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Ich hatte es auf die Titelseite der Times geschafft. Nicht die Titelstory, die sich mit den Beleidigungen beschäftigte, die ein Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen einem anderen Mitglied an den Kopf geworfen hatte. Nicht einmal die zweite Titelstory, die sich mit einer neuen Erfindung im Problembereich der städtischen Korruption befasste. Doch für die Verhältnisse der Times hatte ich einen großen Aufreißer bekommen: sechzig Zeilen Text, zweispaltig, am linken Rand von Seite eins. Das entspricht ungefähr der Größe einer Titelschlagzeile in der News oder im Mirror, in die ich es, wie ich später herausfand, auch geschafft hatte.

Die Schlagzeile des Artikels in der Times lautete: RAUSCHGIFTVERBINDUNG IM MORDFALL VON CHESHIRE POINT. Wie immer bei der New York Times stellte sich dies als die Untertreibung des Jahres heraus. Der Artikel, mit wie gesagt sechzig Zeilen auf der Titelseite und neunzig weiteren auf Seite vierunddreißig, fasste alles ganz wunderbar zusammen. Besser hätte ich es mir nicht wünschen können.

Das Morddezernat Manhattan-West hatte das Heroin gefunden, nach einer, wie es die Times freundlicherweise formulierte, »sorgfältigen Überprüfung von Brassards Büro in 117 Chambers Street«.

Warum es einer sorgfältigen Überprüfung bedurft hatte, wollte mir nicht einleuchten, hatte doch ein Briefumschlag mit Heroin unter dem Tintenabroller hervorgelugt und drei weitere in der obersten Schublade des Schreibtisches gelegen. Aber ich wollte mich ja schließlich nicht mit der Times anlegen.

Das Heroin besaß laut Times einen Wiederverkaufswert von mehr als einer Million Dollar. Was in aller Welt das bedeuten sollte, durfte sich jeder selbst zusammenreimen. Bis das Zeug beim Endverbraucher landete, durchlief es noch wenigstens fünfzehn Mittelsmänner und wurde ebenso oft mit irgendwelchen minderwertigen Substanzen gestreckt. Der Wiederverkaufswert hatte praktisch keine Bedeutung, und es war unmöglich zu berechnen, wie hoch der Einkaufspreis des Heroins gewesen sein mochte. Außerdem war der finanzielle Wert letztendlich unwichtig, sobald man ernsthaft darüber nachdachte.

An diesem Punkt hatten die Bullen natürlich zwei und zwei zusammengezählt. Und sie waren selbstverständlich auf vier gekommen. Die Telefonnummern, so die Times, gehörten zu Etablissements, in denen bekanntermaßen mit Drogen gehandelt wurde. Die Frage, warum die Läden noch nicht geschlossen waren, wenn ihre Rolle im Drogenhandel bekannt war, wurde weder gestellt noch beantwortet. Doch anhand des Rauschgiftes, den Telefonnummern und einer sorgfältigen Überprüfung von Brassards Büchern kam die Mordkommission zu dem Ergebnis, dass Lester Keith Brassard nicht nur Feuerzeuge aus Japan importiert hatte.

Diese Tatsache, verbunden mit der Mordmethode, musste zur letzten Schlussfolgerung führen: Brassard war von der Mafia getötet worden. Entweder hatte er sie hereingelegt oder sie wollten sich in sein Geschäft drängen. Der Reporter der Times, der offensichtlich ein paar Filme zu viel über die Famiglia gesehen hatte, meinte, dies könne ein Nachspiel des Appalachen-Treffens sein, auf dem das Syndikat den Beschluss gefasst hatte, aus dem Drogengeschäft auszusteigen. Nach seiner Interpretation war der arme Lester Keith ein hochrangiger Mafiosi gewesen, der sich geweigert hatte, den Wechsel der Geschäftspolitik mitzumachen und den Preis für seine »Auflehnung gegen das Syndikat« hatte zahlen müssen. Es war eine ziemlich faszinierende Theorie und ein wunderbares Beispiel für interpretativen Journalismus in Aktion. Hoffentlich bekam der Junge dafür den Pulitzerpreis.

Drei oder vier Absätze beschäftigten sich mit Mona, und in ihnen stand genau das, was ich mir wünschte. Die trauernde Witwe war von der neuen Entwicklung des Falles völlig überrascht. Alles, was darauf hindeutete, dass ihr Mann kein ehrbarer Bürger gewesen war, schockierte sie zutiefst. Nein, sie hatte nicht genau gewusst, womit er sein Vermögen verdiente. Er war nicht die Art Mann, der die Arbeit aus dem Büro mit nach Hause brachte. Er hatte ein gutes Einkommen, und mehr wusste sie nicht. Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass er sich auf etwas – auf etwas wirklich Kriminelles eingelassen haben sollte. Das passte doch überhaupt nicht zu Keith!

Sie hätte Schauspielerin werden sollen.

Mir gefiel der Artikel. Von meinem Standpunkt aus betrachtet war das, was nicht darin stand, ebenso wichtig wie das, was berichtet wurde. Cheshire Point als Tatort war fast völlig aus dem Fall verschwunden. Ein paar Zeugen waren aufgetaucht und hatten die üblichen, sich widersprechenden Aussagen gemacht. Einer war sich absolut sicher, dass die drei Killer vor den tödlichen Schüssen ausgerufen hätten: Das ist für Al, du Schwein! Die übrigen Aussagen kamen der Wirklichkeit etwas näher, aber auch nicht sehr. Keiner schien sich mehr besonders für die Schüsse zu interessieren. Niemand trauerte um den als Schurken demaskierten Brassard. Die Polizei verfolgte die Verbindungen zum Drogenhandel und interessierte sich nicht mehr sonderlich für den Mord als solchen. Man ließ Mona in Frieden, höchstens ein paar Frauenblätter auf der Suche nach einer tränenreichen Homestory würden sie noch belästigen. Alle würden verstehen, dass sie sich weigerte, diese Art Reporter zu empfangen. Wenn sie dann das Haus zum Verkauf anbot und nach Florida verreiste, um all das Schreckliche hinter sich zu lassen, würde das niemanden besonders verwundern. Und niemand würde sich etwas dabei denken, wenn sie mich vier oder fünf Monate später heiratete, weil sie die schrecklichen Ereignisse allmählich überwunden hatte. Die Geschichte war in sich vollkommen konsistent, und das war das Wichtigste. Konsistenz. Man kann eine ganze Welt von Lügen aufbauen, solange die neuen Lügen den alten nicht widersprechen. Man kann ein meisterhaftes Gebilde aus reiner Logik aufbauen, auch wenn man mit einer falschen Voraussetzung beginnt. Alles, was es dafür braucht, ist Konsistenz.

 

An diesem Abend sah ich mir einen Film an. Bis zu diesem Zeitpunkt war der ganze Tag völlig unwirklich gewesen. Ich hatte wieder nichts zu tun außer zu warten. Ich kam mir nur halb lebendig vor, als befände ich mich in einer Art Winterschlaf, ohne dass ich wirklich schlafen konnte. Die ganze Zeit hatte ich Pläne geschmiedet, dann die Pläne in die Tat umgesetzt und mich auf der Flucht befunden. Nun passierte gar nichts, ich hatte nichts zu tun, und ich hielt es kaum aus. Deshalb wollte ich nun einmal nicht die Zeit im Kino totschlagen, sondern etwas erleben. Es war der Versuch, meine eigene Passivität gegen die Aktivität der Bilder auf der Leinwand einzutauschen.

Vielleicht schaute ich mir aus diesem Grund den Film aufmerksamer an als sonst. Es war ein alter Hitchcock-Film, der mich sofort in seinen Bann schlug. Der Wechsel zwischen Spannung und Humor, zwischen brutalen und lächerlichen Szenen war erstaunlich wirksam. Aber diesmal achtete ich auch auf die eigentliche Handlung unter der Oberfläche, und ich erkannte bald, wie hanebüchen sie war, ein Gespinst absurder Zufälle, zusammengehalten durch ein hervorragendes Drehbuch, gute Schauspieler und einen erstklassigen Regisseur.

Später, als ich im Bett lag und versuchte einzuschlafen, erkannte ich etwas. Ich stellte mir einen Film vor, in dem der Held zwei Koffer stiehlt, und in einem findet er ein Vermögen an Heroin. Dann lernt derselbe Held zufällig ein Mädchen kennen, das sich dann später als die Frau des Mannes entpuppt, dem die Koffer und das Heroin gehören.

Reiner Zufall?

Mehr als das. Es war beinahe unglaublich. Mindestens ebenso weit hergeholt wie der Hitchcock-Film. Dennoch hatte ich es im wahren Leben als Zufall hingenommen, weil es mir selbst zugestoßen war. Mit den Zufällen in dem Hitchcock-Film war das anders. Sie waren nicht im wirklichen Leben passiert, sondern nur auf der Leinwand.

Der Gedanke war interessant. Unter diesem Gesichtspunkt hatte ich die Geschehnisse bisher noch nicht betrachtet, und ich zerbrach mir einige Zeit den Kopf darüber.

 

»Möchten Sie eine Zeitschrift, Sir?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Kaffee? Tee? Milch?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. Die Stewardess, hübsch und gesichtslos wie die Schönheitskönigin von Rheingold Beer, schlenderte weiter, um jemand anderen zu belästigen. Ich blickte aus dem Fenster zur Erde und sah nur Wolken unter mir. Wenn man über ihnen fliegt, sehen sie nicht wie weiße Baumwollbäusche aus, sondern einfach wie formloser, verhältnismäßig dichter Nebel. Ich starrte noch ein paar Sekunden hinaus, doch so spannend waren die Wolken dann auch wieder nicht. Ich sah weg.

Es war Samstagmorgen. Das Flugzeug war ein Düsenjet und flog direkt nach Miami, voraussichtliche Ankunftszeit war ein paar Minuten nach zwölf. Am Abend zuvor hatte ich im Eden Roc angerufen und ein Einzelzimmer reserviert. Es stand für mich bereit. Ich hatte Glück gehabt. Früher einmal waren die Sommer in Miami Beach ruhig gewesen. Jetzt ist die Sommersaison nahezu ebenso ausgebucht wie die Wintersaison, allerdings sind die Preise wesentlich niedriger.

»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.«

Ich hörte die Männerstimme aus dem Lautsprecher kommen und fragte mich, was passiert sein mochte. Ich erinnerte mich, dass ich mich in einem Flugzeug befand und dass Flugzeuge hin und wieder aus keinem bestimmten Grund einfach so abstürzen. Ich fragte mich ganz ruhig, ob wir abstürzen würden.

Dann aber fuhr dieselbe Stimme – die des Piloten – fort, mir zu erzählen, dass wir uns in einer Flughöhe von soundso vielen Fuß befanden, dass die Temperatur in Miami soundso viel Grad betrug, dass die Landebedingungen ideal waren und dass wir pünktlich ankommen würden. Der Pilot schloss mit der Bitte, bei künftigen Flügen doch wieder seine Fluglinie zu wählen. Ich war ein kompletter Idiot. Wir stürzten nicht ab. Alles war in Ordnung.

Wir landeten glücklich und pünktlich. Ich stieg aus – die Stewardess sprach von de-boarding, ein wirklich cleveres Wort – und wanderte zur Gepäckausgabe im Flughafengebäude. Die Sonne war heiß, und der Himmel wolkenlos. Perfektes Florida-Wetter, perfektes Strandwetter. Mona und ich konnten am Strand liegen und uns die Sonne auf die Haut scheinen lassen. Wir konnten auch nachts am Strand liegen, wenn uns der Mond auf die Haut schien. Ich erinnerte mich an Atlantic City, jenes erste Mal um Mitternacht am Strand. Das Leben ist ein ewiger Kreislauf.

Nach etwa zehn Minuten traf das Gepäck ein. Ich tauschte es gegen den Gepäckzettel ein und trug es dann zu einem der wartenden Taxen, die in nördlicher Richtung nach Miami Beach fuhren. Der hochgewachsene, sehnige Fahrer war ein Einheimischer. Zwei Dinge verrieten ihn – einmal seine Redeweise, die mehr nach Kentucky oder Tennessee klang als nach tiefem Süden. Fast jeder, der in Dade County aufgewachsen ist, spricht mit so einem Akzent. Außerdem war der Mann überhaupt nicht gebräunt. Leute, die in Miami leben, sind nicht so blöd und legen sich stundenlang in die Sonne. Nur die Yankee-Touristen sind Sonnenanbeter. Er war auch ein guter Fahrer. Wir waren schneller bei meinem Hotel angelangt, als ich gedacht hatte. Ein Page schnappte sich meine Koffer, und ich folgte ihm zur Rezeption. Ja, sie hatten meine Reservierung erhalten. Ja, mein Zimmer war bereit. Und willkommen im Eden Roc, Mr. Marlin. Bitte folgen Sie mir, Sir.

Das Zimmer lag im fünften Stock. Ein großes Einzelzimmer mit einem riesigen Bad und Blick aufs Meer. Braune Leiber lagen wie Punkte auf dem goldenen Strand. Das Meer war sehr ruhig – überhaupt keine Brandung, nur leichte Wellen. Ich sah, wie eine Möwe im Sturzflug auf einen Fisch hinunterging, sah, wie ein kleiner Junge einen anderen über den Strand jagte, und sah, wie zwei Halbwüchsige – wohl Studenten – ein Mädchen – wohl eine Studentin – im Sand eingruben. Miami Beach.

Der Strand war an diesem Nachmittag angenehm, die Sonne schien warm und das Wasser war erfrischend. Ich blieb draußen, bis es Zeit zum Abendessen war. Die Menschenmengen nahmen ab, je später es wurde. Fette Männer in mittleren Jahren aus New York rieben sich mit Sonnenbrandsalbe ein, zogen grellbunte Sporthemden an und begaben sich auf die Terrasse, um Karten zu spielen. Mütter trieben ihre Kinder in die Zimmer. Die Sonne ging unter.

Nach dem Abendessen sah ich mir die Show an. Der Star des Abends war eine vollbusige Sängerin, die in natura noch schrecklicher sang als auf ihren Platten. Aber der Comedian war ganz witzig, auch die Band passabel. Die Drinks waren teuer. Mir machte das nichts aus. Wenn die Zeit kam, um die Rechnung zu bezahlen, würde Mona da sein mit mehr Geld, als ich jemals ausgeben konnte. Um die Preise machte ich mir deshalb keine Sorgen.

So verging der Samstag. Den Sonntag verbrachte ich auf ähnliche Weise, ebenso Montag und Dienstag. Ich wurde richtig braun, und meine Muskeln lockerten sich von all dem Schwimmen. Am Montagnachmittag verbrachte ich ein paar Stunden im Fitnessraum beim Workout. Dann ging ich in die Sauna und schwitzte. Ein hünenhafter Pole, der kein einziges Haar mehr auf dem Kopf hatte, massierte mich fünfzehn Minuten lang, und ich fühlte mich nachher wie ein neuer Mensch. Körperlich hatte ich mich nie wohler gefühlt.

Abends trank ich, wobei ich immer leicht angeheitert war, es jedoch nie übertrieb. Ich lehnte Angebote ab, mit den Frauen anderer Männer zu schlafen. Mein Bedürfnis nach einer Frau war stark, und überraschenderweise waren viele Frauen zu haben. Doch ein Trick ließ mich nie im Stich. Ich sah mir die Frauen an und verglich sie mit Mona. Keine konnte ihr auch nur das Wasser reichen.

Am Mittwoch rechnete ich ernsthaft damit, dass sie eintraf. Den größten Teil des Nachmittags verbrachte ich in der Lobby, alle zehn Minuten sah ich zur Rezeption hinüber. Seit dem Mord war eine ganze Woche vergangen. Sie müsste jetzt eigentlich jeden Augenblick auftauchen. Es gab keine Komplikationen. In den New Yorker Zeitungen las man kaum mehr etwas von dem Mord. Nur hier und da noch ein paar Zeilen auf den hinteren Seite der Times, und dann nicht viel Neues. Ich wartete auf sie.

Als sie auch am Donnerstag noch nicht auftauchte, wurde ich ungeduldig. Schließlich hatte ich ihr gesagt, eine Woche, höchstens zehn Tage. Und nachdem alles so ideal lief, brauchte sie keine Zeit zu verschwenden. Alles war klar. Zum Teufel mit Mantel und Degen, mit Mitchum in seinem Trenchcoat. Ich wollte meine Frau.

Auch am Freitag tauchte sie nicht auf.

Freitagabend trank ich zu viel. Ich saß vor der Bar und schüttete zu viele Gläser Bourbon ohne Eis in mich hinein. Es hätte gefährlich werden können. Aber glücklicherweise bin ich ein unauffälliger Trinker, ich werde nicht laut, wenn ich betrunken bin. Ein Page brachte mich schließlich ins Bett, und ich wachte früh am Morgen mit einem Kater auf, wie ich noch nie einen gehabt hatte. Ein rot glühender Draht lief von einem Ohr zum anderen durch meinen Schädel, und jemand zupfte daran. Ich trank eine Bloody Mary und fühlte mich etwas wohler.

Samstagmorgen. Eine Woche Miami Beach, was mehr als genug ist. Und keine Mona. Den ganzen Tag wartete ich in der Lobby, aber sie kam nicht.

Ich begann zu schwitzen. Beinahe wäre ich zur Rezeption hinübergegangen und hätte gefragt, ob sie ein Zimmer reserviert hatte. Aber das wäre natürlich der Gipfel der Dummheit gewesen. Stattdessen ging ich hinaus und schlenderte die Collins Avenue hinunter zur nächsten Bar. Dort gab es ein Telefon. Ich rief das Eden Roc an und erkundigte mich nach Mrs. Brassard.

»Einen Augenblick, bitte«, sagte die Stimme an meinem Ohr. Ich wartete wesentlich länger als einen Augenblick, und dann kam der Angestellte wieder.

»Tut mir leid«, sagte er. »Aber hier wohnt niemand unter diesem Namen.«

»Könnten Sie unter den Reservierungen nachsehen?«

Das tat er. Es gab keine Reservierung für Mrs. Brassard.

Ich ging zur Bar zurück und genehmigte mir einen Drink. Zurück im Hotel versuchte ich, mich zu beruhigen. Vielleicht hatte sie vergessen, in welchem Hotel sie absteigen sollte. Vielleicht war das Eden Roc ausgebucht. Ich führte ein halbes Dutzend Telefongespräche. Ich fragte im Fontainebleau, im Americana, im Sherry Frontenac, im Martinique und noch zwei anderen Hotels nach ihr. Jedes Mal erkundigte ich mich zuerst nach Mrs. Brassard und fragte dann, ob es eine Reservierung für sie gäbe. Und jedes Mal zog ich eine Niete.

Es gab sicher eine Erklärung, es musste eine geben. Aber was auch immer die Lösung sein mochte, ich kam nicht drauf. Entweder war mir etwas entgangen, oder etwas war vollkommen falsch gelaufen; jedenfalls kam ich mir wie eine Ratte in einem Labyrinth vor. In psychologischen Labors führen sie diese reizenden kleinen Experimente durch. Erst bringt man einer Ratte bei, wie sie durch ein Labyrinth kommt, und dann steckt man sie in ein Labyrinth, das überhaupt keinen Ausweg hat. Die Ratte versucht alles, aber nichts funktioniert. Am Ende reagiert die Ratte auf diese Frustration immer so: Sie verkriecht sich in eine Ecke und kaut sich die Pfoten ab.

Ich kaute noch nicht an meinen Pfoten. Ich ging ins Eden Roc zurück, stellte mich unter die kalte Dusche und dachte an die Rechnung, die jeden Tag fällig wurde. Ich fragte mich, ob ich sie bezahlen konnte und wie lange es dauern würde, bis Mona auftauchte. Die einzige Erklärung war, dass sie auf eine Zimmerreservierung verzichtet hatte. Vielleicht musste sie in New York bleiben, bis die Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren. Hin und wieder liest man über solche Dinge, über Leute, die wegen juristischer Probleme nicht an ihr Geld kommen. Kleinigkeiten.

Ich redete mir diese Geschichte ein, bis ich sie selbst glaubte. Dann verging wieder eine Nacht. Am nächsten Morgen ging ich an den Strand und ließ mir die Sonne auf die Haut brennen, bis die Bitterkeit und die Angst verschwunden waren. Ich schwamm und schlief und aß und trank. Das war der Sonntag.

Am Montagmorgen stand ich spät auf. Ich ging hinunter zum Frühstück, das im Eden Roc bis drei Uhr nachmittags serviert wurde, und wollte mit dem Lift wieder hoch in mein Zimmer fahren.

Der Mann an der Rezeption war zu schnell für mich.

»Mr. Marlin …«

Ich hätte so tun können, als hörte ich ihn nicht. Doch die Rechnung würde früher oder später ohnehin zu mir kommen, es hatte keinen Sinn, ihr ein oder zwei Tage auszuweichen. Wahrscheinlich konnte ich sie auch noch bezahlen. Also ging ich zur Rezeption, wo er mich mit einem Lächeln empfing.

»Ihre Abrechnung«, sagte er und reichte mir ein zusammengefaltetes gelbes Blatt Papier. Ich zeigte ihm, dass ich ebenso höflich wie er sein konnte, und steckte das Blatt, ohne es anzusehen, in die Tasche.

»Und ein Brief«, fügte er hinzu. Er reichte ihn mir. Wahrscheinlich aus einem Reflex heraus steckte ich auch ihn in die Tasche, ohne ihn anzusehen. Es fiel mir nicht leicht.

»Vielen Dank«, sagte ich.

»Wissen Sie, wie lange Sie bei uns bleiben werden?« Ich schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen«, meinte ich. »Nett haben Sie’s hier. Ich fühle mich sehr wohl.«

Er strahlte.

»Noch ein paar Tage«, sagte ich. »Vielleicht eine Woche. Können sogar zwei Wochen werden. Es kann aber auch sein, dass ich schnell abreisen muss. Schwer zu sagen.«

Er hörte nicht auf zu lächeln. Mir kam es unhöflich vor, mitten in einem so netten Lächeln wegzugehen, aber er wandte sich nicht ab, sodass ich keine andere Wahl hatte. Ich ließ ihn mir durch die ganze Lobby nachlächeln, während ich schon im Lift nach oben fuhr.

Zuerst die Rechnung. Sie war nicht ohne, die Summe jagte mir einen Schrecken ein. Eindrucksvolle 443,25 Dollar. Mehr als ich gedacht hatte. Zu viele Nächte, zu viel gutes Essen, zu viel Alkohol. Ich besaß keine 443,25 Dollar mehr.

Ich falte das gelbe Papier wieder exakt so, wie der Angestellte es mir überreicht hatte, und schob es in die Brieftasche. Dann nahm ich den Brief und sah ihn mir von allen Seiten an wie ein Kind, das den Inhalt eines Geburtstagspaketes erraten will. Er war dick. Kein Absender.

Ich öffnete ihn.

Es war ein Blatt weißes Papier darin, doch das war nur die Verpackung. Darin lag Geld.

Geld.

Hundertdollarscheine.

Ich zählte sie, wobei mir die Hotelrechnung mit einem Mal vollkommen unwichtig erschien. Es waren dreißig druckfrische Hunderter. Dreißig Einhundertdollarscheine. Dreißig mal einhundert Dollar. Dreitausend Dollar.

Das war eine Menge Geld.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte mich, weil ich wusste, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Mona hatte mich nicht vergessen. Sie hatte keine Probleme, an ihr Erbe heranzukommen, nicht wenn sie mir drei Riesen in bar schicken konnte.

Es gab keine Probleme.

Ich nahm das Geld. Es war mehr als nur Hundertdollarscheine. Es war ein Symbol. Es bedeutete, dass alles vollkommen in Ordnung war, dass ich mir keine Sorgen machen musste, dass alles lief wie geplant. Gott war in seinem Himmel, und hier auf der Welt war alles gut. Es war ihre Art und Weise, mir das zu sagen – zugleich eine Entschuldigung für ihre Verspätung und ein Versprechen, dass sie bald eintreffen würde. Bei dem Gedanken an sie wurde mir am ganzen Körper warm. Bald, dachte ich. Sehr bald. Sehr, sehr bald.

Sie war aufgehalten worden. So etwas passiert. Sie konnte keinen Brief, Telefonanruf oder Telegramm riskieren. Sie hatte mir vertraut, dass ich auf sie warten würde, und mit dem Geld wollte sie mir zu verstehen geben, dass alles in Ordnung war. Ich kam mir plötzlich wie ein Verräter vor, wegen all der Gedanken, die ich mir gemacht hatte. Das war gemein von mir gewesen.

Aber ich würde es wieder gut machen.

Sie war noch in New York. Aber bald, sehr bald würde sie unterwegs nach Miami sein.

Vielleicht schon morgen.

Aber eins nach dem andern. Ich zog mir die Badehose an, warf mir mein Handtuch über die Schultern und nahm die obersten sechs Scheine von dem Stapel. Den Rest steckte ich in meine Brieftasche und steckte sie in die oberste Schublade der Kommode. Ich sah mich nach dem Papierkorb um, überlegte es mir dann aber anders und legte auch den Umschlag in die Schublade.

In Miami Beach kann man in Badesachen mit dem Lift in die Lobby fahren. Formell wird es in dieser Stadt nur dann, wenn es ums Bezahlen geht. Und das erledigte ich jetzt.

Der Angestellte hatte noch immer dasselbe Lächeln im Gesicht.

»Am besten erledige ich das gleich«, sagte ich und schob ihm fünfhundert Dollar über die Rezeption.

»Behalten Sie das, was übrig bleibt«, sagte ich und fühlte mich reicher als Gott. »Schreiben Sie es auf mein Konto. Diese Hose hat nur eine Tasche, und da geht nicht viel rein.«

Ich ging durch die Lobby zum Strandeingang und kam mir zwei Meter groß und zwei Meter breit vor. Es war ein strahlender Sonnentag wie aus dem Bilderbuch, und heute konnte ich ihn auch genießen. Ich legte mein Handtuch auf einen freien Platz und rannte dann direkt ins Meer. Die Wellen waren heute höher, und ich ließ mich mitten hineinfallen. Das Gefühl war großartig.

Ein intensiv gebräunter Mann mit einem komischen Gesicht und einem sehr dicken Bauch brachte seiner kleinen Tochter das Schwimmen bei. Sie lag mit dem Bauch auf seinem ausgestreckten Arm, wobei sie wie wild mit den Armen paddelte und mit ihren beiden rosa Beinchen um sich schlug. Ich lächelte den beiden zu und fühlte mich glücklich.

Ich schwamm noch etwas herum. Dann ging ich zur Terrasse und trank einen Wodka Collins. Ich streckte mich auf meinem Handtuch in der Sonne aus und schwitzte den Wodka wieder aus.

Glücklicherweise war ich schon ziemlich braun, denn ich schlief mitten in der Mittagshitze am Strand ein. Es war nett, einfach so in der Wärme wegzudösen. In meinem Kopf tanzten Erinnerungen an Mona und Gedanken an Mona und andere nette Dinge dieser Art. Vom Meer wehte eine kühle Brise herüber, Kinder brabbelten, und immer wieder dröhnte in der Ferne ein Flugzeug über das Meer.

Also schlief ich ein.

Die Sonne war schon untergegangen, als ich wieder aufwachte. Heiß war es auch nicht mehr – am Strand war es kalt, und ich fröstelte. Ich hüllte mich in das Handtuch und ging schnell auf mein Zimmer.

Komischerweise war auch dieses wohlig warme Gefühl, dass alles in Ordnung war, mit der Sonne verschwunden. Mir kam es so vor, als ob etwas nicht zu stimmen schien, es war lächerlich. Ich schüttelte ärgerlich den Kopf und konnte mich nicht einmal mehr über mich selbst amüsieren. Was zum Teufel war los? Beim Einschlafen hatte ich noch glückliche Träume geträumt, und als ich aufwachte, machte ich mir schon wieder Sorgen.

Was war das? Das Gesicht und der Schuss und die fünf Kugeln? Hin und wieder musste ich noch an sie denken, besonders wenn ich zu viel trank.

Aber das war es nicht.

Es war etwas anderes.

Ich betrat mein Zimmer, fand eine frische Packung Zigaretten und steckte mir eine an. Sie schmeckte mir nicht, aber ich rauchte trotzdem nervös weiter und drückte die Zigarette dann halb geraucht aus. Was stimmte nicht?

Ich ging zur Kommode und zog die Schublade auf. Ich nahm meine Brieftasche heraus und bestaunte all das wunderschöne grüne Papier, das den ganzen Weg von New York zur mir gekommen war. Dann schaute ich mir den weißen Umschlag an, in dem es gekommen war.

Vielleicht hatte ich es schon vorher gesehen. Das passiert manchmal – man sieht Dinge, obwohl sie einem nicht richtig bewusst werden. Aber irgendwo tief im Gedächtnis bleiben sie haften und wollen wahrgenommen werden.

Vielleicht war ich auch ein Hellseher.

Oder vielleicht hatte ich einfach ein schlechtes Gefühl. Vielleicht passte irgendetwas nicht zusammen, auch wenn ich es mir passend zurechtlegte. Vielleicht brauchte es ein paar Stunden in der Sonne, bis man dem schlechten Gefühl nicht mehr mit Rationalisierungsstrategien beikommen konnte.

Ich sah den Umschlag aus New York an. Ich sah ihn an, bis mir fast die Augen aus dem Kopf traten.

Der Poststempel war von Las Vegas.