2
Ein paar Minuten stand ich da und kam mir vor wie ein Idiot. Ich hatte an der Bahnstation mehr als eine Garderobe mitgehen lassen, ich hatte ein Vermögen gestohlen. Was mochte das Heroin wert sein? Ich hatte keine Ahnung. Hundert Riesen, eine Viertelmillion, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Ich wusste es nicht, und ich wollte auch nicht darüber nachdenken.
Ich konnte das Zeug nicht behalten. Ich konnte es auch nicht verkaufen oder zurückgeben. Wenn L. K. B. mich je damit fand, würde er mich umbringen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn die Bullen das Zeug bei mir entdeckten, würden sie mich einsperren und den Schlüssel mitten im Chinesischen Meer versenken.
Ich konnte es wegwerfen. Aber haben Sie jemals versucht, hundert Riesen oder eine Viertelmillion wegzuwerfen?
Ich legte den Deckel auf die Kassette und suchte nach einer Lösung, was ich tun sollte. Verstecken konnte ich das Zeug nicht. Wer so große Mengen Heroin mit sich herumträgt, ist kein Anfänger. Wenn solche Typen ein Zimmer durchsuchen, finden sie, was sie haben wollen. Wenn L. K. B. und seine Kumpane herausfanden, dass ich der Dieb war, dann war das Heroin in meinem Zimmer nicht mehr sicher. Und ich musste das Zeug behalten. Vielleicht war es mein Ass, die einzige Trumpfkarte, die mein Leben retten konnte, falls sie mich entdeckten. Ich konnte ein Geschäft damit machen.
Aber für den Augenblick brauchte ich ein Versteck. Die üblichen Orte verwarf ich gleich, diese offensichtlichen Stellen, wo echte Profis immer zuerst nachsehen: der Wasserkasten hinter der Toilette, das Bett, der Fenstersims außen. Ich schob die Kassette unter die Kommode und versuchte, nicht mehr an sie zu denken.
Dann zog ich mich schnell an und verließ das Hotel. Zwei Straßen entfernt von der Uferpromenade auf der Atlantic Avenue in der Nähe der Tennessee Street fand ich den Laden, nach dem ich Ausschau gehalten hatte. Ich ging hinein und erstand für etwas über zwanzig Dollar einen guten Aktenkoffer. Er war sehr gut verarbeitet. Ich hatte nicht gewusst, dass man diese Qualität auch außerhalb der Madison Avenue bekam.
Ich trug den Koffer ins Hotel zurück, kaufte mir am Zeitungsstand in der Halle ein paar lokale Zeitungen und ging in mein Zimmer. Die kleine Kassette mit den aufgefeilten Scharnieren stand immer noch unter der Kommode. Ich holte sie hervor, schlug sie fest in das Zeitungspapier ein, sodass sie nicht aufgehen konnte, und legte sie in den Aktenkoffer. Dann zerknüllte ich das restliche Papier und stopfte es rundherum, damit nichts klapperte. Ich verbrauchte alle Zeitungen, klappte den Koffer zu und schloss ihn ab. Ich nahm mir vor, den Schlüssel wegzuwerfen. Im richtigen Augenblick konnte ich den Koffer immer noch aufbrechen. Aber den Schlüssel wollte ich nicht bei mir haben.
Zum Test hob ich den Koffer ein paarmal hoch. Er war nicht zu schwer und nicht zu leicht. Alles Mögliche konnte darin sein.
Dann ging ich wieder in die Halle hinunter und trug den Koffer an die Rezeption. Der Mann dahinter wartete geduldig, während ich den Koffer hochhob und ihn auf die Theke legte.
»Ob Sie mir wohl einen Gefallen tun könnten?«, fragte ich. »Ich habe hier ein paar wichtige Verkaufsmuster für meine Präsentation. Außer mir kann niemand etwas damit anfangen, aber am Ende stiehlt mir noch jemand den Koffer, ohne zu wissen, was drin ist. Die Firma würde toben. Könnten Sie den Koffer wohl für mich in den Safe stellen?«
Das konnte er natürlich und tat es auch. Er wollte mir eine Quittung ausstellen, aber ich schüttelte den Kopf.
»Die verlier ich doch bloß«, sagte ich. »Ich vertraue Ihnen, keine Sorge. Den Koffer hole ich wieder ab, wenn ich auschecke.«
Ich gab ihm einen Dollar und verließ den Mann mit einem Safe voll Heroin.
Ich hatte Zeit und musste über einiges nachdenken. Ich verließ das Hotel und ging auf der Uferpromenade spazieren. Es war noch schlimmer als vor drei Jahren. An jeder Ecke standen Hotdog- und Saftwagen, überall waren billige Spielhöllen, Bingohallen, Schaustellerbuden und glitzernde Souvenirshops. Auch Sex war zu haben. Die echten Prostituierten hielten sich in den Bars in den Seitenstraßen auf, aber die Amateurkonkurrenz trat einem alle paar Meter auf die Zehen. Junge Mädchen, die zu zweien, dreien und vieren auf der Promenade auf und ab gingen. Falsche Blondinen, Fünfzehn-, Sechzehn-, Siebzehnjährige mit durchsichtigen Blusen und knallengen Jeans, das Make-up zu dick und der Hüftschwung zu ausgefeilt. Victory Girls, die noch nicht kapiert hatten, dass der Krieg seit über fünfzehn Jahren vorbei war.
Die Jungs waren da, weil die Mädchen da waren. Sie spielten ein Spiel, das so alt ist wie die Menschheit. Die Jungs wollten eine rumkriegen. Die Mädchen wollten sich rumkriegen lassen, doch es sollte nicht so aussehen, als seien sie leicht zu haben, ein hoffnungsloses Unterfangen, denn sie sahen immer wie Flittchen aus. Die Jungs stellten sich ungeschickt an und die Mädchen noch ungeschickter. Aber irgendwie kamen sie doch immer zusammen, fanden irgendwo einen Ort, an dem sie herumknutschen und ungeschickten Sex haben konnten. Die Mädchen wurden schwanger, und die Jungen holten sich einen Tripper.
Auf einer Hotelterrasse mit Blick auf den Strand standen Drinks in hohen Gläsern auf Tischen, über denen Sonnenschirme schwebten. Ich setzte mich in den Schatten eines Schirms an einen leeren Tisch, bis ein Kellner mich fand, meine Bestellung aufnahm und kurz darauf mit einem großen, kühlen Wodka Collins zurückkam. Es gab einen farbigen Strohhalm dazu, und ich schlürfte den Drink wie ein Kind seine Limonade. Ich steckte mir eine Zigarette an und lehnte mich im Stuhl zurück. Im Kopf legte ich alle Fakten nebeneinander und versuchte, eine Lösung zu finden.
Wenn ich irgendwelche Beziehungen zum Rauschgifthandel gehabt hätte, wäre es leichter. Vor einer Weile hatte ich ein paar Aufträge für einen Mann namens Marcus erledigt. Reine Botengänge: Holen Sie das ab, schaffen Sie es dorthin und geben Sie es dem und dem. Ich hatte Marcus seit Jahren nicht mehr gesehen und wusste nicht, wo er steckte. Wahrscheinlich erinnerte er sich gar nicht mehr an mich.
Also war es unmöglich, das Zeug zu verkaufen.
Meine andere Verbindung war L.K. B. Ich kannte ihn nicht, doch ich hatte so eine Ahnung, dass ich ihn mit Leichtigkeit ausfindig machen konnte. Er war am gleichen Tage wie ich angekommen und hatte wahrscheinlich bereits ein Zimmer in einem Hotel bezogen. Ich musste nur die Ankunftslisten der sechs besten Hotels der Stadt durchsehen. Irgendein Gast hatte sicherlich seine Initialen, und das war mein Mann. Ich konnte mit ihm Verbindung aufnehmen – aus der Ferne natürlich –, ihm einen Handel vorschlagen und ihm sein eigenes Zeug zurückverkaufen.
Vielleicht klappte es. Vielleicht kostete es mich aber auch den Kopf. Im besten Fall fielen ein paar Tausender für mich ab, ein Bruchteil dessen, was das Zeug eigentlich wert war. Und den Rest meines Lebens konnte ich darauf warten, dass mir jemand ein Messer in den Rücken stieß.
Das gefiel mir gar nicht.
Ich nahm einen Schluck von meinem Drink. Ein Mann mit einem Mädchen am Arm schlenderte vorbei. Zwei alte Damen in Rollstühlen wurden von einem gelangweilten Angestellten vorbeigeschoben. Eine Gruppe der leichten Mädchen kam vorbei, sie starrten mich kurz an, entschieden, dass ich zu alt war, und zogen mit wippenden Hüften weiter.
Ich beschloss, gar nichts zu unternehmen. Im Augenblick konnte mir nichts passieren. So, wie die Dinge standen, konnte es schlimmstenfalls dazu kommen, dass ich aus dem Hotel abhauen und die Kassette mit Heroin zurücklassen musste. Wenn alles klappte, würde ich mit der Kassette verschwinden und sie ein paar Jahre aufbewahren, bis die Sache in Vergessenheit geraten war. Bis dahin hatte ich sicher einen Weg gefunden, um den Inhalt zu verkaufen, in kleinen Rationen natürlich, um nicht aufzufallen.
In der Zwischenzeit gab es Mona. Ich dachte über sie nach. Um Mitternacht würde sie am Strand auf mich warten. Bei dem Gedanken an sie vergaß ich fast das Heroin.
Ich warf einen Dollar für den Drink auf den Tisch und noch etwas Kleingeld für den Kellner und ging. Zwei Straßen weiter entdeckte ich ein gutes Restaurant, wo man mir ein ausgezeichnetes, blutiges Steak und rabenschwarzen Kaffee servierte. Danach ging ich ins Kino.
Der Film war lausig; ein historisches Epos mit dem Titel Trommeln hinter den Bergen. Hübsche Mädchen und blitzende Degen, alles in Technicolor-Cinemascope, Menschen, die sich auf spektakulär heroische Weise umlegen ließen. Den größten Teil des Films verschlief ich. Kurz nach zehn verließ ich das Kino und ging zurück zum Hotel.
Hinter dem Hotel entdeckte ich den Tunnel, der zum Strand führte und lief unter der Promenade hindurch. Eine Landungsbrücke führte von der Uferpromenade bis ins Meer, und ich hielt mich in ihrem Schatten auf, damit mich niemand vom Hotel aus sehen und mich darauf hinweisen konnte, dass ich eigentlich gar nicht am Strand sein dürfte. Es war ohnehin eine dumme Vorschrift. Aber Atlantic City war so eine Stadt, nur dass hier diese Vorschriften mit der Stoppuhr in der Hand eingehalten wurden. Der Strand wurde abends geschlossen, die Swimmingpools in den Hotels machten ebenfalls dicht. Die Welt wurde nachts zusammengeklappt und verschwand. Wer unter Schlaflosigkeit litt, wurde verrückt in Atlantic City. Selbst die Fernsehshows waren um ein Uhr zu Ende.
Der Strand war leer. Ich ging bis zum Wasser und sah den Wellen zu. Das Meer hat dieselbe hypnotische Kraft wie Flammen in einem Kamin. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gestanden und den Wellen zugesehen hatte, ohne einen Muskel zu bewegen oder an etwas zu denken. Ich erinnere mich, dass der Wind kalt war, aber das machte mir nichts aus.
Schließlich gab ich mein Spiel auf, entfernte mich ein paar Schritte vom Wasser, zog mein Jackett aus und machte mir ein Kissen daraus. Es war noch früh. Sie kam erst gegen Mitternacht. Wenn sie überhaupt kam. Ich fragte mich, ob ich wohl umsonst auf sie wartete.
Ich streckte mich im Sand aus und legte den Kopf auf das Jackett. Dann schloss ich die Augen und entspannte mich, schlief aber nicht ein. Ich döste nur ein wenig vor mich hin.
Ich war mit den Gedanken bei etwas anderem, deshalb hörte ich sie kaum. Doch als ich die leisen Schritte im Sand vernahm, wusste ich, dass sie es sein musste. Ich lag reglos da und lauschte, wie sie näher kam.
»Sie schlafen auch immer«, sagte sie. »Schlafen die ganze Zeit. Und jetzt machen Sie sich auch noch Ihren Anzug schmutzig. Besonders klug ist das nicht von Ihnen.«
Ich schlug die Augen auf. Sie trug ein einfaches rotes Kleid und war barfuss. Das Mondlicht fiel auf ihren Körper, und der Anblick raubte mir fast den Atem.
»Wir können uns darauf legen. Sie können sich meinetwegen den Anzug verderben, aber ich mag es nicht, wenn mein Kleid voller Sand ist.«
Jetzt erst bemerkte ich, dass sie eine Decke dabei hatte. Ich grinste.
»Wollen Sie nicht aufstehen?«
Ich stand auf und sah sie an. Sie wollte etwas sagen, ließ es aber bleiben. Ihr Mund war leicht geöffnet. Auch ich brachte keinen Ton heraus. Es lag eine eigenartige Spannung in der Luft, etwas, das wir beide nicht hätten beschreiben können. Wir konnten uns jetzt nicht über Belanglosigkeiten unterhalten. Ich wusste es, und sie wusste es ebenfalls.
Ich trat einen Schritt auf sie zu. Sie hielt mir die Decke hin. Ich nahm zwei Enden und trat etwas zurück. Wir breiteten die Decke auf dem Sand aus, richteten uns auf und sahen einander wieder an. Die elektrische Spannung war immer noch da.
Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht. Ich weiß, dass es ihr ebenso erging. Es war, als stünde eine Wand zwischen uns, die nur Berührungen, aber keine Worte durchdringen konnte. Zuerst mussten wir die Wand niederreißen. Dann war immer noch genügend Zeit zum Reden.
Ich zog mein Hemd aus der Hose. Ich knöpfte es auf, streifte es ab und ließ es in den Sand fallen. Ich wandte mich zu ihr, und sie kam näher, streckte die Hand aus und berührte meinen nackten Oberkörper.
Dann drehte sie sich um und bat mich, den Haken des Kleids zu öffnen.
Der Haken am Halsausschnitt ihres Kleides machte mir Mühe. Meine Finger funktionierten nicht richtig. Schließlich schaffte ich es. Ich zog den Reißverschluss ganz auf bis zu ihren Hüften, berührte dabei aber ihre Haut nicht.
Sie machte eine kleine Bewegung, und das Kleid fiel von ihren Schultern.
»Den BH, Lennie.«
Ich nahm ihr den BH ab. Er war schwarz. Ich erinnere mich, wie mich der Kontrast zwischen dem schwarzen BH und der bleichen Haut erregte. Dann drehte ich mich um und zog den Rest meiner Kleider aus.
Als ich mich ihr wieder zuwandte, waren wir beide nackt. Ich sah sie von oben bis unten an. Bei ihrem Gesicht fing ich an und ließ meine Augen herunterwandern über ihre Brüste, die Taille, die Hüften, bis zu ihren nackten Füßen. Dann wanderten meine Augen langsam wieder empor, suchten ihren Blick.
Keine Worte.
Wir gingen aufeinander zu, bis unsere Körper sich berührten. Ich schloss sie in die Arme und presste ihren süßen Leib an mich. Die lächerlichen Stimmen von tausend Menschen schwebten von der Promenade zu uns herüber wie Worte aus einem sinnlosen Traum. Die Wellen hinter uns brachen sich am Strand.
Sie küsste mich.
Dann sanken wir gemeinsam auf die Decke und vergaßen die Welt.
Ich lag auf der Seite und blickte über den Strand auf das Meer hinaus. Es war fast Vollmond, das Licht glitzerte auf dem Wasser. Neben mir lag ihr Slip, ein Hauch aus schwarzer Seide im Sand. Ich beobachtete die Wellen und lauschte ihrem Atem.
Ich fühlte mich sehr seltsam, gleichzeitig ungeheuer schwach und wahnsinnig stark. Ich erinnerte mich, warum ich ursprünglich nach Atlantic City gekommen war, und mir fiel ein, was ich all die vielen Jahre lang getrieben hatte. Alles kam mir dumm und kindisch vor. Zusammenhanglos kam mir Mrs. Ida Lister in den Sinn. Auch mit ihr hatte ich in Atlantic City geschlafen. Nicht am Strand, sondern in einem luxuriösen, voll klimatisierten Hotelzimmer. Nicht weil ich es wollte, sondern weil sie die Rechnungen bezahlte.
Es war alles so dumm gewesen. Nicht falsch, nicht unmoralisch. Nur dumm. All die Jahre, in denen ich vor Hotelrechnungen davongelaufen war, immer am Rande der Legalität, immer auf der Suche nach der einen ganz großen Chance, die alles ändern würde.
Irgendwie hatte ich sie jetzt bekommen, diese Chance. Zum ersten Mal konnte ich klar sehen. Die Dinge lagen jetzt vollkommen anders.
»Lennie …«
»Ich weiß«, sagte ich.
»Es war …«
»Ich weiß, Mona. Für mich auch.«
Ich drehte mich um, schaute sie an. Ihr Körper war nicht derselbe. Vorher war er etwas gewesen, das ich begehrte, etwas, das ich in seine Bestandteile zerlegte – in Brüste, Hüften, Schenkel, Bauch und Po, etwas, das ich abschätzen und bewerten konnte. Jetzt war es ihr Körper. Der Körper eines Menschen, mit dem ich geschlafen hatte. Dieser Körper war sie.
»Ich kann nicht mehr lange bleiben.«
»Warum nicht?«
»Keith. Er wird sich fragen, wo ich bin. Nicht, dass es ihn wirklich interessiert, aber er will es sicher wissen.« Ihre Stimme klang sehr bitter.
»So heißt er? Keith?«
Sie nickte.
»Wie lange seid ihr schon verheiratet?«
»Fast zwei Jahre. Ich bin fünfundzwanzig. Im September sind es zwei Jahre, seit wir geheiratet haben. Damals war ich dreiundzwanzig.«
Sie klang, als wäre ihr gerade klar geworden, dass sie nie mehr dreiundzwanzig sein würde.
»Warum hast du ihn geheiratet?«
Ihr Lächeln war alles andere als glücklich. »Geld«, sagte sie. »Und aus Langeweile. Und weil man mit dreiundzwanzig nicht mehr achtzehn ist. Und aus all den anderen Gründen. Warum heiraten hübsche Mädchen reiche, alte Männer? Du weißt die Antwort ebenso wie ich.«
Ich fand eine Packung Zigaretten in der Jackentasche. Sie waren zerdrückt. Ich zog eine heraus, bog sie gerade und bot sie ihr an. Sie schüttelte den Kopf. So steckte ich sie mir an und rauchte eine Weile schweigend.
»Und jetzt gehst du zu ihm zurück?«
»Das muss ich.«
»Und was dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann werden wir uns jetzt also ein, zwei Wochen lang hier am Strand treffen, immer um Mitternacht«, sagte ich. »Und jede Nacht gehst du zu ihm zurück. Dann reist ihr beide ab, und du vergisst mich.«
Sie erwiderte nichts.
»Wird es so sein?«
»Ich weiß nicht.«
Ich zog an der Zigarette. Sie schmeckte mir nicht, und ich vergrub sie im Sand.
»So etwas ist mir noch nie zuvor passiert, Lennie.«
»So etwas?«
»Wir.«
»Also lassen wir es dabei bewenden.«
»Ich weiß nicht, Lennie. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Früher hab ich alle Antworten gewusst. Und jetzt hat jemand ganz andere Fragen gestellt.«
Ich verstand genau, was sie damit meinte.
Ihre Stimme klang jetzt wie aus weiter Ferne. »Wir haben ein Haus in Cheshire Point«, sagte sie. »Es steht auf einem zwei Hektar großen Grundstück mit alten Bäumen, es ist voller wertvoller Möbel. Meine Kleider kosten Geld. Ich besitze einen Zobelmantel, einen Hermelinmantel und eine Chinchillastola. Mit Nerz gebe ich mich erst gar nicht ab. Nur damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie reich Keith ist.«
»Wie hat er es verdient?«
Sie hob die Schultern. »Er ist ein Geschäftsmann. Sein Büro ist in der Chambers Street. Ich weiß nicht, womit er handelt. Er geht ein paar Mal in der Woche ins Büro. Er spricht nie von seinen Geschäften, Geschäftspost kommt nicht nach Cheshire Point und er bringt sich auch nie Arbeit mit nach Hause. Er sagt, er kauft Dinge ein und verkauft sie wieder. Mehr erzählt er darüber nicht.«
»Und was tut ihr beide, wenn ihr zusammen Spaß haben wollt?«
»Ich … ich weiß nicht.«
»Habt ihr viele Freunde? Menschen, die euch wichtig sind? Feiert ihr Partys? Bridgepartien am Samstagabend? Grillfeste mit Steaks im Garten?«
»Hör auf damit, Lennie!«
»Gehst du mit ihm zurück nach Cheshire Point? Teilst das Bett mit ihm, bekommst Kinder von ihm und gibst sein Geld aus? Wirst du …«
»Hör auf!«
Ich hörte auf. Ich wollte nach ihr greifen, sie in meine Arme nehmen und ihr sagen, dass alles gut werden würde. Aber ich glaubte es selbst nicht.
»Jetzt hätte ich gerne eine von deinen Zigaretten, Lennie.«
Ich holte zwei heraus, strich sie gerade und gab ihr eine. Die andere behielt ich selbst. Dann zündete ich ein Streichholz an und hielt es in der hohlen Hand. Sie kam näher, damit ich ihr Feuer geben konnte. Ich blickte auf ihren Kopf hinab und dachte, wie schön sie doch war. Ich beneidete Keith, dann wurde mir klar, dass er sicher mich beneidete. So ist es immer.
»Es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten«, sagte sie. Sie sprach mit sich selbst, nicht mit mir. »Nur eine einmalige Sache. Es ist geschehen, weil wir beide bereit dafür waren, und es war wirklich gut. Aber es hat nichts zu bedeuten. Ich werde dich vergessen und du mich. In einer Woche erinnern wir uns schon nicht mehr. Es hat nichts zu bedeuten.«
»Glaubst du das wirklich?«
Für einen Moment schwieg sie, dann sagte sie bitter: »Nein, natürlich nicht. Nein, das glaube ich nicht.«
»Würdest du ihn verlassen?«
Sie lächelte. »Ihn würde ich sofort verlassen. Aber du meinst etwas anderes. Du willst wissen, ob ich sein Geld verlassen würde.«
Ich sagte gar nichts.
»Hast du Geld, Lennie?«
»Fünfzig Dollar, vielleicht hundert.«
Sie lachte. »So viel gibt er für seine Huren aus.«
»Wofür braucht er denn eine Hure? Er hat doch dich.«
Mir wurde erst klar, was ich eigentlich sagte, als ich meine Worte hörte. Ihr Gesicht fiel in sich zusammen. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie leise. »Er braucht keine Hure. Er hat eine geheiratet.«
»So hab ich es nicht gemeint. Ich …«
»Aber es stimmt doch.« Sie holte tief Luft, drückte dann die Zigarette im Sand aus und richtete sich auf. »Ich kann ihn nicht verlassen, Lennie. Ich habe all das Geld, und das kann ich nicht mehr aufgeben. Das würde nicht klappen.«
Ich sagte immer noch nichts.
»Zwei Jahre«, sagte sie. »Warum habe ich dich nicht vor zwei Jahren kennengelernt? Warum?«
»Wäre es denn damals anders gewesen?«
»Sehr anders«, sagte sie. »Geld ist etwas Komisches, nicht wahr? Ich bin nicht so geboren worden, Lennie. Ich hätte ohne Geld leben können. Die meisten Leute schaffen das. Wenn ich dich kennengelernt hätte, ehe ich Keith traf …«
»Und wenn diese Decke Flügel hätte, könnten wir fliegen.«
»Oder wenn sie ein fliegender Teppich wäre«, sagte sie. »Aber begreifst du nicht, was ich sagen will? Jetzt hab ich mich ans Geld gewöhnt. Ich weiß, wie es ist, wenn man welches hat. Ich weiß, wie es ist, wenn man alles tun und kaufen kann, was man will. Ich könnte nicht wieder so leben wie früher.«
»Wie war es denn früher?«
»Es war nicht schlimm«, sagte sie. »Ich war nicht arm. Wir sind nicht verhungert. Wir hatten ein eigenes Haus und mussten uns nie Sorgen machen, ob wir genug zu essen bekommen. Aber wir hatten nie Geld übrig. Du weißt doch, was ich meine.«
Natürlich wusste ich es. Und ich fragte mich, ob ich sie wirklich überzeugen wollte, alles aufzugeben und mich zu heiraten? Damit wir Hand in Hand verhungern konnten? Um in einem Reihenhaus irgendwo in Yahooville Kinder aufzuziehen? Ich sah mich Sandwiches mit zur Arbeit nehmen, damit ich bei der Bank, bei der Finanzierungsgesellschaft und bei tausend anderen Leuten meine Schulden abstottern konnte. Wofür? Für ein Mädchen, das nicht einmal meinen richtigen Namen kannte?
Aber ich hörte mich sagen: »Es könnte klappen. Wir könnten es schaffen, Mona.«
Sie sah mich an, und ihre Augen glänzten. Sie wollte etwas sagen, tat es aber dann nicht. Ich fragte mich, was sie mir hatte sagen wollen.
Stattdessen stand sie auf und begann, sich anzuziehen. Ich sah ihr dabei zu.
»Ich lass die Decke hier«, sagte sie. »Das Hotel wird sie nicht vermissen. Es würde doch komisch aussehen, wenn ich mit einer Decke ins Hotel komme.« Jetzt sah sie mich an. »Ich muss los«, sagte sie. »Ich muss wirklich los.«
»Sehen wir uns wieder?«
»Willst du mich denn wieder sehen?«
Das wollte ich.
»Ich … ich melde mich bei dir. Irgendwie. Aber jetzt muss ich los.«
»Zu Keith.«
»Zu Keith«, wiederholte sie. »Zurück zu meiner Rolle als seine Frau. Mrs. L. Keith Brassard.«
Ich hörte sie kaum. Ich schaute ihr nach, als sie an der Landungsbrücke entlang den Strand hoch schritt. Bewunderte wieder diesen perfekten Gang, halb Hure, halb Dame. Ich folgte ihr mit den Augen und dachte über sie und über mich nach. Ich fragte mich, was mit uns beiden geschehen war und welche Konsequenzen diese Nacht am Strand für uns haben würde.
Sie hatte schon beinahe die Uferpromenade erreicht, als mir ihre letzten Worte wieder einfielen. Ich drehte fast durch, als mir klar wurde, wer ihr Mann war.
L. Keith Brassard.