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Ich bekam das Geld ein paar Minuten nach sechs. Es war ein sehr eigenartiges Gefühl. Ich lag auf dem Bett, hatte das Licht ausgeschaltet und gab mich der leicht alkoholisierten Benommenheit hin, in die mich der Bourbon versetzt hatte. Die Klimaanlage summte leise im Hintergrund. Dann öffnete sich die Tür ein paar Zentimeter, ein Umschlag fiel auf den Boden, und die Tür schloss sich wieder.

Ich hatte nicht einmal ihre Hand gesehen. Und das machte die ganze Sache so erschreckend unpersönlich. Die Tür hatte sich von selbst geöffnet, der Umschlag war aus dem Nichts hereingeflattert, und die Tür hatte sich wieder geschlossen. Es waren keine lebenden Wesen an dem Vorgang beteiligt gewesen.

Ich hob den Umschlag auf, schüttelte den Inhalt auf die eine Seite und riss ihn auf. Darin waren Zehner, Zwanziger und Fünfziger. Ich zählte das Geld zweimal und kam beide Male auf eine Summe von dreihundertundsiebzig Dollar.

Ich verstaute die Scheine in der Brieftasche und warf den Umschlag in den Abfallkorb. Mit einem Mal wurde mir die Absurdität der Situation klar, und ich fiel auf das Bett und mühte mich, nicht laut loszulachen. Es war so komisch, aber gleichzeitig war es alles andere als komisch. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und brüllte hinein wie eine Hyäne.

Wenn es nicht um Mona ginge, wäre alles ganz einfach. Ich würde ein glückliches Lächeln aufsetzen, aus dem Hotel gehen und mit dreihundertundsiebzig hart verdienten Dollars in der Tasche einen Zug nach Nowheresville besteigen. So betrachtet war es die einfachste und gleichzeitig raffinierteste Abzocke, die ich in meinem Leben durchgezogen hatte. Leicht und easy, ohne Probleme.

Nur, dass das hier keine Abzocke war. Ich hatte das Geld auf einem silbernen Tablett überreicht bekommen, nun konnte ich die Hotelrechnung bezahlen und meine Karten richtig ausspielen. Ich würde nach New York fahren und dort auf sie warten. Ich weiß nicht, ob das wirklich witzig ist, jedenfalls kriegte ich mich fast nicht mehr ein vor Lachen.

Als ich nicht mehr lachen konnte, duschte ich, rasierte mich und ging ins Hotel nebenan, um zu Abend zu essen. Niemand geht ins Hotel nebenan, um zu Abend zu essen. Entweder isst man in seinem eigenen Hotel oder man geht in ein Restaurant. Genau darauf spekulierte ich, denn ich wollte weder mit Mona noch mit Keith zusammentreffen. Dazu war ich noch nicht bereit.

Das Dinner war wahrscheinlich ganz gut. Die Küche in großen Hotels ist verlässlich, wenn auch nicht gerade phantasievoll. Ein Steak verderben sie nie, und das hatte ich bestellt. Aber trotzdem schmeckte mir das Abendessen nicht. Ich dachte über die beiden nach, dass sie jetzt zusammen waren, und statt nach Fleisch war mir nach Mord zumute. Während des ganzen Essens brannte meine Zigarette, und ich achtete mehr auf sie als auf das Steak. Dann saß ich lange da und starrte in meinen Kaffee. Als ich ihn schließlich trinken wollte, war er lauwarm und schmeckte scheußlich. Ich ließ ihn stehen und ging ins Kino.

Wenn der Film auf persisch und mit chinesischen Untertiteln versehen gewesen wäre, hätte ich auch nicht mehr davon mitbekommen. An die Story kann ich mich überhaupt nicht erinnern, nicht einmal an den Titel. Ich war im Kino, damit die Zeit schneller verging, das war alles. Ich blickte auf die Leinwand, doch ich sah nichts. Stattdessen überlegte ich, schmiedete Pläne. Nennen Sie es, wie Sie wollen.

Am liebsten wäre ich sofort aus Atlantic City verschwunden. Mich noch hier aufzuhalten war ein Risiko, das mit jeder Minute, die ich in dieser scheußlichen Stadt verbrachte, größer wurde. Und da ich beschlossen hatte, meine Zimmerrechnung wirklich zu bezahlen, war jeder zusätzliche Tag ein Kostenfaktor, den ich mir eigentlich nicht leisten konnte. Monas Beitrag zu meinem Wohlbefinden, zusammen mit dem bisschen Geld, das mir selbst noch geblieben war, machte etwas mehr als vierhundert Dollar aus. Das Sümmchen schmolz schneller zusammen, als mir lieb war.

Aber ich konnte noch nicht abreisen. Ich musste mir meinen Mann ansehen, diesen L. Keith Brassard. Ich musste den Feind kennen, ehe ich entscheiden konnte, wie und wann und wo ich ihn töten würde.

Der Film war zu Ende, und ich ging ins Hotel zurück. Die Uferpromenade war etwas weniger belebt als gewöhnlich, doch es war immer noch genauso laut und hektisch. Ich blieb einen Augenblick stehen und sah einem Straßenverkäufer zu, der seinem Publikum erklärte, dass man zehn Jahre länger leben konnte, wenn man Gemüse in einer patentierten Gemüsepresse ausquetschte und den Dreck trank, der übrig blieb. Ich sah ihm zu, wie er ein Stück Kohl durch die Maschine trieb. Es begann mit einem ganzen Kohlkopf. Dann machte sich die Presse über ihn her. Der Verkäufer kippte die schwammigen Überreste in einen Abfalleimer und hob dann voll Stolz ein Glas mit übel aussehendem Gemüsesaft an seine Lippen. Er leerte das Glas in einem Zug und lächelte breit.

Ich fragte mich, ob man das gleiche mit einem Menschen tun konnte, ihn in eine patentierte Fruchtpresse stecken, alle Säfte aus ihm herausquetschen, dann den Abfall in einen Eimer kippen und den Deckel zuklappen.

Ich ging weiter und trank an einem Saftstand ein Glas Piña Colada. Ich fragte mich, wie man es herstellte. Plötzlich drängte sich mir ein erschreckendes Bild auf, wie eine Ananas und eine Kokosnuss Hand in Hand in eine patentierte Fruchtpresse hineintanzten; eine Art vegetarischer Selbstmordpakt. Ich trank die Piña Colada aus und ging ins Hotel.

Ein Mann kam heraus, gerade, als ich eintrat. Ich sah ihn nur ganz kurz von der Seite, aber etwas an ihm kam mir bekannt vor. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Doch mir fiel nicht ein, wo oder wann das gewesen war oder wer er sein mochte.

Er war klein, dunkelhaarig und dünn. Sein volles Haar war ordentlich frisiert, er trug es ziemlich lang. Sein schwarzer Schnurrbart war sorgfältig gestutzt. Er war gut gekleidet und ging mit schnellen Schritten.

Aus irgendeinem Grund hoffte ich inständig, dass er mich nicht erkannt hatte.

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder.

Ich wachte gegen zehn auf, zog mir Freizeithosen und ein offenes Hemd an und ging zum Frühstücken hinunter. Ich war am Verhungern und verschlang Waffeln, Würstchen und zwei Tassen schwarzen Kaffee, ehe ich richtig merkte, dass ich mit dem Essen begonnen hatte. Dann steckte ich mir die erste Zigarette des Tages an und ging hinaus, um auf den Mann zu warten.

Ich ging auf die Hotelterrasse, auf der ich mir am ersten Abend einen Drink genehmigt hatte. Ich fand einen Tisch unter einem Schirm. Er war so nahe an der Promenade, dass ich einen guten Überblick hatte, doch niemand würde mich bemerken, wenn er nicht speziell nach mir Ausschau hielt. Der Kellner kam, und ich bestellte schwarzen Kaffee. Zum Trinken war es noch etwas zu früh, obgleich die übrigen Gäste darüber offenbar anderer Meinung waren. Ein Typ, der aussah, als würde er Damenunterwäsche vertreiben, und eine abgetakelte Brünette tranken Daiquiris um die Wette und schienen einen Mordsspaß dabei zu haben. Die fangen früh an, dachte ich. Oder vielleicht waren sie noch von der Nacht zuvor in Schwung. Ich achtete nicht mehr auf sie und sah auf die Promenade hinunter.

Und hätte sie doch beinahe verpasst.

Nach einem Tag in Atlantic City achtet man nicht mehr auf die Rollstühle, die über die Promenade geschoben werden. Sie gehören zum Stadtbild, und auf den Gedanken, dass jemand, den man kennt, in einem sitzen könnte, kommt man einfach nicht. Wie alle übersah ich die Rollstühle und konzentrierte mich auf die Fußgänger. Wäre mir nicht plötzlich ein blonder Schopf aufgefallen, hätte ich sie nicht bemerkt. Doch wegen des Blondschopfs sah ich ein zweites Mal hin. Sie waren es.

Er war klein, fett und er war alt. Und er war durch und durch der ehrliche Staatsbürger aus Westchester. Jetzt verstand ich, wie er Mona hatte so täuschen können. Manche ehrlichen Leute sehen wie Gauner aus, und manche Gauner wie ehrliche Leute. Er gehörte zur zweiten Kategorie.

Er hatte ein festes, ehrliches Kinn und einen ehrlichen Mund mit schmalen Lippen. Seine Augen waren wasserblau. Das konnte ich selbst von meinem Platz aus erkennen. Sein Haar war weiß. Nicht grau, sondern weiß. Weißes Haar hat etwas sehr Respekt einflößendes an sich.

Ich blickte dem nett aussehenden, ehrlichen, alten Mann nach, bis sie vor dem Shelburne stehen blieben und er sich aus dem Rollstuhl erhob. Dann trank ich meinen Kaffee und fragte mich, wie wir den Mann wohl umbringen könnten.

»Noch einen Kaffee, Sir?«

Ich blickte hoch zu dem Kellner. Ich hatte noch keine Lust, weiterzugehen, aber ich wollte auch keinen Kaffee mehr.

»Nein, jetzt noch nicht.«

»Aber natürlich, Sir. Möchten Sie vielleicht etwas essen? Ich habe hier die Speisekarte.«

Entweder man scheißt oder man räumt die Toilette, eine andere Wahl lassen einem die Burschen nicht. Ich wollte nichts essen, und ich wollte keinen Kaffee. Folglich sollte ich zahlen und verschwinden. Es standen fünfzig leere Tische auf dieser Terrasse, doch offensichtlich waren sie erst zufrieden, wenn einundfünfzig leer waren.

»Einen Martini«, sagte ich müde. »Extra trocken mit Zitrone.«

Er verbeugte sich und verschwand. Kurz darauf erschien er wieder mit dem Martini. Es gab zwei Oliven anstatt der üblichen einen, und er hatte an die Zitrone gedacht, was die meisten nicht tun. Vielleicht wollte er sich mit mir anfreunden.

Ich weiß nicht, warum ich den Drink bestellte. Normalerweise wäre ich jetzt gegangen. Ich wollte keinen Drink, ich wollte nichts essen, und ich wollte keinen Kaffee. Und Brassard hatte ich bereits gesehen. Diese Faktoren, verbunden mit meiner Abneigung für die Terrasse und den Kellner, hätten ausreichen sollen, damit ich sofort verschwand.

Aber ich ging nicht. Und so bekam ich L. Keith Brassard noch einmal zu sehen, diesmal länger und gründlicher.

Ich weiß nicht, wann er auf die Hotelterrasse gekommen war. Ich blickte irgendwann auf, und da saß er, drei Tische von mir entfernt. Ein Kellner stand neben ihm. Mein Kellner. Ich sah ihn von der Seite, und auch aus der Nähe wirkte er vollkommen respektabel.

Ich saß da und kam mir verdammt auffällig vor. Am liebsten hätte ich eine Zeitung gehabt, hinter der ich mich verstecken konnte. Ich wollte den Mann nicht ansehen. Es gibt diesen alten Trick: Man starrt jemanden eine Weile durchdringend an, dann fängt der Betreffende an, unruhig zu werden und dreht sich schließlich um und blickt zurück. Das hat nichts mit Telepathie oder so zu tun. Wahrscheinlich sieht man es irgendwie aus den Augenwinkeln, wenn man angestarrt wird.

Ich war überzeugt, wenn ich Brassard jetzt anstarrte, würde er sich umdrehen und mich ansehen. Doch dazu durfte es nicht kommen. Ganz gleich, wie wir es in New York anstellten, ich hatte einen großen Vorteil: Ich kannte ihn, und er kannte mich nicht. Das war eine Trumpfkarte, und ich hatte nicht die geringste Lust, sie schon hier in Atlantic City zu verlieren.

Folglich ließ ich mir Zeit mit meinem Drink und sah nur hin und wieder zu ihm hinüber. Je länger ich ihn beobachtete, desto härter wirkte er auf mich. Man muss im Innern schon sehr hart sein, wenn man es mit einem so harmlosen Äußeren im Rauschgiftgeschäft zu etwas gebracht hat. Als Gangster hat man viel schneller Erfolg, wenn man wie ein Gangster aussieht. Je mehr man dem Klischee aus Hollywood entspricht, desto schneller wird man akzeptiert. Wenn man nach Wall Street aussieht, dann wird man in der Mulberry Street nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Einen so harten Mann umzulegen, war keine einfache Sache.

Ich aß die erste Olive, als Brassard Gesellschaft bekam. Ein Mann wie er saß nicht einfach so ohne einen guten Grund auf der Terrasse herum und trank Kaffee. Und dieser Grund tauchte jetzt auf. Er war klein und dünn und gut gekleidet und er trug sein langes Haar sorgfältig gekämmt und hatte einen kleinen, gepflegten schwarzen Schnurrbart. Es war der Mann, den ich am Abend zuvor vor dem Shelburne gesehen hatte. Jetzt erinnerte ich mich auch, woher ich ihn kannte.

Beinahe wäre ich an meiner Olive erstickt.

Er hieß Reggie Cole. Er arbeitete für einen Mann namens Max Treger, er und halb New Jersey. Treger war ein weiser, alter Mann, der eine sichere und nicht näher zu definierende Position an der Spitze von allem einnahm, was in New Jersey auf der unsauberen Seite des Gesetzes geschah. Treger kannte ich nur seinem Ruf nach. Reggie Cole war ich einmal vor vielen Jahren auf einer Party begegnet. Reggie war damals noch unwichtig gewesen, aber die Jahre und Max Treger hatten es gut mit ihm gemeint. Reggie war aufgestiegen. Er saß jetzt an der rechten Seite Gottes, wenn man den Gerüchten vertrauen durfte.

Und jetzt saß er an der rechten Seite von L. Keith Brassard. Ich bekam ihn dadurch von vorn zu sehen, und das machte mir Sorgen. Seit jenem kurzen Zusammentreffen war viel Zeit vergangen, dennoch hatte ich ihn erkannt. Und er hatte allen Grund, sich an mich zu erinnern. Ich hatte ihm ein Mädchen weggeschnappt. Das Mädchen war eine Schlampe, und es hatte ihm damals wahrscheinlich nicht besonders viel ausgemacht. Aber sicherlich hatte er es nicht vergessen.

Ich wartete darauf, dass er aufblickt und mich sah. Aber er und Brassard waren beschäftigt. Sie sprachen schnell und ernsthaft miteinander, und ich hätte einiges darum gegeben, wenn ich ihr Gespräch hätte hören können. Es war leicht zu erraten, worum es ging. Brassard hätte eine Ladung Heroin abliefern sollen, die ausreichte, um ganz New Jersey für eine ziemlich lange Zeit high zu kriegen. Aber der Stoff war auf wundersame Art und Weise verschwunden. Grund genug für ein ernsthaftes Gespräch, würde ich sagen.

Ich schluckte die zweite Olive hinunter. Dann legte ich ausreichend Geld für den Martini, den Kaffee und den Kellner auf den Tisch und schob den Schein unter das leere Glas, damit der Wind ihn nicht wegblasen konnte.

Gerade, als ich aufstehen wollte, hob sich der dunkle Kopf, und kleine Augen sahen mich an. Ein kurzer, verwirrter Blick – wahrscheinlich hatte ich ihn gestern Abend genauso angesehen. Ein vages, entferntes Erkennen lag in dem Blick. Er erinnerte sich an mich, wusste aber nicht, woher.

Beim nächsten Mal würde es ihm einfallen. Ich hoffte, das Gespräch mit Brassard war so wichtig, dass er nicht weiter über mich nachdachte.

Ich stand auf und bemühte mich, langsam zu gehen. Ich wandte den beiden den Rücken zu und schritt davon. Hoffentlich sahen sie mir nicht nach. Mein Hemd klebte schweißnass an meinem Rücken, als ich das Shelburne erreichte. Dabei war nicht einmal ein besonders warmer Tag.

 

Es hatte keinen Sinn, länger hier zu bleiben. Ich hatte schon mehr bekommen, als ich erhofft hatte: einen Blick auf ihn und eine Andeutung, wer seine Kumpane waren. Soweit ich es mir zusammenreimen konnte, war Brassard mit einer Lieferung Heroin nach Atlantic City gekommen. Er war kein Botenjunge, es war sein Heroin, gekauft, bezahlt und bereit zum Wiederverkauf. Niemand würde ihm vorwerfen, er hätte den Stoff unterschlagen oder sonst wie beiseite geschafft. Seine einzige Sorge war der finanzielle Verlust.

Wenn hier jemand schlecht aussah, dann war es Max Treger. Aus Brassards Sicht konnte ihn nur jemand bestohlen haben, der wusste, was er bei sich trug. Treger war unter Seinesgleichen dafür bekannt, dass man sich auf sein Wort verlassen konnte. Aber bei diesem Deal ging es um so viel Kohle, dass Brassard ihn zweifellos trotzdem verdächtigte. Hoffentlich machte er einen höllischen Aufstand deswegen, sodass jemand ihm aus lauter Wut ein paar Löcher in den Kopf schoss. Das würde mir eine Menge Arbeit ersparen.

Aber dazu würde es wahrscheinlich nicht kommen. In ein paar Tagen würde Brassard Treger davon überzeugt haben, dass er mit Heroin nicht Verstecken spielte. Treger wiederum würde Brassard überzeugt haben, dass er viel einträglichere Geschäfte kontrollierte und es nicht nötig hatte, vergleichsweise kleine Diebstähle durchführen zu lassen. Dann würden die beiden Clowns ihre kriminellen Köpfe zusammenstecken und daraufkommen, dass ein Unbekannter im Spiel war. Und dann würden sie anfangen, diesen Unbekannten zu suchen, und spätestens dann würde es für mich sehr ungemütlich werden.

Ich wollte abhauen, aber es war zu früh. Am meisten Probleme bereitete mir das verdammte Gepäck. Die Koffer waren ganz normale Koffer, aber man würde sie erkennen, ganz besonders dann, wenn nach ihnen gesucht wurde. Es war mir völlig egal, ob jemand sich in einer Woche an die Koffer erinnerte. Dann saß ich schon sicher in New York und hatte meine Spuren so gut wie möglich verwischt. Aber ich musste auf alle Fälle vermeiden, dass jemand die Koffer erkannte, so lange ich mich noch in Atlantic City befand.

Ich rief von meinem Zimmer aus beim Bahnhof an und erfuhr, dass jeden Morgen um sieben Uhr dreißig ein Zug nach Philly ging. Am Nachmittag fuhr auch noch einer, aber der Morgenzug war viel sicherer. Morgens um halb acht schlafen alle noch, so wie es sich gehört. Niemand würde Verdacht schöpfen, wenn ich um diese Zeit aus dem Hotel auscheckte, was eher der Fall wäre, wenn ich, sagen wir, um vier Uhr früh einen Zug erwischen wollte. Je weniger Leute meine Koffer sahen, wenn ich das Hotel verließ, desto sicherer fühlte ich mich. Und wenn ich Brassard nicht noch einmal über den Weg lief, war ich glücklich.

Mitten am Nachmittag rief ich bei der Rezeption an und bat, man möge mich um sechs Uhr früh am nächsten Morgen wecken. Wahrscheinlich war man dort ziemlich verblüfft, dass der Weckruf nicht erst abends in Auftrag gegeben wurde. Dann rief ich den Zimmerservice an und bestellte wieder eine Flasche Jack Daniels. Den Nachmittag und Abend verbrachte ich leicht benebelt vom Alkohol. Ich ließ mir Zeit mit dem Whiskey, ich hatte nichts Besseres vor, als die Flasche gemütlich zu leeren. Allerdings hatte ich keineswegs die Absicht, mich bis über beiden Ohren zuzudröhnen. Also ließ ich mir Zeit und achtete darauf, dass ich immer das richtige Quantum intus hatte. Als ich müde wurde, kippte ich noch ein paar Gläser hintereinander, damit ich schneller einschlafen konnte. Was ich dann auch sofort tat.

Meine Augen waren im gleichen Augenblick offen, als das Telefon klingelte. Ich war sofort hellwach. Diesmal drehte ich zuerst die Salzwasserdusche auf und anschließend die eiskalte normale Dusche. Ich brauchte drei kleine Handtücher, bis ich trocken war.

Ich zog mich an und ging hinunter. Diesmal stand ein anderer Mann hinter der Theke, aber er war ebenso eilfertig wie sein Kollege. Er machte nicht die geringsten Schwierigkeiten. Als er mir meinen Aktenkoffer reichte, bekam er dafür mein nettestes Lächeln. Den ganzen Weg durch die Halle zum Lift und die viel zu vielen Stockwerke hoch zu meinem Zimmer hatte ich das Gefühl, als starre mindestens die Hälfte der Englisch sprechenden Welt auf meinen Aktenkoffer.

Ich versuchte sogar, ihn zu öffnen. Dann fiel mir ein, dass ich den Koffer verschlossen und den Schlüssel weggeworfen hatte. Es war wirklich zu blöd. Schließlich konnte ich keinen von Brassards Koffern zurücklassen. Wenn ich den Aktenkoffer aufkriegen würde, könnte ich das Heroin in einen der Koffer tun und den leeren Aktenkoffer verschwinden lassen. So musste ich nun drei Koffer tragen. Am Anfang meiner Reise war das kein Problem. Aber später, wenn ich Züge wechseln musste, könnte es schwierig werden.

Ich packte meine Sachen und auch alle Sachen von Brassard in seine zwei Koffer. Da ich praktisch nichts dabei gehabt hatte, war das nicht besonders schwierig. Dann ging ich wieder in die Halle hinunter und ließ mir von einem Pagen die Koffer zum Taxi tragen, das wie immer neben dem Hotel auf Passagiere wartete. Ich selbst ging zur Rezeption.

Der Empfangschef drückte seine Hoffnung aus, dass mir der Aufenthalt gefallen hatte.

»Eine herrliche Stadt«, versicherte ich ihm, ohne bei der Lüge rot zu werden. »Die Erholung hatte ich wirklich nötig. Ich komme mir wie ein neuer Mensch vor.«

Der letzte Satz stimmte sogar.

»Geht’s jetzt wieder nach Hause?«

»Zurück nach Philly«, sagte ich. Ich hatte bei meiner Ankunft als Wohnsitz eine gute Adresse in der Nähe des Rittenhouse Square angegeben.

»Besuchen Sie uns wieder.«

Ich nickte. Hoffentlich wartete er nicht auf mich, denn dabei konnte er alt werden. Viel würde ich nicht darauf wetten, dass ich noch einmal im Shelburne abstieg.

Ich ging zum Seitenausgang hinaus. Das Taxi stand dort mit meinem Gepäck im Kofferraum. Ich gab dem Boy einen Dollar und hoffte, dass er schon wieder vergessen hatte, wie die Koffer aussahen.

Auf dem Bahnhof kaufte ich mir eine Fahrkarte bis nach Philadelphia. Ich trug mein Gepäck selbst zum Zug. Einfach war es nicht, drei Gepäckstücke über den Bahnhof zu tragen, ohne dass es seltsam wirkte. Doch irgendwie schaffte ich es. Der Schaffner kam, nahm meine Fahrkarte und wies mich in ein Abteil nach Philadelphia. Ich lehnte mich zurück, und der Zug stampfte an Egg Harbor und Haddonfield vorbei. Dann waren wir schon in Philadelphia-Nord, und ich stieg aus. Ich und meine drei kleinen Koffer. Ich erinnerte mich an die Geschichte von Benjamin Franklin, wie er als junger Mann mit einem Laib Brot unter jedem Arm und einem dritten im Mund durch die Straßen von Philadelphia gerannt war. Ich konnte mir genau vorstellen, wie er ausgesehen hatte. Hoffentlich hatte sich Philly inzwischen schon an so einen Anblick gewöhnt.

Ich wollte mich freuen, weil ich aus Atlantic City weggekommen war, aber ich brachte nicht den nötigen Enthusiasmus auf. Ich war ohne Probleme, ohne Schweißausbrüche, ohne Unvorhergesehenes abgereist. Wer würde sich schon an einen adretten jungen Mann mit drei Koffern erinnern? Wen würden Brassards Männer befragen? Die Fahrgäste auf dem Weg zur Arbeit? Die Schaffner?

Kein Problem.

Wenn sich irgendein schlauer Kopf den Zusammenhang zwischen L. Keith Brassard und Leonard K. Blake zusammenreimte, konnte er vielleicht meine Spur bis zum Bahnhof verfolgen, vielleicht sogar den Angestellten finden, der sich an die Fahrkarte nach Philly erinnerte, die er mir verkauft hatte. Aber niemand auf der Welt würde auf den Gedanken kommen, dass ich nach New York gefahren war.

Kein Problem.

In weniger als drei Minuten hatte ich den Zug verlassen, war die Treppe hinunter und durch die Unterführung gerannt und befand mich auf dem Bahnsteig gegenüber. Dort wartete ich höchstens fünf Minuten, bis der Zug nach New York einfuhr. Ich stieg ein. Ich verstaute die Koffer im Gepäcknetz und machte es mir bequem. Als der Schaffner kam, kaufte ich eine Fahrkarte nach Boston. Das war nicht nötig, wirklich nicht. Aber ich wollte absolut auf Nummer sicher gehen.

Das klingt wie ein Spionagefilm. Robert Mitchum im Trenchcoat.

Ich dachte an Mona und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich sie wieder sah. Ich dachte an unser erstes Mal am Strand und an die beiden Male im Hotelzimmer. Ich dachte daran, wie sie sich bewegte, und die Dinge, die sie mit ihren Augen anstellte.

Natürlich hatte sie mit Robert Mitchum und seinem Trenchcoat recht. Ich übertrieb. Wir brauchten uns keine Sorgen zu machen. Ich war unterwegs nach New York und hatte nicht die geringste Spur hinterlassen. Brassard war hinter dem Falschen her, dem er den Heroindiebstahl anhängen konnte. Wir hatten das große Los gezogen.

Jetzt mussten wir ihn nur noch umlegen, ohne dabei erwischt zu werden.