Ich gab keine Antwort.
»Wie werden wir …?«
»Wart einen Moment«, sagte ich. »Ich versuche nachzudenken.« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. Ich schloss die Augen und versuchte, klar und in der richtigen Reihenfolge zu denken. Es war ziemlich schwierig. Brassard, Geld, Mona und Heroin jagten sich im Kreis. Es musste einen Weg geben, um alle Stücke zusammenzufügen und einen Plan zu fassen. Aber ich fand ihn nicht.
»Nun?«
Ich steckte mir eine Zigarette an und studierte ihr Gesicht, das mich verschwommen hinter der Rauchwolke anblickte. Ich legte die Zigarette in den kleinen Aschenbecher aus Glas und ergriff ihre Hände. Und plötzlich war jeder Plan völlig unwichtig. Es war wie beim ersten Mal, wie bei jedem Mal, wenn wir uns berührten. Ich glaube, elektrisch ist das richtige Wort, um das Gefühl zu beschreiben. Es war, als ob zwischen uns Funken schlugen.
Elektrisch. Ich hatte einmal gesehen, wie ein Mann ein Lampenkabel aufhob, das bis auf die Drähte durchgescheuert war. Der Strom klebte ihn und das Kabel zusammen, und er konnte nicht mehr loslassen. Die Spannung war zu niedrig, um ihn umzubringen. Er blieb an dem Kabel kleben, bis irgendein Genie den Stecker aus der Steckdose zog.
Genauso war es bei uns.
»Joe …«
»Komm, wir gehen.«
»Wohin?«
»In mein Hotel.«
»Ist das nicht gefährlich?«
Ich starrte sie an.
»Jemand könnte uns sehen«, sagte sie. »Wir gehen ein Risiko ein. Aber wir dürfen nichts riskieren.«
Sie wusste, wie sehr ich sie brauchte. Und jetzt führte sie mich an der Nase herum, spielte Spielchen mit mir. Ich sah sie an, und sie wurde vor meinen Augen zu einem Sexsymbol. Sie war nicht mehr unschuldig, reizend oder süß. Ich blickte auf das einfache Sommerkleid und sah ihre Brüste, ihren Unterleib, ihre Hüften. In ihren Augen stand nacktes Verlangen, genau wie bei mir.
»Ich gehe jetzt einkaufen«, sagte sie. »Ich kaufe mir ein Paar Schuhe, damit Keith nicht anfängt zu fragen, warum ich überhaupt in die Stadt mitgefahren bin. Inzwischen gehst du ins Hotel zurück und denkst dir einen wasserdichten Plan aus. Dann rufst du mich an und erklärst ihn mir, und dann sehen wir zu, wie wir ihn in die Tat umsetzen. Nur so gehen wir kein Risiko ein.«
»Ich scheiß auf das Risiko.«
»Aber wir können es uns nicht leisten. Wir dürfen keine Risiken eingehen. Du selbst weißt das am besten.«
Es waren nur Worte, und sie wollte eigentlich etwas ganz anderes. Ich stand auf, ohne ihre Hand loszulassen, ging auf ihre Seite der Nische und setzte mich neben sie. Unsere Augen klammerten sich aneinander.
»Joe …«
Ich legte meine Hand auf die samtweiche Haut an ihrem Hals. Ich fuhr langsam über ihre Brüste und hinunter zu ihren Schenkeln. Ich drückte sie an mich.
»Jetzt«, sagte ich, »jetzt sag noch mal, du willst kein Risiko eingehen.«
Vor der Bar stiegen wir in ein Taxi. Es waren nur drei Straßen bis zum Collingwood, aber wir hatten es zu eilig, um zu Fuß zu gehen.
Es war beinahe zu gut.
Vielleicht lag es an der Anspannung, daran, dass wir beide unbedingt etwas brauchten, das uns die Angst nahm und uns vergessen ließ, was wir so bald würden tun müssen. Vielleicht steckte auch ein Funken Moral in uns, der uns unsere verbotene Liebe so außergewöhnlich leidenschaftlich erleben ließ.
Was immer auch dafür verantwortlich war, ich war ganz und gar dafür.
Ich steckte Zigaretten für uns beide an und reichte ihr eine. Seite an Seite lagen wir da und rauchten, ohne ein Wort zu sagen. Ich war mit meiner Zigarette zuerst fertig und drückte sie aus. Sie brauchte ein paar Sekunden länger und warf den Stummel durch das offene Fenster hinaus.
»Vielleicht zünde ich damit New York an«, sagte sie. »Vielleicht brennt die ganze Stadt.«
»Vielleicht.«
»Oder vielleicht ist sie jemandem auf den Kopf gefallen.«
»Das glaube ich nicht. Vor dem Fenster ist ein Luftschacht. Dort unten läuft niemand.«
»Das ist gut«, sagte sie. »Ich möchte niemanden in Brand stecken.«
»Auch mich nicht?«
»Das ist etwas anderes.«
Ich küsste ihr Gesicht und ihren Hals. Sie legte sich lang auf den Rücken, schloss die Augen und schnurrte wie eine dicke Katze vor einem warmen Ofen. Ich streichelte sie, und sie schnurrte wieder.
»Wie, Joe?«
Und wir waren wieder da, wo wir begonnen hatten. Wieder bei dem Mord. Jetzt fiel es uns leichter, darüber zu sprechen. Vielleicht war unsere Liebe daran schuld. Vielleicht mussten wir uns erst davon überzeugen, wie sehr wir uns brauchten, um unsere Taten zu rechtfertigen.
»Joe?«
»Lass uns über Keith reden«, sagte ich. »Hat er sich in letzter Zeit irgendwie auffällig benommen?«
»Wie meinst du das?«
»Weil das Heroin verschwunden ist.«
»Ach so«, sagte sie. »In Atlantic City hat er sich über etwas Sorgen gemacht. Er ist immer noch etwas – wie soll ich sagen – ein bisschen durcheinander, meine ich.«
»Verständlich.«
Sie nickte langsam. »Aber er hat sich nicht verändert«, sagte sie. »Er läuft nicht nervös herum oder so. Er ist ganz der alte.«
»Das ist auch klar. Schließlich ist er kein Botenjunge, sondern der Chef. Er kann nur die Nachricht weitergeben, dann muss er warten, was passiert.«
»Wahrscheinlich.« Sie gähnte und streckte sich. »Also geht das Leben weiter. Er steht am Morgen auf und liest die Zeitung. Dann macht er sich an sein Kreuzworträtsel. Habe ich dir das erzählt? Er ist eine Art Kreuzworträtselfanatiker. Wenn er an einem arbeitet, ist er nicht ansprechbar. Jeden Morgen kommt die Times, dann beginnt immer das gleiche Ritual: zuerst der Wirtschaftsteil und dann das Kreuzworträtsel. Wenn er das Rätsel nicht lösen kann, macht ihm das nichts aus. Er wirft das verdammte Ding nicht weg, wie jeder andere normale Mensch. Er bleibt dabei, bis er es gelöst hat. Er schaut sogar im Lexikon nach. Hast du jemals gehört, dass einer das Kreuzworträtsel mit dem Lexikon löst? Er macht das so.«
Ich stellte ihn mir am Frühstückstisch vor, den Bleistift in der Hand, das Lexikon neben sich. Ich konnte ihn sehen, wie er nachdachte und die leeren Quadrate eins ums andere mit sauberen Buchstaben füllte. Natürlich benutzte er ein Lexikon, und natürlich gab er nicht auf, bevor er das Rätsel gelöst hatte. Das passte genau zu einem Typen wie ihm.
»Dann geht er ins Büro«, fuhr sie fort. »Montag, Mittwoch und Freitag geht er ins Büro.«
Ich sah auf. »Ich dachte, er hätte keinen festen Tagesplan.«
»Das hat er auch nicht. Manchmal arbeitet er an einem Dienstag oder einem Donnerstag, wenn er viel zu tun hat. Aber er geht fast jeden Montag, Mittwoch und Freitag ins Büro. Dann kommt er nach Hause, wir essen, und ein weiterer langweiliger Abend bei Mr. und Mrs. L. Keith Brassard nimmt seinen Lauf. Dann ist es Morgen, und ein neuer langweiliger Tag beginnt.«
»Ist heute ein langweiliger Tag?«
Sie grinste. Ihre Hand berührte mich, es war eine sehr sanfte Berührung. Ich wollte sie in die Arme nehmen.
»Nicht jetzt, Joe. Du wolltest mir den Plan erklären. Wie du ihn töten wirst.«
Wie du ihn töten wirst, nicht, wie wir ihn töten werden. Aber damals bemerkte ich den Unterschied kaum.
»Ich werde es dir nicht sagen.«
»Nein?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vertraust du mir nicht?«
Ich musste lachen. »Dir vertrauen? Wenn ich das nicht täte, wäre das alles sinnlos. Natürlich vertraue ich dir.«
»Dann sag es mir.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
Zum Teil, weil ich es selbst nicht wusste. Aber das wollte ich ihr nicht sagen. Es gab noch einen Grund, und der musste ihr für den Augenblick genügen. »Die Polizei wird dich befragen«, sagte ich zu ihr. »Über alles und jeden, immer und immer wieder. Du hast Geld, gehörst zu einer guten Familie, bist eine wichtige Person – also werden sie kein grelles Licht und keine Gummischläuche einsetzen. Nicht die klassenbewusste Polizei von Westchester. Trotzdem ist er ein reicher, alter Mann, und du bist eine hübsche Frau. Also werden sie dich verdächtigen.«
»Ich werde ein Alibi haben.«
»Was du nicht sagst.« Ich holte mir noch eine Zigarette und steckte sie an. »Natürlich wirst du ein Alibi haben. Davon werden die Bullen von Anfang an ausgehen. Sie werden denken, es ist die ganz normale Nummer: Geliebter der Frau tötet reichen Ehemann. So eine Geschichte kann man fast jeden Tag auf Seite drei in der Daily News lesen. Sie werden ganz ruhig sein und höflich, ganz wie es der Knigge verlangt. Aber sie werden auf der Hut sein. Je mehr Fragen du ehrlich mit ›Ich weiß nicht‹ beantworten kannst, desto besser für uns beide. Je weniger du weißt, desto leichter kannst du diese Antwort geben. Also sag ich dir so wenig wie möglich.«
Sie schwieg. Sie sah mich nicht an, sondern starrte auf die Wand; wenigstens sah es so aus. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie auch die Wand nicht sah, sondern durch sie hindurchblickte, hinaus ins Leere.
Ich fragte mich, was sie dort wohl sehen mochte.
»Joe«, sagte sie.
Ich wartete.
»Ich mache mir Sorgen. Ich habe versucht, vorher nicht daran zu denken. Aber du hast recht: Fast jeden Tag steht so etwas auf Seite drei in der Daily News. Sie werden mich verhören.«
»Natürlich werden sie das.«
»Und wenn ich beim Verhör zusammenbreche und rede?«
»Red keinen Blödsinn.«
»Vielleicht …«
Ich sah sie an. Sie zitterte. Es war kein gewöhnliches Zittern, aber ich sah es deutlich. Ich nahm sie in die Arme und massierte ihr den Nacken. Ich drückte sie an mich und streichelte sie, bis ich spürte, dass sie sich entspannte. Dann küsste ich sie und ließ sie los.
»Mach dir keine Sorgen, Mona.«
»Ist schon wieder in Ordnung. Ich habe nur …«
»Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Sie werden dich nicht besonders hart rannehmen. Du weißt überhaupt nichts, vergiss das nicht. Du erzählst ihnen genau das, was du mir erzählst hast, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Du weißt nicht genau, was Keith für Geschäfte macht. Soweit du das beurteilen kannst, hat er keine Feinde. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, warum jemand ihn hatte töten wollen. Du begreifst das alles nicht. Er war dein Mann, und du hast ihn geliebt. Übertreibe die Sache mit der Trauer nicht, aber reagiere ganz normal. Wahrscheinlich wird es dir wirklich ein wenig leid tun, wenn alles vorüber ist, weißt du? Das ist eine ganz normale menschliche Reaktion. Zeige sie ruhig, aber übertreibe nicht.«
Sie nickte.
»Bleib ruhig«, sagte ich. »Das ist das Wichtigste.«
»Wann?«
Ich sah sie an.
»Wann wirst du es tun?«
»Ich weiß nicht.«
»Du weißt es nicht, oder willst du es mir nicht sagen?«
Ich zuckte die Schultern. »Ein bisschen von beidem. Wahrscheinlich diese Woche. Wahrscheinlich an einem der Tage, wenn er zur Arbeit fährt.«
»In seinem Büro?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Geh nicht aus dem Haus, bis er auf dem Weg zur Arbeit ist. Verstanden?«
Sie nickte.
»Habt ihr ein Dienstmädchen oder so etwas?«
»Zwei Dienstmädchen. Warum?«
»Ich wollte es nur wissen. Bleib mit ihnen im Haus, wenn er losfährt zur Arbeit. Ist das klar?«
Ein Nicken.
»Und mach dir keine Sorgen. Das ist das Wichtigste. Wenn du ruhig bleibst, brauchst du dir um nichts in der Welt Sorgen zu machen.«
Ich drückte die Zigarette aus wie ein Insekt und dachte nach. Jetzt funktionierte mein Verstand, und die Dinge nahmen Gestalt an. Aus mir wurde eine Maschine, und das machte alles viel einfacher. Maschinen schwitzen nicht. Man legt einen Schalter um, bedient einen Hebel, und die Maschine tut das, wofür sie gebaut ist. Die Maschine namens Joe Marlin dachte jetzt nach. Mein Verstand arbeitete wie eine tickende Uhr.
»Was wir danach machen«, sagte ich, »darauf kommt es an. Wenn alles klappt, werden sie dich nicht besonders in die Mangel nehmen. Aber sie werden sich an dich erinnern. Sie werden den Mord ungelöst zu den Akten legen und den Fall offenlassen. Ich kann nicht, kaum dass er unter der Erde liegt, bei dir einziehen. Das wäre viel zu gefährlich.«
Sie schien wieder zu zittern.
»Der Skandal wird dir zu schaffen machen«, sagte ich. »Du bleibst eine Weile zu Hause, und dann gehst du zu einem Immobilienmakler. Du möchtest nicht mehr in Cheshire Point wohnen. Die Erinnerungen machen dir zu schaffen. Du fühlst dich dort nicht mehr wohl. Du möchtest weggehen und für eine Weile allein sein. Später wirst du dir dann überlegen, ob du ein anderes Haus kaufst.«
»Es ist ein schönes Haus …«
»Hör mir einfach zu, okay? Du sagst ihm, er soll das Haus mit dem ganzen Mobiliar verkaufen. Tu nicht so, als ginge es dir um das Geld. Es wird genügend Geld da sein. Sag ihm, er soll eine Anzeige für das Haus aufgeben und dafür verlangen, was er für angemessen hält. Sag ihm, es hätte keine Eile, und er soll den Preis nach seinem eigenen Gutdünken festlegen. Dann buchst du in einem Reisebüro einen Flug nach Miami.«
»Miami?«
»Ja. Du fliegst etwa eine Woche nach dem Mord nach Miami. Vielleicht nach zehn Tagen. Du wirst sehr viel Geld haben – die Lebensversicherung, Geld von seinen Sparkonten. Du fliegst erster Klasse und quartierst dich im Eden Roc ein. Du bist eine Witwe, deren Mann auf schreckliche Weise zu Tode gekommen ist. Du willst es vergessen.«
»Ich verstehe.«
Ich steckte mir noch eine Zigarette an und sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Sie war nicht dumm. Sie würde sich alles merken, was ich ihr sagte. Das war gut so. Denn wenn sie etwas vergaß, konnte es unangenehm für uns werden.
»Ich komme auch nach Miami Beach«, sagte ich. »Ich nehme mir ein Zimmer im Eden Roc. Denn gleich nach der Tat mache ich, dass ich wegkomme aus New York. Ich fahre nach Cleveland oder Chicago oder irgendwo sonst hin. Eine Woche später fliege ich nach Miami. Wir werden zwei Fremde sein, die zufällig im selben Hotel wohnen. Wir kennen einander nicht, sind an unterschiedlichen Tagen eingetroffen, kommen nicht einmal aus demselben Ort. Wir lernen uns kennen und freunden uns langsam an. Aus einer netten Bekanntschaft wird an solchen Urlaubsorten schnell mehr – und niemand dort macht sich groß Gedanken darüber. Wir unterhalten uns, verabreden uns, verlieben uns. Nichts wird uns mit Keith oder New York oder der Zeit vor Miami Beach in Verbindung bringen.«
»Ein neuer Anfang.«
»Du hast es erfasst. Und von da an tun wir, was wir wollen. Vielleicht reisen wir. Eine Weltreise. Europa, die Riviera, die ganze Tour. Wir werden zusammen sein, eine Welt voller Geld und das Leben vor uns, und wir können alles genießen.«
»Das klingt gut.«
»Das ist auch so gut, wie es klingt«, sagte die Maschine. »Und jetzt wiederhole genau, was ich dir gesagt habe.«
Ein Tonbandgerät hätte es nicht besser wiedergeben können. Ich hörte mir alles an, sprach ein oder zwei Einzelheiten noch einmal mit ihr durch. Dann sagte ich ihr, sie solle jetzt gehen. Wir standen auf und zogen uns an. Ich sah ihr zu, wie sie das unschuldige Kleid überstreifte, und hatte gute Lust, es ihr wieder herunterzureißen. Doch dafür war später noch Zeit. Viel Zeit.
Ich richtete gerade meine Krawatte, als ich sie lachen hörte. Ich drehte mich um und sah sie an. Sie war vollständig angezogen und stand neben mir. Ich musterte sie. Sie hatte sich das Haar gekämmt.
Sie blickte auf meine Füße.
»Was ist denn so komisch?«
Sie lachte immer noch. Ich blickte an mir hinunter und verstand nicht, was sie so belustigte. Meine Socken passten zueinander. Ich trug gute braune Lederschuhe, die ich erst gestern oder so hatte polieren lassen.
Sie sah auf und versuchte, ihr Lachen unter Kontrolle zu bringen. Ich fragte sie noch einmal, und sie kicherte.
»Die Schuhe«, sagte sie. »Du trägst seine Schuhe. Er lebt noch, und schon trägst du seine Schuhe.«
Ich sah die Schuhe an und dann sie. Sie hatte natürlich recht. Es waren seine Schuhe aus dem Koffer. Sie passten ausgezeichnet, und ich hatte keinen Grund, sie wegzuwerfen. Ich stand ein wenig unsicher da und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Dann fing ich auch zu lachen an. Auf eine Art war es witzig. Wir lachten, bis es nicht mehr witzig war, und dann ging ich mit ihr zur Tür.
»Du wirst Geld brauchen«, sagte sie.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Ich habe Geld zurückbehalten, seit wir aus Atlantic City zurück sind«, sagte sie. »Zuhause hatte ich auch noch welches. Ich habe es mitgebracht. Fast hätte ich vergessen, es dir zu geben. Ich weiß nicht, wie lange es reichen wird, aber du wirst schon etwas damit anfangen können.«
Sie gab mir den Umschlag. Sein Name und seine Adresse waren links oben in der Ecke aufgedruckt. Ich beschloss, den Umschlag sofort zu vernichten.
»Du rufst mich nicht noch einmal an?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und wir werden uns nicht sehen?«
»Erst wenn es vorüber ist.«
»Und wenn etwas passiert – wie kann ich dich dann erreichen?«
»Was könnte denn passieren?«
»Ein Notfall.«
Ich überlegte. »Es wird keinen Notfall geben«, sagte ich. »Und wenn, dann wird es eh nichts nützen, wenn wir miteinander in Verbindung treten.«
»Hast du Angst, dass ich dir die Polizei auf den Hals jage?«
»Red keinen Unsinn.«
»Dann …«
»Ich weiß nicht, wo ich sein werde«, sagte ich. »Und sollte wirklich etwas Unvorhergesehenes passieren, dann bringt es auch nichts, wenn du mich erreichen kannst. Tu nur, was ich dir gesagt habe. Das ist alles.«
Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Der Moment war fast peinlich.
»Also«, sagte sie, »wir sehen uns in Miami.«
Ich nickte unbeholfen und griff nach ihr. Sie fiel beinahe gegen mich, und meine Arme umfassten sie. Ich weiß nicht, ob der Kuss ein Zeichen der Liebe oder ein Vertrag war, der mit Lippenstift anstatt mit Blut besiegelt wurde. Ich ließ sie los, und wir starrten einander an.
»Es war schön heute«, sagte sie. »Es wird mir schwerfallen, einen Monat auf dich zu warten.«
Dann war sie weg. Ich blickte ihr nach und schloss die Tür. Ich setzte mich auf das Bett und riss den Umschlag auf. Ich verbrannte ihn in einem Aschenbecher, auch wenn ich mir dabei etwas melodramatisch vorkam. Die Asche spülte ich in die Toilette. Dabei fühlte ich mich noch melodramatischer. Dann zählte ich das Geld.
Es war eine ganze Menge. Über siebenhundert Dollar. Es war nicht viel, wenn man überlegte, dass ich eine Fahrkarte nach Chicago oder Cleveland und einen Flug nach Miami davon bezahlen musste. Es war nicht viel, verglichen mit den Kosten, die im nächsten Monat auf mich zukamen. Aber es waren siebenhundert Dollar. Damit konnte ich allerdings eine ganze Menge anfangen.
Dann fiel mir etwas auf. Zum zweiten Mal hatte Mona mir einen Umschlag mit Geld übergeben. Und beide Male war es gewesen, kurz nachdem wir uns geliebt hatten.
Das störte mich.