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Sobald der Flug gelandet war und der Kapitän über Lautsprecher die Erlaubnis dazu erteilte, aktivierte Connie ihr Handy und rief Jazz an. Ringsum stürzten sich Passagiere auf die Gepäckablagen, aber Connie blieb in ihrem Sitz, bis sich Jazz meldete.
»Hallo«, sagte er, und seine Stimme war jetzt so zärtlich, wie sie vor Stunden barsch gewesen war. »Tut mir leid, dass ich so war.«
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Im Taxi«, sagte er. »Auf dem Weg zu jemand. Und du?«
Sie zögerte kurz. »In der Mall. Die in der Nähe von Lobo’s Nod.« Das sollte den Betrieb ringsum erklären.
»Haben dich deine Eltern rausgelassen?«
»Ja. Ich hab Zeug für die Schule gebraucht.« Himmel, es wurde immer leichter, ihn zu belügen.
»Gut. Hier spielen sich verrückte Sachen ab, Connie. Es … es hilft mir einfach zu wissen, dass du zu Hause in Sicherheit bist.«
Sie schloss die Augen und sagte sich, dass sie richtig handelte. Komme, was wolle. Sie durfte ihn nicht ablenken, aber sie musste auch diesen Hinweisen nachgehen. Ihn anzulügen war die einzige Lösung.
»Ich wollte mich nur entschuldigen, weil ich vorhin so eine Zicke war.«
Er lachte. »Du warst keine Zicke. Ich war ein Arschloch.«
»Du hast nicht gehört, was ich gesagt habe, nachdem du aufgelegt hast.«
»Oh. Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung, Madame.«
»Mademoiselle.«
»Stimmt.«
»Wann, denkst du, wirst du wieder zu Hause sein?«
»Bald hoffentlich. Ich denke, es wird sich jetzt schnell etwas tun. Ich glaube … Connie? Ich muss Schluss machen, okay?«
»Okay.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, du Dickkopf.«
Er lachte und legte auf, und sie starrte auf das Handy, bis es plötzlich zirpte und eine vor Stunden eingegangene SMS erschien:
verdrück dich, süße. bullen sind im anmarsch.
Howie. Sie hätte es auch ohne seinen Namen darunter gewusst.
Was zum Teufel, Howie …?
Die Polizei. Offenbar ließen es ihre Eltern drauf ankommen. Sobald sie aus dem Flugzeug stieg, würden Beamte auf sie warten. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Was konnte sie tun?
Die verärgerte Frau, die zwischen ihr und dem Fenster saß, forderte sie ziemlich unfreundlich auf, sich in Bewegung zu setzen. Connie zog automatisch die Beine an und ließ die Frau durch.
Denk nach, Connie. Du bist keine Action-Heldin. Du kannst nicht vor ihnen wegrennen. Also musst du sie stattdessen austricksen. Du bist Schauspielerin, oder? Du musst spielen.
Sie dachte an etwas, das Jazz bei einem seiner Vorträge gesagt hatte, wie man dem plötzlichen Tod durch Leute wie ihn entgeht. Lass dich nicht durch Auffälligkeiten ablenken. Sie dachte an Ted Bundy und seinen falschen Gipsarm. Frauen hatten den Gips gesehen und waren ums Leben gekommen, weil sie darauf hereinfielen.
Die Leute lieben Auffälligkeiten. Sie bemerken sie und fixieren sich darauf und vernachlässigen darüber das große Ganze.
Connies Plan formte sich binnen Sekunden. Zu wenig Zeit, um alles zu durchdenken, aber zum Glück auch zu wenig Zeit, um zu zweifeln. Schlimmstenfalls erwischen sie mich. Wenn ich nichts tue, erwischen sie mich auf jeden Fall.
Die Frau, die sich an ihr vorbeigedrängt hatte, plagte sich jetzt damit ab, ihren Koffer aus der Gepäckablage zu zerren, ihre große Handtasche stand unbeaufsichtigt auf dem leeren Sitz direkt am Gang. Connie durchwühlte sie rasch. Lesebrille. Okay, cool. Dann schickte sie ein lautloses Dankgebet zum Himmel, weil die Frau weiß war und sie genau das fand, worauf sie gehofft hatte – ein Schminktäschchen. Sie steckte es ein.
Als sich das Flugzeug langsam leerte und ihre frühere Sitznachbarin den Gang hinunter verschwunden war, duckte sich Connie hinter die Sitze und suchte die pudrige Grundierung aus dem Make-up-Set. Beim Theaterspielen hatte sie gelernt, es so zu verwenden, dass es natürlich aussah, aber jetzt wollte sie genau das nicht. Es dauerte ein wenig, aber nach einigen Minuten hatte sie einen unförmigen Fleck beigefarbener Haut kreiert, der über einer Augenbraue anfing und sich über den Nasenrücken zum Wangenknochen erstreckte. Es sah aus wie ein aus dem Ruder gelaufenes Muttermal, und Connie fand es ziemlich grässlich.
Sie band ihre langen, sorgfältig geflochtenen Haare zusammen und versteckte sie unter ihrer seidenen Schlafhaube. Dann setzte sie die Lesebrille auf und überprüfte im Schminkspiegel rasch ihr Aussehen. Es war gut, aber es reichte noch nicht.
Okay, Make-up und Frisur sind erledigt. Zeit, dass der Vorhang aufgeht und die Show beginnt.
Das Flugzeug hatte sich inzwischen fast gänzlich geleert. Connie stand endlich von ihrem Sitz auf und mühte sich in den Gang hinaus, wobei sie es vermied, den linken Fuß aufzusetzen. Sie stützte sich an den Sitzlehnen ab und schlurfte zum Ausgang, wo sie darauf achtete, nicht ausgerechnet mit der Stewardess Augenkontakt herzustellen, die sie aufgefordert hatte, ihr Handy während des Starts auszuschalten.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte die Stewardess, die sie sich stattdessen ausgeguckt hatte; ihre kleine Schauspieleinlage schien also zu funktionieren.
»Ich komme mir ein bisschen blöd vor«, fing sie an, »aber ich habe mir den Knöchel verstaucht, als ich vorhin gerannt bin, um das Flugzeug zu erwischen. Ich dachte nicht, dass es so schlimm ist, aber nach dem langen Sitzen …«
»O Gott, und durch den wechselnden Kabinendruck ist es wahrscheinlich noch schlimmer geworden!«
Der Trick, einen Satz nicht selbst zu vollenden, funktioniert wieder prächtig.
»Ja. Gibt es eventuell …«
»Ich besorge Ihnen einen Rollstuhl.«
Connie ließ sich halb gegen eine Sitzreihe sinken. »Vielen Dank. Tut mir leid, dass ich solche Umstände mache.«
»Überhaupt nicht. Setzen Sie sich einfach hierhin, ich lasse jemanden Ihr Gepäck holen.«
Bald darauf half ihr die Stewardess aus dem Sitz und führte sie von Bord. In der Fluggastbrücke wartete bereits ein Mann mit einem Rollstuhl. Connie nahm umständlich darin Platz und dankte der Stewardess, die Connies Reisetasche auf dem Rollstuhl verstaute.
»Geben Sie gut auf sie acht«, sagte sie zu dem Mann.
»Kein Problem.«
Auf dem Weg durch die Fluggastbrücke entfaltete Connie die billige kleine Decke der Fluggesellschaft, die sie sich von einem Sitz geangelt hatte, und wickelte sich darin ein. Inzwischen sah sie wahrscheinlich aus wie eine Krebspatientin. Sie legte die Arme zusammen, um möglichst klein zu wirken.
Als der Mann sie Augenblicke später ins Flughafengebäude rollte, bemerkte Connie sofort die beiden uniformierten Polizisten, die mit einem Mitarbeiter der Fluggesellschaft an der Seite standen. Sie hielten nach einem schwarzen jungen Mädchen mit Cornrows Ausschau. Nicht nach einer Frau mit Brille und einem Mal im Gesicht, die in eine Decke gehüllt war und unter deren Haube sich wahrscheinlich ein kahler Schädel verbarg.
Trotzdem hielt sie den Atem an, als der Mann sie an ihnen vorbeischob.
»Wohin?«, fragte er.
Connie gestattete sich endlich ein Grinsen. »Terminal vier«, sagte sie. »Ankunftsbereich.«