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Ich faltete die Decke akkurat zusammen, bis sie ein kleines Kissen von der Größe fünfzig mal fünfzig Zentimeter war. Dann setzte ich mich darauf und blickte aufs Meer hinaus. Ich wollte ins Wasser hinausrennen und wie ein Verrückter schwimmen, bis ich irgendwo ankam, wo nicht mehr Atlantic City war.
Er ist ein Geschäftsmann. Sein Büro ist in der Chambers Street. Ich weiß nicht, womit er handelt.
Inzwischen war sie sicher wieder im Hotel, nahm den Lift hoch zu ihrem Zimmer. Ich fragte mich, wo ihr Zimmer wohl liegen möge. Vielleicht war sie sogar im selben Stockwerk wie ich untergebracht.
Er geht ein paar Mal in der Woche ins Büro. Er spricht nie von seinen Geschäften, Geschäftspost kommt nicht nach Cheshire Point, und er bringt sich auch nie Arbeit mit nach Hause. Er sagt, er kauft Dinge ein und verkauft sie wieder. Mehr erzählt er darüber nicht.
Ich fragte mich, ob er ihr von den verschwundenen Koffern erzählt hatte. Von dem Heroin wusste sie nichts, das war offensichtlich. Dass man ihm die Koffer gestohlen hatte, hatte für sie keine weitere Bedeutung. Ein Mann, der ihr einen Zobelmantel, einen Hermelinmantel und eine Chinchillastola geschenkt hatte, konnte zweifellos den Inhalt zweier Koffer verschmerzen, ohne dadurch in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Ein Mann, der im Luxus von Cheshire Point lebte, konnte es sich leisten, sich ein paar zusätzliche Anzüge und eine neue Garnitur Unterwäsche zu kaufen.
Ich dachte über ihn nach, über sie und über mich. Wir waren alle etwas Besonderes. L. Keith Brassard, ein Import-Export-Händler, der einen neuen Dreh gefunden hatte. Ein bedeutender Mann im Rauschgifthandel mit einer hübschen Frau an seiner Seite für die perfekte Fassade. Mona Brassard. Meine Kehle wurde trocken und meine Handflächen feucht – ihr Liebreiz ergriff mich, sodass ich für einen Moment keine Luft bekam. Sie wollte mich, und sie wollte Geld. Ich hatte keine Ahnung, wie zum Teufel sie uns beide haben konnte.
Und Joe Marlin. So hatte ich geheißen, bevor ich meinen Name in David Gavilan änderte, um dann zu Leonard K. Blake zu wechseln. Und vor vielen anderen Namen. Haben Namen etwas zu besagen? Bisher hatten sie mir nichts bedeutet.
Aber aus irgendeinem verdammten Grund wollte ich, dass sie mich Joe nannte.
Wir waren schon tolle Hechte, Dave und Lennie und ich. Wir hatten das weiße Pulver und die schöne Frau. Von niemandem abhängig, keine Verpflichtungen. Wir hatten alles, nur keine Zukunft.
Ich rauchte eine Zigarette, bis sie mir auf den Lippen brannte, und warf den Stummel ins Meer. Dann versteckte ich die Hoteldecke unter dem Landungssteg und ging zurück.
In meinem Zimmer griff ich zum Telefon und bestellte beim Zimmerservice eine Flasche Jack Daniels, einen Eimer mit Eiswürfeln und ein Glas. In einem Sessel wartete ich, dass etwas passierte. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, und das Zimmer war auf dem besten Weg, sich in einen Eisschrank zu verwandeln.
Es klopfte an der Tür. Der Page, ein drahtiger Bursche mit wieselflinken Augen, stellte die Flasche Bourbon und den Eiskübel auf die Kommode und überreichte mir die Rechnung. Ich zeichnete sie ab und gab ihm einen Dollar.
Wenn man von seinen Augen absah, wirkte er wie ein Student, der in den Sommerferien jobbt. Aber seine Augen wussten zu viel.
»Danke«, sagte er. Und dann: »Ich kann Ihnen besorgen, was Sie wollen. Fragen Sie nach Ralph.«
Er ging, und ich beschäftigte mich mit meinem Jack Daniels.
Ich warf zwei Eiswürfel in ein Glas und goss drei Fingerbreit Bourbon darüber. Während das Eis den Whiskey kühlte, lehnte ich mich im Sessel zurück und dachte nach. Dann nahm ich meinen Drink. Er war weich wie Seide. Auf dem Etikett der Flasche stand, dass sie ihn durch Holzkohle oder so etwas filterten. Was auch immer sie mit dem Bourbon anstellten, es funktionierte.
Ich trank ein zweites Glas und rauchte. Der Whiskey lockerte mich auf, bis mein Verstand wieder zu arbeiten begann, nach Antworten suchte und dabei neue Fragen fand.
Ich sollte packen, aus dem Hotel auschecken, sie vergessen. Aber ich wusste genau, wenn ich jetzt ging, würde ich sie nie wieder finden – und auch keine andere wie sie. Vorher hatte ich gut ohne sie leben können. Aber jetzt musste ich sie haben. Wie hatte sie es ausgedrückt?
Aber begreifst du nicht, was ich sagen will? Jetzt habe ich mich ans Geld gewöhnt. Ich weiß, wie es ist, wenn man welches hat. Ich weiß, wie es ist, wenn man alles tun und kaufen kann, was man will. Ich könnte nicht wieder so leben wie früher.
Ich hatte sie gehabt – einmal – und ich hatte mich an sie gewöhnt. Ich wusste, wie es war, sie zu haben, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden. Liebe? Ein seltsames Wort, dessen Bedeutung sich ständig änderte. Ich kam mir vor wie in einem Popsong.
Aber ich konnte nicht mehr so leben wie früher.
Sie hatte recht, und ich hatte recht – nur die Welt war die falsche. Wir brauchten einander, und wir brauchten das Geld. Falls es einen Weg gab, beides zu bekommen, wusste ich nicht, wo ich ihn finden sollte. Ich suchte ihn auf dem Grund des Glases, aber da war er nicht. Ich füllte das Glas aufs Neue und sparte mir diesmal das Eis. Der Whiskey schmeckte auch ohne Eis gut.
Ich hatte das Heroin. Ich konnte es nach New York mitnehmen, dort meine alten Verbindungen wieder erneuern und es dann an den Höchstbietenden verkaufen. Vielleicht klappte es. Vielleicht würde das Geld ausreichen, um uns weit fort von L. Keith Brassard zu bringen. Vielleicht war es genug, um das Land zu verlassen – Südamerika oder Spanien oder die italienische Riviera. Wir konnten eine lange Zeit von dem Geld leben. Wir konnten ein Boot kaufen und darauf wohnen. Früher hatte ich einmal Segeln gelernt. Es gibt nichts Vergleichbares. Man fährt los mit dem Boot und verliert sich zwischen einer Million kleiner Inseln, irgendwo auf der Welt – Inseln, wo es immer warm, wo die Luft sauber und rein ist. Überall konnten wir hingehen.
Doch wir durften niemals zurückkehren, uns niemals umdrehen.
Denn wir konnten ihm nicht entkommen. Er war kein gewöhnlicher Ehemann, kein aufrechter Bürger aus Westchester mit Freunden, die wie er das Gesetz achteten. Jemand, der so viel Heroin bei sich trug, hatte andere Verbindungen. Die Nachricht würde sich schnell in den richtigen Kreisen verbreiten. Eine inoffizielle, aber nicht minder verlässliche Summe würde als Kopfgeld für einen bestimmten Mann und eine bestimmte Frau ausgeschrieben werden. Und irgendwann würde jemand irgendwo einen zweiten Blick auf uns werfen. Wir konnten davonlaufen, aber wir konnten uns nicht ewig verstecken.
Lange konnten wir das nicht durchhalten. Zuerst würden wir uns noch mehr ineinander verlieben. Doch dann würden wir jeden Tag, immer, wenn wir allein waren, länger über die Männer nachdenken, die hinter uns her waren. Es würde nicht über Nacht geschehen – manchmal würden wir die Männer sogar vergessen können. Aber immer würde wieder etwas passieren, dass uns bewusst machte, dass sie uns immer noch verfolgten. Und wir würden wieder davonlaufen.
Und dann würden sich die Dinge zwischen uns langsam verändern. Sie würde sich daran erinnern, dass sie einmal Mrs. L. Keith Brassard gewesen war und mit ihrem Hermelinmantel, ihrem Zobelmantel und ihrer Chinchillastola in Cheshire Point gelebt hatte, in dem großen, soliden Haus mit den schweren Möbeln und all den Kreditkarten. Sie würde sich daran erinnern, wie es war, wenn man keine Angst hatte, und sie würde feststellen, dass sie, ehe sie mich kennengelernt hatte, nie Angst gehabt hatte. Doch jetzt hatte sie immer Angst, und jeden Tag nahm die Angst zu. Von diesem Augenblick an würde sie beginnen, mich zu hassen.
Und ich würde mich an ein unkompliziertes Leben erinnern, in dem ich einfach die Stadt verließ, wenn es Schwierigkeiten gab. Ein Leben, in dem die größte Bedrohung ein aufmerksamer Hotelmanager und das größte Problem die nächste Mahlzeit gewesen war. Ich würde ihren schönen Körper betrachten und dabei an den Tod denken, einen langsamen und unangenehmen Tod, weil seine Männer Experten für so etwas waren. Und dann würde auch ich sie zu hassen beginnen.
Ich konnte nicht sie und das Geld haben; nicht auf diese Weise. Wieder leerte ich mein Glas, dachte darüber nach und kam nicht weiter. Es musste einen Weg geben, doch ich sah keinen.
Die Flasche war halb leer, als mir die Lösung einfiel. Es war der einzige Weg. Ein anderer wäre vielleicht eher daraufgekommen, doch mein Gehirn bewegt sich in ganz bestimmten Bahnen, und das hier war unbekanntes Terrain für mich. Deshalb brauchte ich eine halbe Flasche Jack Daniels, bis mir der Gedanke kam.
Brassard konnte sterben.
Allein schon die Vorstellung jagte mir eine panische Angst ein, und ich kippte in rascher Folge noch zwei Drinks, zog mich aus und ging ins Bett. Ich schlief fast augenblicklich ein. Vielleicht war der Alkohol daran schuld. Ich weiß es nicht. Vielleicht schlief ich ein, weil ich Angst hatte, wach zu bleiben.
Ich träumte, aber es war einer jener Träume, die man sofort vergisst, wenn man aufwacht. Das Klopfen an der Tür weckte mich, und der Traum entglitt mir. Ich öffnete langsam die Augen. Ich hatte keinen Kater und fühlte mich wohl. Das heißt, mit ein paar Stunden mehr Schlaf hätte ich mich wirklich gut gefühlt.
Wieder klopfte es.
»Wer ist da?«
»Das Zimmermädchen.«
»Lassen Sie mich in Frieden.« Ein tolles Hotel, in dem einen die Zimmermädchen mitten am Morgen aufwecken. »Kommen Sie nächstes Jahr wieder.«
»Bitte öffnen Sie, Mr. Blake …«
»Gehen Sie zum Teufel! Ich bin müde.«
Die Stimme senkte sich zu einem verführerischen Flüstern. »Lennie«, sagte sie, »bitte, mach auf.«
Einen Augenblick dachte ich, mein Traum wäre zurückgekehrt. Dann sprang ich aus dem Bett und hüllte mich in ein Laken. In ihrer weißen Baumwollbluse und der seegrünen Wanderhose wirkte sie kühl und frisch. Sie kam sofort herein, und ich schloss die Tür hinter ihr.
»Du bist verrückt«, sagte ich, »hierher zu kommen. Aber das weißt du natürlich.«
»Ja, ich weiß.«
»Er hätte dich sehen können. Er fragt sich bestimmt, wo du bist. Besonders clever war das nicht von dir.«
Sie lächelte. »Du siehst ziemlich bescheuert aus«, sagte sie. »Eingehüllt in dieses Laken wie ein Araberscheich. Hast du noch geschlafen?«
»Natürlich. Es ist ja mitten in der Nacht.«
»Mitten am Tag, meinst du.«
»Wie spät ist es denn?«
»Beinahe Mittag«, sagte sie. »Und er hat mich auf keinen Fall gesehen. Er ist heute früh schon fort. Geschäfte, hat er gesagt. Irgendetwas Unerwartetes. Selbst in Atlantic City macht er noch irgendwelche Geschäfte. Die Arbeit ist wichtiger als alles andere. Immer.«
Ich wusste, was für Geschäfte er in Atlantic City abwickelte. Eine ganze Kassette voller Geschäfte, die einfach verschwunden waren.
Sie verzog den Mund. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Das weißt du doch.«
»Du siehst aber nicht so aus, als ob du dich freust. Du hast mich noch nicht einmal geküsst.«
Ich gab ihr einen Kuss, und sofort kam alles zurück. Alles. Und es war wie in der Nacht am Strand. Sie war eine dieser Frauen, bei denen schon ein einziger Kuss genügt, um die Emotionen einer ganzen Nacht heraufzubeschwören.
»So ist’s besser.«
»Viel besser.«
Mit eindeutiger Absicht zog sie die Bluse und die Wanderhosen aus und kickte ihre Schuhe unter mein Bett. Sonst trug sie nichts. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen.
Ihre Augen lachten. »Du dummer Mann«, sagte sie. »Dieses blöde Laken brauchst du doch nicht, oder?«
Da hatte sie recht.
Viel später schlug ich die Augen auf. Sie hatte sich zusammengerollt wie ein schlafendes Kätzchen, und ihr blondes Haar lag wirr auf dem Kissen. Ich strich mit der Hand über ihren Körper, von der Schulter bis zur Hüfte. Sie rührte sich nicht.
Ich griff nach den Zigaretten auf dem Nachttisch, fand ein Streichholz und steckte mir eine an. Als ich sie wieder ansah, hatte sie die Augen geöffnet.
Sie lächelte.
»Weißt du, du bist wirklich fantastisch.«
Sie lächelte noch mehr.
»Ich werde dich vermissen.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Lennie …«
Ich wartete.
»Erinnerst du dich an das, was ich dir am Strand gesagt habe? Dass ich das Geld nicht aufgeben könnte?«
Ich erinnerte mich.
»Ich habe heute etwas herausgefunden. Hier. Mit dir.«
Ich wartete immer noch.
»Ich … ich kann das Geld immer noch nicht aufgeben.«
Die Zigarette schmeckte nicht richtig. Ich nahm noch einen Zug und musste husten.
»Aber ich kann dich auch nicht aufgeben, Lennie. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich möchte das Geld, und ich möchte dich. Und ich kann nicht beides zusammen haben. Ich bin ein verwöhntes, kleines Mädchen. Ich kann überhaupt nichts. Ich weiß nur, was ich möchte.«
Ich kannte die Antwort, und ich wusste, dass ich Angst hatte, sie vor ihr auszusprechen. Aber die Würfel waren gefallen. Ich konnte nicht sehen, was für eine Zahl das Schicksal uns zugeteilt hatte, ob wir genügend Punkte oder nichts in der Hand hatten. Doch wie dem auch sein mochte, das Schicksal nahm seinen Lauf. Die Dinge waren nicht mehr zu ändern.
»Wie alt ist Keith?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Fünfzig«, sagte sie. »Vielleicht auch fünfundfünfzig. Ich weiß nicht. Ich habe ihn nie gefragt. Dumm, nicht wahr? Ich weiß nicht einmal, wie alt mein Mann ist. Fünfzig oder fünfundfünfzig, ungefähr. Warum?«
»Ich habe nur nachgedacht.«
Sie sah mich an.
»Ich meine, er ist kein junger Mann mehr, Mona. Männer in seinem Alter haben nicht mehr allzu viele Jahre vor sich.«
Mehr sagte ich nicht, sondern ließ den Satz mitten in der Luft hängen. Sie bemühte sich, keinerlei Regung in ihrem Gesicht zu zeigen. Sie schaffte es nicht ganz. Auf eine Art war es erschreckend. Wir waren einander ein wenig zu ähnlich. Wir hatten uns beide dasselbe überlegt. Inzwischen denke ich, dass es wahrscheinlich so sein musste.
»Vielleicht ist sein Herz nicht mehr so gut«, fuhr ich fort, redete um den heißen Brei herum. »Vielleicht fällt er eines Tages um, und alles ist vorbei. Das passiert jeden Tag, weißt du? Es könnte ihm auch passieren.«
Sie wiederholte, was wir beide am Strand gesagt hatten. »Wenn dieses Bett Flügel hätte, könnten wir davonschweben, Lennie. Oder wenn es ein fliegender Teppich wäre. Sein Herz ist vollkommen in Ordnung. Er geht dreimal im Jahr zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen. Vielleicht hat er Angst vor dem Sterben. Ich weiß es nicht. Dreimal im Jahr geht er zum Arzt, verbringt den ganzen Tag dort und lässt sich von Kopf bis Fuß durchchecken. Er war erst vor einem Monat dort. Körperlich ist er in bester Verfassung. Er hat noch vor mir damit angegeben.«
»Trotzdem könnte er einen Infarkt bekommen. Auch ein ganz gesundes Herz kann …«
»Lennie.«
Ich hielt inne und sah sie an.
»Es geht hier doch gar nicht um einen Herzinfarkt. Du meinst doch etwas ganz anderes.«
Ich sagte nichts.
»Du meinst, er könnte einen Unfall haben. Das meinst du doch, oder?«
Ich nahm einen Zug von der Zigarette. Ich schaute ihr direkt in die Augen und versuchte, all die verschiedenen Dinge unter einen Hut zu bekommen. Wenn es überhaupt möglich war, dann nicht für mich. Die Dinge waren zu unterschiedlich, sie passten einfach nicht zueinander.
»Ich wollte, wir wären nicht wir«, sagte sie jetzt. »Ich wollte, wir wären andere Menschen. Andere Menschen würden so schlimme Dinge nicht einmal denken. Und was wir denken, ist schlimm.«
Dazu sagte ich lieber nichts.
»Ich liebe ihn nicht, Lennie. Vielleicht liebe ich dich. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich bei dir sein möchte und nicht bei ihm. Aber er ist … ein guter Mann, Lennie. Er ist gut zu mir. Er ist nicht gemein oder grausam oder böse oder …«
Er war ein Drogendealer im großen Stil, führte ein imposantes Import-Export-Geschäft, nur dass er illegale Ware importierte. Er war der Big Boss in einem reizenden Geschäft, das Schulkinder dazu brachte, Raubmorde zu begehen, um sich das nötige Geld für ihre Sucht zu beschaffen. Er war ein Top Player in einem Spiel, dass mehr Leid über die Menschheit gebracht hatte als all die anderen reizenden Spielchen zusammen.
Aber das wusste sie nicht, und ich wusste nicht, wie ich es ihr beibringen sollte. Und deshalb blieb er für sie ein guter Mann, nicht böse oder grausam oder gemein.
»Was möchtest du jetzt tun?«
Sie wollte nicht mehr darüber reden, und sie hatte überzeugende Argumente für den Themenwechsel: Sie streckte die Arme nach mir aus und lächelte mich halbherzig an.
»Wir haben noch ein paar Stunden«, sagte sie. »Lass sie uns im Bett verbringen.«
Im dem Moment hatte ich das noch für eine ausgezeichnete Idee gehalten. Aber nach einer Weile schlief ich ein und sie nicht. Sicher, ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Es war ein Fehler. Aber ich war nicht in der Verfassung, um einen klaren Gedanken zu fassen. Und so kam es, wie es kommen musste.
Ich wachte auf, weil sie mich an der Schulter schüttelte. Sie blickte mich mit großen, vor Schreck geweiteten Augen an. Ich kapierte nicht sofort, was los war. Ich musste es erst hören, ehe es mir dämmerte.
»Lennie …«
Ich saß auf dem Bettrand und schob ihre Hand von meiner Schulter. Sie hatte ihre Nägel in meine Haut gebohrt. Ich weiß nicht, ob sie es in dem Moment überhaupt mitbekommen hatte.
»Die Koffer …«
Mein Verstand ist so kurz nach dem Aufwachen immer etwas träge. Ich war noch immer leicht verschlafen.
»Lennie, was machst du denn mit Keiths Koffern in deinem Schrank?«
Das war eine verdammt gute Frage.
Sie war so verwirrt, dass sie nicht richtig denken konnte. Sie stand da und plapperte wild drauflos. Ich musste ihr zweimal ins Gesicht schlagen, um sie zu beruhigen. Ich schlug nicht besonders fest zu, aber jeder Schlag tat mir weh. Schließlich setzte ich sie in einen Sessel und brachte sie dazu, die Klappe zu halten und mir zuzuhören.
Es gab eine Menge Dinge, die ich ihr noch nicht sagen wollte, und einige, die ich ihr am liebsten nie gesagt hätte. Aber ich hatte keine Wahl. Sie hatte die Koffer mit den Initialen L.K.B. im Schrank gesehen. Gott allein weiß, wie sie auf die Idee gekommen war, in meinem Schrank herumzustöbern. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war einzig und allein, dass die Katze zur Hälfte aus dem Sack war und dass ich sie jetzt besser ganz herausließ.
»Unterbrich mich jetzt nicht«, sagte ich. »Es ist eine lange Geschichte. Du wirst erst alles begreifen, wenn du sie ganz gehört hast.«
Ich fing damit an, wie ich mit dem Zug aus Philly in Atlantic City angekommen war und Gepäck brauchte. Die Geschichte hatte eigentlich noch früher angefangen, aber der Rest war nicht wichtig. Wenigstens im Moment noch nicht. Wenn alles klappte, lagen etliche gemeinsame Jahre vor uns, in denen ich ihr meine gesamte Lebensgeschichte erzählen konnte. Wenn nicht, dann war es ohnehin egal.
Ich erzählte ihr, dass ich mir sein Gepäck zufällig geschnappt hatte und dass ich im Hotel unter falschem Namen eingecheckt war. Ich erzählte, wie ich ihr begegnet war, wie ich dann die Koffer geöffnet und das Heroin gefunden hätte. Das wollte sie mir zuerst nicht glauben, aber ich sagte es ihr immer und immer wieder, bis sie es begreifen konnte. Ein Anflug von Panik zeigte sich in ihrem Gesicht, als sie die volle Bedeutung meines Funds erkannte. Sie sah den alten Keith jetzt in einem völlig anderen Licht. Er war ein Dealer, kein netter Bursche. Sie hatte zwei Jahre mit ihm zusammengelebt, ohne etwas von seinem kleinen Geheimnis zu ahnen. Ich glaube, wenn ich ihr gesagt hätte, er sei in Wirklichkeit eine Frau, wäre sie auch nicht überraschter gewesen.
Ich erzählte ihr alles von A bis Z. Dann hörte ich auf, weil es nichts mehr zu erzählen gab. Ihr Angetrauter war ein Verbrecher, und ich hatte seine Ware im Hotelsafe. Wir befanden uns zusammen in meinem Zimmer, und die Welt fuhr Achterbahn mit unserem Leben.
»Das verändert alles, Lennie. Joe, meine ich. Ich glaube, ich sollte dich jetzt Joe nennen, nicht?«
»Ich denke schon.«
»Joe Marlin und nicht Lennie Blake. In Ordnung. Gefällt mir sowieso besser. Aber das ändert alles, Joe, nicht wahr?«
»Wie?«
»Ich will sein Geld nicht mehr«, sagte sie. »Ich könnte es nicht ertragen, noch länger mit ihm zusammenzuleben. Jetzt will ich nur dich. Wir können ihn vergessen und einfach davonlaufen und für immer zusammen sein.«
Das klang gut, aber so einfach lagen die Dinge nicht. Sie hatte es immer noch nicht ganz begriffen. Für sie war er immer noch der alte Keith. Nur verdiente er jetzt sein Geld mit schmutzigen Geschäften, und das machte sie krank. Aber sie erkannte nicht, dass sie sich in dem Mann selbst getäuscht hatte.
»Sie würden uns umlegen, Mona.«
Sie starrte mich an.
»Wir können davonlaufen, aber sie kriegen uns bestimmt. Dein Mann ist ein Verbrecher, Mona. Weißt du, was ein Gangster ist?«
Ihre Augen wurden groß und rund.
»Du bist seine Frau«, fuhr ich fort. »Er hat dich gekauft. Er hat schwer für dich bezahlt. Hermelinmantel, Zobelmantel, Chinchillastola. Diese Dinge kosten viel Geld.«
»Aber …«
»Also gehörst du jetzt ihm. Du kannst nicht weglaufen. Er wird dich schnappen und dich umbringen lassen. Willst du, dass wir sterben, Mona?«
Ich sah den Blick in ihren Augen und erinnerte mich an den leicht verächtlichen Unterton in ihrer Stimme, als sie Brassards ärztliche Untersuchungen erwähnt hatte. Vielleicht, hatte sie gesagt, hat er Angst vor dem Sterben. Doch er war nicht der Einzige. Auch sie hatte Angst vor dem Tod. Womit wir schon drei wären.
»Wir können nicht davonlaufen«, sagte ich. »Wir können ihm nicht entwischen.«
»Aber die Welt ist groß.«
»Die Drogenmafia ist international, größer als die ganze Welt. Wohin willst du denn fliehen?«
Sie wusste keine Antwort.
»Nun?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ein Unfall«, sagte sie. »Vorhin hast du gesagt, er könnte einen Unfall haben. Das hast du gesagt, oder nicht?«
»Ich hab es ein wenig anders ausgedrückt.«
»Aber das hast du gemeint. Er könnte doch immer noch einen Unfall haben, nicht?«
»Ich dachte, du wolltest nicht über solche schlimmen Dinge nachdenken.«
»Jetzt ist alles anders, Joe. Ich wusste nicht, was für ein Mensch er ist. Jetzt ist es anders.«
Nichts war anders. Vorher war er großzügig und nett gewesen, und jetzt war er gemein und bösartig. Es war die Verpackung, mit der sie sich leichter mit dem Gedanken an einen Mord abfinden konnte. Zuckerguss um eine bittere Pille. Aber die Pille war dieselbe, egal wie süß sie schmeckte. Die Pille war immer noch Mord.
»Joe?«
Ich fing an zu schwitzen. Atlantic City wurde zu heiß für uns, und die Klimaanlage konnte nichts dagegen ausrichten. Ich legte meine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf so hoch, dass sie mich ansehen musste.
»Wann fährst du mit Keith zurück nach Cheshire Point?«
»Joe, ich will nicht mit ihm gehen. Ich kann nicht mit ihm gehen, Joe. Ich muss bei dir bleiben.«
»Wann fahrt ihr zurück nach Cheshire Point? Beantworte einfach meine Frage, verdammt noch mal.«
»In einer Woche. In sechs Tagen. Ich weiß nicht.«
Ich stellte im Kopf Berechnungen an. »Okay«, sagte ich. »Zuerst einmal dürfen wir uns nicht mehr treffen. Wenn wir einander auf der Promenade begegnen, schaust du mich nicht an, ganz gleich, wo Keith ist. Ist das klar? Er hat Freunde hier. Ich möchte nicht, dass jemand eine Verbindung zwischen uns beiden herstellt. Niemand darf uns zusammen sehen, oder das Spiel ist aus.«
»Ich verstehe nicht, Joe …«
»Halt einfach den Mund, damit ich es dir erklären kann.«
Ihr Blick verriet, dass sie verletzt war, doch sie schwieg.
»Ich reise übermorgen ab«, sagte ich. »Ich checke aus dem Hotel aus und fahre nach New York. Dort such ich mir unter einem anderen Namen eine Bleibe.«
»Unter welchem Namen?«
»Ich weiß es noch nicht. Doch das ist unwichtig. Du wirst nicht mit mir in Verbindung treten. Ich melde mich bei dir. Bleib einfach zu Hause. Soweit es dich betrifft, ist nichts geschehen. Keith ist der gute alte Keith, und du hast mich nie kennengelernt. Ist das klar?«
Sie nickte ernst.
»Vergiss es nicht. Du musst es dir immer wieder vorsagen, damit du nicht aus der Rolle fällst. Du bist Keiths Frau. Wir sind uns nie begegnet. Du fährst mit ihm zurück, und du wirst die gleiche Frau sein, die mit ihm nach Atlantic City gekommen ist. In jeder Hinsicht die gleiche Frau. Du weißt von nichts. Ist das klar? Du verstehst, dass du ihm das überzeugend vorspielen musst?«
»Ich verstehe.«
Jetzt kam der schwierigere Teil. Ich wollte es ihr nicht sagen, ich wollte nicht daran denken. »Du wirst mit ihm schlafen müssen«, sagte ich. »Ich … wünschte, du müsstest das nicht tun. Es gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht.«
»Vielleicht kannst du ihm sagen, dass du krank bist«, meinte ich. »Das könnte klappen. Aber denk dran: Wenn alles so läuft wie geplant, dann brauchst du nie mehr mit ihm zu schlafen, ihn nie mehr ansehen und den Rest deines Lebens nicht mehr an ihn denken. Das macht es vielleicht etwas leichter.«
Sie nickte.
Ich zögerte und sah mich nach meinen Zigaretten um. Sie wollte auch eine, was nur verständlich war. Ich gab ihr eine, nahm mir selbst eine und steckte beide an. Wir rauchten ein paar Minuten schweigend.
»Mona«, sagte ich dann, »ich brauche Geld.«
»Geld?«
»Um die Hotelrechnung zu bezahlen«, sagte ich. »Ich kann es mir diesmal nicht leisten, dass das Hotel einen Detektiv auf mich ansetzt. Und ich muss den Aktenkoffer mit dem Heroin aus dem Safe holen.«
»Was wird das kosten?«
»Ich weiß nicht. Ich brauche auch Geld, um die Dinge in New York zu regeln. Ich brauche nicht viel, aber je mehr ich habe, desto besser. Ich bitte dich ungern darum …«
»Red keinen Unsinn.«
Ich grinste. »Wie viel kannst du erübrigen?«
Sie überlegte einen Moment. »Ich habe ein paar Hundert in bar. Die kann ich dir geben.«
»Wie wirst du es ihm erklären?«
»Wenn er mich fragt, sag ich ihm, ich hätte mir Schmuck davon gekauft. Ich glaube nicht, dass er mich groß fragen wird. Er ist nicht so. Es ist ihm gleichgültig, wie viel ich ausgebe oder für was. Ich könnte ihm auch sagen, dass ich es beim Rennen verloren habe. Das wäre ihm auch egal.«
»Bist du ganz sicher, dass es nicht gefährlich ist?«
»Ganz sicher.«
»Steck alles, was du nicht brauchst, in einen Umschlag«, sagte ich. »Einen Umschlag vom Hotel. Schreib nichts darauf. Irgendwann heute Abend gehst du an meinem Zimmer vorbei. Die Tür wird zu, aber nicht abgesperrt sein. Mach sie auf, wirf den Umschlag herein und verschwinde. Und bleib nicht stehen, um mit mir zu reden.«
Sie lächelte. »Das klingt wie ein Spionagefilm. Mit Mantel und Degen, weißt du? Robert Mitchum im Trenchcoat.«
»So ist es am sichersten.«
»Ich halte mich genau an das, was du gesagt hast. Nach dem Abendessen?«
»Wann immer du von ihm wegkommst. Ich warte hier, bis ich den Umschlag habe. Übermorgen reise ich nach New York ab. Ich möchte nichts überstürzen. Einverstanden?«
»Ich glaub schon.«
»Zieh dich an«, sagte ich. »Wir sehen uns in New York.«
Wir zogen uns beide eilig an. Dann gab ich ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, sie soll beim Bett bleiben, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Ein Zimmermädchen kam gemächlich den Flur entlang. Ich wartete, bis es verschwunden war.
Ehe ich Mona hinausschickte, packte ich sie und küsste sie sehr schnell. Es war ein seltsamer Kuss, leidenschaftslos und dennoch überraschend intensiv. Dann war sie draußen im Gang und schritt auf den Lift zu. Ich schloss die Tür und setzte mich auf das Bett.
In der Flasche Jack Daniels waren noch zwei oder auch drei Drinks. Ich leerte sie und fühlte mich etwas besser.