37
Morales fuhr Jazz zum Hotel zurück. Eine neue Gruppe Verdächtiger würde nicht lange auf sich warten lassen, und dank der neuen Leiche war jetzt alles doppelt so verrückt. Eine lange Nacht lag vor ihnen, deshalb wollte sich Morales zu einem Nickerchen in den Pausenraum des Reviers zurückziehen, und Jazz brauchte nur etwas Ruhe und Frieden, um nachzudenken.
Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, dass jemand versuchte, ihn vom Nachdenken abzuhalten. Jemand versuchte zu verhindern, dass er die Teile zusammensetzte.
Teile. Im Wortsinn, natürlich. Es gab Körperteile in Hülle und Fülle, manche mitgenommen, andere nicht. Aber wenn Hut & Hund ein Puzzle war, das man zusammensetzen musste, schien er Teile aus verschiedenen Schachteln zu verwenden. Es war so chaotisch, dass es fast schon absichtlich wirkte.
Andererseits … warum eigentlich nicht?
Er schrieb UGLY J auf ein Blatt Papier und kreiste es doppelt ein. Ugly J stand im Zentrum von allem. Es klang wie ein Serienkillername, aber niemand hatte je von einer solchen Person gehört. Konnte es Billys neue Identität sein? Der Impressionist hatte gesagt, Ugly J sei schön, was stimmig wäre, denn der Impressionist verehrte Billy schließlich und würde einen freien, mordenden Billy Dent als schönen Anblick empfinden.
Aber wenn Billy tatsächlich Ugly J war – was am meisten Sinn ergab –, welche Verbindung bestand dann zu Hut & Hund? Jazz konnte sich vorstellen, dass sein Vater weit genug vorausgeplant hatte, um den Impressionisten zu programmieren, bevor er ins Gefängnis ging, aber dass er das Ganze gleich zweimal initiiert haben sollte? Einen zweiten Serienkiller losgelassen, diesmal in der größten, kompliziertesten Stadt des Landes, wo Billy, soweit Jazz wusste, nicht einmal auch nur zu Besuch gewesen war?
Nein. Das haute nicht hin.
Das bedeutete also, dass Billy entweder Hut & Hund nicht losgelassen hatte …
Oder dass Billy nicht Ugly J war.
Beide Möglichkeiten ergaben nicht viel Sinn. Keine war tröstlicher als die andere.
Jazz griff nach einem der Fotos. Es war die Nahaufnahme eines Huts, der mit dem Messer in eine Frauenschulter geritzt war. Er hatte seine Theorie über die Hüte und Hunde – Gentlemen und Miststücke, wie er gesagt hatte –, und vielleicht war es so, aber …
Eine Zeit lang hat er immer abgewechselt. Und dann …
Jazz konsultierte die Opferliste. Ja. Genau wie er sich erinnert hatte: zwei Hüte hintereinander. Und später dann noch einmal zwei Hüte hintereinander. Niemand wusste, wieso. Die Polizei hatte irgendwann eine Theorie gehabt, die mit dem Wetter zu tun hatte, aber die war nicht besonders gut und ging letzten Endes nicht auf.
Das ist der Schlüssel, dachte Jazz. Das ist der Punkt, wo das Muster durchbrochen wird. Diese Stellen sind entscheidend. Dort finden wir den Kerl. Was ist da passiert? Warum zwei Hüte nacheinander?
Und was war mit Belsamo? Er passte nicht ins Profil. Von Alter und Rasse abgesehen stimmte nichts. Und doch sollte er rein zufällig aufgetaucht sein, um genau in dem Moment zu gestehen, als Hut & Hund sein neuestes Opfer vier Straßen entfernt ablegte?
Er konnte förmlich Howies Stimme hören: Wenn das Zufall ist, spiele ich irgendwann für die Pistons.
Es müssen zwei sein, wurde Jazz klar. Zwei Täter, die zusammenarbeiteten. Das war es.
Aber die Polizei hat diese Idee bereits verworfen. Alle DNA-Spuren, die sie gefunden haben – egal ob Hut oder Hund –, stammen von ein und derselben Person. Es ist nur einer.
Er dachte daran, wie Belsamo das Wasser abgelehnt hatte. Wie er nichts im Vernehmungszimmer berührt hatte.
Vielleicht war das Profil falsch. Vielleicht war Belsamo ein ebenso guter Schauspieler wie Jazz, ein so guter Schauspieler wie Billy. Dieses ganze Krächzen und Gackern … eine List, um sie glauben zu machen, er könne unmöglich der Killer sein. Und er war freiwillig gekommen, um die Polizei abzulenken, während jemand anderer eine Leiche praktisch in ihrem Hinterhof ablegte …
Er rief Hughes an. »Hey, was ist aus Belsamo geworden?«
»Dein kleiner Freund?« Hughes fing zu lachen an. »Der Typ, der gern mit seinem Ding herumwedelt?«
»Ja, genau der. Was ist aus ihm geworden?«
»Wie meinst du das? Wir haben ihn freigelassen. Du hast es ja gesehen.«
»Sicher, aber haben Sie je eine DNA-Probe von ihm bekommen?«
»Nein, natürlich nicht. Du warst dabei – wir haben noch auf den Gerichtsbeschluss gewartet. Selbst das FBI zaubert so etwas nicht in der kurzen Zeit herbei, bis diese Leiche vor der Schule aufgetaucht ist. Na ja …« Er überdachte seine Aussage. »Bei einer Heimatschutz-Geschichte könnten sie es vielleicht. Aber bei einem gewöhnlichen einheimischen Serienmörder? Niemals.«
Jazz überlegte. »Was ist mit dem Vernehmungszimmer? Hat er da irgendwo DNA hinterlassen?«
»Jasper …«
»Er hat onaniert. Wissen Sie noch? Ist er zum Abschluss gekommen?«
Hughes gab ein Würgen von sich. »Ich kann glücklicherweise berichten: Nein. Niemand musste seine eklige Hinterlassenschaft aufwischen. Ich schätze, nachdem du hinausgegangen warst, ist ihm die Lust vergangen.«
»Ha, ha, ha. Wie sieht es mit Haaren aus?«
Ein anhaltendes Stöhnen kam aus dem Gerät. »Hast du eine Ahnung, wie viele Leute den ganzen Tag in dem Raum ein- und ausgegangen sind? Ich bin mir sicher, da drin finden sich jede Menge Haare. Welche davon aber deinem Süßen gehören, das kann ich nicht sagen.«
»Wir haben also nichts?«
»Wir brauchen nichts. Er ist nicht unser Mann.«
Sie legten auf, und Jazz starrte an die Wand, bis er alles verschwommen sah. Hughes mochte sich sicher sein. Jazz war es nicht.
Was wir brauchen, beschloss er, ist eine DNA-Probe von dem Kerl.
Connie ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab und dachte nach. Obwohl … es war mehr, als würde sie mit Gedanken jonglieren. Im Augenblick hatte sie so viele Bälle in der Luft, so viele Dinge zu verfolgen … Und einige, befürchtete sie, würden sich als Granaten herausstellen.
Sie hatte sich für kurze Zeit Sorgen gemacht, Whiz könnte sie bei ihren Eltern verpetzen, aber dann war ihr klar geworden, dass sie sich an dieser Front auf das Gleichgewicht des Schreckens verlassen konnte. Wenn Whiz sie verpetzte, konnte sie ihren Eltern sagen, sie sollten den Kontrollcode an der Satellitenbox verändern. Und das wusste Whiz.
Wenn nur alle ihre Dilemmas so einfach durch Nichteinmischung zu lösen wären.
Ruf ihn an! Ruf Jazz einfach an!
Nein. Sie durfte es nicht. Das war nicht die Art von Nachricht, die man per Telefon übermittelte. Dein Vater ist vielleicht gar nicht dein Vater … Das ging nicht. Das musste sie ihm persönlich sagen. Ihm in die Augen sehen. Seine Hände halten. Ihm die Geburtsurkunde zeigen und für ihn da sein …
Nach einer kleinen Internet-Recherche nahm sie an, dass er in New York mit Hut & Hund beschäftigt war, auch wenn ihn keine der Websites erwähnte. Die Task Force hielt seine Mitwirkung definitiv geheim. Und in den Lokalnachrichten von Lobo’s Nod gab es natürlich nichts. Dort wurde Hut & Hund nicht einmal erwähnt. So blieben Leute wie Billy offenbar unentdeckt. Die meisten Serienmörder waren lokal tätig. Sie kamen nur in die landesweiten Nachrichten, wenn sie etwas Dummes taten, wie etwa ihre »Wohlfühlzone« für ein neues Territorium aufgeben. Billy hatte Vorgehensweisen und Signaturen mit jeder geografischen Veränderung gewechselt. Niemand sah Nachrichten, zum Beispiel, in Tennessee und in Utah, und deshalb hatte niemand eine Verbindung hergestellt.
Hut & Hund tötete Menschen in New York. Niemanden in Lobo’s Nod kümmerte es. Warum auch?
Es würde sie interessieren, wenn sie wüssten, dass es eine Verbindung zu Billy gibt. Aber das ist noch nicht zweifelsfrei bewiesen.
Wobei noch nicht die entscheidenden Worte waren.
Connie wusste, dass Billy irgendwie im Spiel war. Das Ugly-J-Graffito und das Akrostichon in dem Brief des Impressionisten konnten einfach kein Zufall sein. Sie weigerte sich, das anzunehmen. Das hieß, es gab eine Verbindung – wie lose auch immer – zwischen Billy und dem Hut & Hund-Mörder. Connie hätte sogar gewettet, dass es Billy gewesen war, der Jasper zu dem »Spiel« eingeladen hatte, was immer das bedeuten mochte. Und sie war sich sicher, dass er derjenige war, der sie zum alten Dent-Haus und seinem seltsamen vergrabenen Schatz geleitet hatte. Wer sonst könnte das getan haben? Wer sonst würde es getan haben? Wer sonst sollte überhaupt wissen, dass da etwas war?
Ihr Handy läutete, und sie griff danach. Howie sollte sie anrufen, wenn er etwas Neues von Sam erfahren hatte, aber als sie sich meldete, erkannte sie sofort, dass es nicht Howie war.
»Du hast die Regeln verletzt, Connie«, ertönte eine Stimme, die sie nicht erkannte, nicht weil sie fremd war, sondern weil die Stimme gefiltert und durch ein Computerprogramm so verändert worden war, dass sie melodisch und roboterhaft zugleich klang.
»Wer ist da?«, fragte sie, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten.
»Du hast die Regeln verletzt«, wiederholte der Anrufer und klang auf seine Weise irgendwie enttäuscht. »Und die Regeln waren nicht kompliziert. Ich sagte, keine Polizei. Du hast die Polizei gerufen. Ganz einfach. Ich hätte dich für klüger gehalten.«
Connie überlegte fieberhaft. Sie hatte die Polizei nicht gerufen. Aber jemand anderer hatte es getan. Der Typ mit dem Baseballschläger. Aber wie um alles in der Welt konnte der Anrufer das wissen? Es war eben erst passiert, vor einer Stunde, anderthalb, vielleicht. Wie …
»Ich habe die Polizei nicht gerufen«, sagte sie. »Das war nicht ich. Es war ein Nachbar. Es war …«
»Erwartest du wirklich, dass ich dir glaube? Dass ich dir vertraue? Du würdest doch alles sagen, oder?«
Wenn der Anrufer von der Polizei wusste … dann musste es sich um eine einheimische Person handeln, oder? Jemand, der wusste, was in Lobo’s Nod vor sich ging.
Oder einfach jemand, der Zugang zum Polizeifunk von Lobo’s Nod hat. Oder …
Sie klappte den Deckel ihres Laptops auf und gab BILLY DENT GRUNDSTÜCK und das aktuelle Datum ein. Tatsächlich tauchte eine Kurzmeldung in der Webausgabe des Polizeiberichts von Lobo’s Nod auf, dass die Beamten zu Billy Dents alter Behausung gerufen worden waren.
Und da es im Netz war, konnte es jeder wissen.
Connie hatte erwartet, dass die Anrufer-Nummer unterdrückt sein würde, aber das war nicht der Fall. Sie notierte die Nummer rasch, als könnte sie von ihrem Telefon verschwinden. »Es tut mir leid, Mr. Dent«, sagte sie. »Aber ich war es wirklich nicht. Ich kann nichts dafür, wenn sich Ihr alter Nachbar aufregt und die Polizei ruft, weil er mich gesehen hat.«
Der Anrufer lachte. Durch die ganze technische Bearbeitung klang es metallisch und so, als würde man schnell Kopfweh davon bekommen. »Du denkst, ich bin Billy Dent? Wie kommst du denn darauf?«
»Wer sollten Sie sonst sein?« Ihr war schwindlig, und sie setzte sich aufs Bett. Jazz’ Warnung, nie einen Mann wie Billy Dent in ihr Denken zu lassen, ging ihr pausenlos durch den Kopf. Sie musste vorsichtig sein. Billy hielt alle Karten in der Hand, einschließlich seiner eigenen Identität. Er konnte sie sehr leicht verwirren. Sie stocherte im Nebel. »Oder vielleicht sind Sie Ugly J.«
Erneutes Lachen, länger diesmal und kräftiger. »Du gefällst mir, Connie«, kam als Antwort. »Du hast mir schon gefallen, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Vor ein paar Monaten. In Hexenjagd.«
Connie schauderte, und auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. O Gott. In Hexenjagd. Wochen, nachdem Billy aus Wammaket ausgebrochen war … Im Publikum? Im gottverdammten Publikum, und keiner hat es bemerkt!?
»Ich fand dich wundervoll als Tituba, Connie. Ich stand ganz hinten und habe dich gesehen. Und Jasper. Ich habe euch beide gesehen. Vorzügliche Schauspieler. Ich denke, du könntest eine Karriere im Showgeschäft vor dir haben, Connie. Vorausgesetzt, du lebst lange genug, natürlich.«
»Sie können mich bedrohen, so viel Sie wollen …«
»Gib dich nicht tapferer, als du es tatsächlich bist, Connie«, warnte der Anrufer. »Das beeindruckt mich nicht. Ich weiß Aufrichtigkeit mehr zu schätzen als gespieltes Heldentum. Und ich bedrohe dich nicht. Bis jetzt habe ich dich nicht bedroht, oder?«
Connie wartete, bis ihr klar wurde, dass es sich um keine rhetorische Frage handelte – die Stimme wartete auf eine Antwort.
»Nein.«
»Genau. Und ich bedrohe dich noch immer nicht. Lass mich dir verraten, wen ich allerdings bedrohe.«
Im selben Augenblick trillerte Connies Handy wegen einer ankommenden Nachricht. Automatisch zog sie es vom Ohr weg, gerade rechtzeitig, um das eintreffende Bild zu sehen.
Es war Jazz.
In New York.
Sie wusste, dass es New York war, weil er die Mütze der Mets trug, die er am Flughafen zur Verkleidung gekauft hatte, und weil sie den Ärmel von Hughes’ Jacke an einem Rand des Fotos erkannte. Es war in New York aufgenommen worden. Vor Kurzem.
Nahe genug, um dieses Bild zu machen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nahe genug für dieses Bild, heißt nahe genug … o Gott. Wenn er so nahe kommen kann, ohne bemerkt oder gesehen zu werden …
Sie setzte das Telefon wieder ans Ohr und bemühte sich zu sprechen, aber sie brachte nichts heraus.
»Dein Freund wird für deine Anmaßung und deine Lüge leiden, wenn ich es will.«
»Nein«, brachte Connie mit Mühe heraus. »Er ist nicht einmal da. Er hat nichts damit zu tun. Es ist nicht fair …«
»Ich denke, ich war sehr fair zu dir«, fuhr der Anrufer fort. »Habe dir Hinweise für das geschickt, was du suchst. Dir Komplimente über deine Schauspielerei gemacht – und ich habe es übrigens ehrlich gemeint.«
Hatte sie sich geirrt? War das doch nicht Billy Dent? Würde Billy Jazz auf diese Weise bedrohen? Und wenn er es tat, nur um ihr Angst einzujagen … Er würde eine solche Drohung niemals wahr machen …
Oder?
Sie glaubte nicht.
Andererseits … Vielleicht war es nicht Billy.
Der Tonfall der Stimme … das Vokabular … Dinge, die Auto-Tune nicht ändern konnte. Sie hatte gesehen, wie Jazz Billy nachmachte. Sie hatte Howie von den Monologen des Mannes berichten hören. Sie hatte sogar die wenigen Fernsehausschnitte gesehen, in denen er etwas sagte. Und das hier war nicht …
O Gott.
»Hat es dich gestört, eine Sklavin zu spielen, Connie? Hat es etwas in dir aufgerührt? Groll? Zorn? Rassenerinnerungen, die du längst begraben glaubtest?«
Die vom Computer bearbeitete Stimme klang weder durchtrieben noch verschwörerisch, aber die Worte erfüllten genau diesen Zweck. Connie wehrte sich dagegen. Sie würde sich nicht von einem Psychopathen in eine psychologische Treibsandgrube ziehen lassen. Sie würde nach ihren Bedingungen vorgehen.
»Es war nur eine Rolle«, sagte sie vorsichtig. »Weiter nichts.«
»Aber sicher hast du dich doch gefragt, ob du die Rolle nicht nur deshalb bekommen hast, weil du die einzige schwarze Schauspielerin an der Schule warst. Hast du dich das nicht gefragt? Angenommen, du wärst nicht interessiert gewesen? Was hätte diese hübsche kleine Theaterlehrerin dann gemacht?«
Bei der Erwähnung von Miss Davis stockte Connie der Atem, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Tränen traten ihr in die Augen, die sie wütend fortwischte. Nein, ich lasse mich nicht manipulieren.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich würde Sie ja auffordern, Miss Davis selbst zu fragen, aber sie ist ein bisschen tot.« Ihr Magen zog sich zusammen, als sie es sagte. Es war, als würde sie auf Ginnys Grab pinkeln. Aber dieses Spiel war zu ernst, als dass sie es sich leisten konnte, nicht ihre gesamte Munition einzusetzen.
Der Anrufer kicherte – es klang wie ein Gummiball, der in einer riesigen Blechdose umherspringt. »Versuchst du, mit mir Schritt zu halten, Connie? Mich nicht in deinen Kopf zu lassen?«
»Ich ergreife lediglich die Initiative, statt nur zu reagieren.«
»Schon mal überlegt, dass ich vielleicht genau das will?«
Na toll. Jetzt wusste Connie gar nicht mehr, was sie tun sollte.
»Menschen sterben, Connie, und sie werden weiterhin sterben, während du versuchst, Spielchen mit mir zu spielen. Während du versuchst, mich nicht in deinen Kopf zu lassen, obwohl ich dort schon bin. Verlass dich drauf – du hast keine Geheimnisse vor mir.«
Ich glaube dir nicht. Ich darf es nicht. »Ach ja?«
»Ständig sterben Menschen, und alles, was dich interessiert, bist du selbst. Oh, du behauptest natürlich, dass dich dein Freund interessiert, aber in Wirklichkeit machst du dir nur Sorgen um ihn, weil es deiner ist. Aus keinem anderen Grund. Du bist egoistisch, Connie. Du bist immerhin Schauspielerin, und die sind ein eitler, selbstsüchtiger Haufen. Aber lass mich dir eine Frage stellen, wenn ich dich schon am Telefon habe: Hast du dich je gefragt, warum sie sich immer auf die hübschen weißen Mädchen konzentrieren? Die verschwinden, meine ich. Die getötet, verstümmelt oder vergewaltigt werden – an einem guten Tag alles zusammen. Wenn schwarze Mädchen verschwinden, scheint es niemanden zu interessieren, oder? Wenn ich dich verschwinden ließe – und ich sage nicht, dass ich es tue, auch wenn ich es könnte –, würde niemand Notiz davon nehmen.«
»Doch, man würde es bemerken«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, dann schlug sie sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Verdammt! Sie tat genau, was er wollte. Sie ging auf sein Argument ein. Akzeptierte die Prämisse. Nahm am Gespräch teil.
»Das willst du gern glauben, keine Frage. Oh, deine Eltern und Freunde würden es natürlich bemerken, aber niemand sonst. Es wäre keine landesweite Nachricht. Es wäre eine Nachricht in deiner kleinen Stadt, aber selbst dort würde man nach ein paar Tagen nicht mehr darüber berichten. Sie würden dir zehn bis fünfzehn Minuten in den Lokalnachrichten widmen an dem Tag, an dem man deinen geschändeten Körper in einem flachen Grab unweit der Kreuzung Grove Street und Route 27 finden würde. Du kennst die Stelle, Connie?«
Sie antwortete nicht. Es war nicht nötig.
»Zehn bis fünfzehn Sekunden. Ein Bild von dir aus dem Jahrbuch, ein Schnitt auf deine hysterisch weinende Mutter, und die ganzen Weißen, die zuschauen, würden mit den Achseln zucken und auf das Wetter und den Sport warten. Aber wenn ein weißes Mädchen verschwindet – oh, dann drehen sie durch, Connie. Sie berichten bei jeder Gelegenheit über den neuesten Stand. Die Kabelsender greifen das Thema auf und berichten landesweit. Die Leute reden über das arme hübsche Mädchen, das verschwunden ist. Sie versammeln sich in der Arbeit und in der Schule, und sie stellen Blogs ins Netz und gehen auf Infoforen. Sie benennen Gesetze nach ihr und starten eine landesweite Fahndung über die Medien. Und wenn dieses arme, lilienweiße Mädchen tot auftaucht, verwenden sie mehr als zehn bis fünfzehn Sekunden darauf. Sie zeigen die Heimvideos, die Eltern, die Freunde. Sie nehmen dich sogar mit in den Begräbnisgottesdienst. Warum, denkst du, ist das so?«
»Weil das eine rassistische Gesellschaft ist, die das Leben von Schwarzen gering schätzt«, sagte Connie hitzig und biss sich sofort auf die Unterlippe. Verdammt! Wie oft hatte Jazz gesagt, dass man gegenüber Psychopathen nie eine Schwäche oder eine Gefühlsregung zeigen darf?
»Rassismus!«, gackerte der Anrufer triumphierend. »Rassismus! Natürlich! Das muss es sein! Es ist die einzige mögliche Erklärung. Aber, Connie … was, wenn es kein Rassismus ist? Wenn es einfach stimmt, dass euer Leben weniger wert ist als das eines weißen Mädchens? Was würdest du dazu sagen?«
Im Ton frostiger Gleichgültigkeit erwiderte sie: »Ich würde sagen, dass Sie definitiv die aktuellste Version der App ›Weißes Rassistenarschloch‹ auf Ihrem Smartphone haben. Schön für Sie.«
Anhaltendes blechernes, künstliches Gelächter. »Ich mag dich sehr, Connie, wirklich. Du lässt mich für die Zukunft hoffen.«
»Gern zu Diensten. Warum verraten Sie mir jetzt nicht genau, wo Sie sind und wer Sie sind?«
»He. Das wäre doch überhaupt nicht lustig. Wir spielen ein Spiel, Connie. Du warst mit den Regeln einverstanden.«
»Ich weiß nicht einmal, wie die Regeln lauten.«
»Na ja … Im Wesentlichen sind die Regeln für dieses Spiel, was ich gerade beschließe. Das hier ist nicht wie das Spiel, das zurzeit in Brooklyn gespielt wird. Das hier ist unser Spiel, Connie. Ein Spiel für dich und mich. Etwas Besonderes, nur für uns beide.«
»Ich fühle mich gerührt und geehrt«, spottete Connie. »Wann darf ich meinen nächsten Zug machen?«
»Oh, schon bald, sehr bald. Aber es wird ein bisschen schwerer für dich, weil du die Regeln gebrochen hast.«
»Ich sagte doch, ich habe die Polizei nicht …«
»Es muss eine Strafe für Leute geben, die betrügen«, fuhr der Anrufer fort. »Für Leute, die sich nicht an die Regeln halten, findest du nicht?«
Die leiernde, tonlose Roboterhaftigkeit der Stimme sägte sich allmählich in Connies Gehirn und verursachte in ihrem Gefolge massive Kopfschmerzen. »Hören Sie auf herumzuspielen, und sagen Sie mir, wer Sie sind«, sagte sie. »Als wüsste ich es nicht bereits.« Ein Bluff. Vielleicht würde er …
»Oh, ich werde es dir sagen. Auf meine Weise. Wann ich es für richtig halte. Der erste Hinweis befindet sich in dieser Kassette.« Er hielt einen Moment lang inne. »Ich gebe dir fünf Minuten, Connie. Fünf Minuten, um den Hinweis zu finden, dann rufe ich wieder an. Wenn du den Hinweis nicht hast, hörst du nie wieder von mir … von der Nacht abgesehen natürlich, in der ich dich holen komme.«
»Warten Sie!«, rief Connie. »Warten Sie! Fünf Minuten? Das ist nicht fair. Ich kann nicht …«
»Nicht fair?« Zorn und Aufgebrachtheit klangen selbst durch die Computerbearbeitung der Stimme. »Fair? Du hast die Regeln gebrochen, Conscience Hall! Und jetzt hast du die Folgen zu tragen! Fünf Minuten, und sie beginnen … jetzt.«
Klick.
Oh, Mist.
Connie wühlte in der Kassette. Kinderbilder von Jazz mit seinen Eltern … die Geburtsurkunde … War das der Hinweis? Dass es Billy war? Oder vielleicht war der Hinweis diese kleine Spielzeugkrähe … was immer noch Billy sein konnte. Sie schauderte, als sie an die gruslige Geschichte von dem Krähenkönig dachte.
Oder vielleicht war es etwas anderes. Etwas Verwandtes. Was hieß Krähe auf Lateinisch? Spanisch? Französisch? Sie hatte Kurse in allen drei Sprachen belegt und zermarterte sich den Kopf. Dann dachte sie: Was, wenn es keine Krähe ist? Sondern ein Rabe? Und was, wenn der Hinweis auf Russisch oder Deutsch ist? Was, wenn dieses verdammte Spielzeug gar nicht der Hinweis ist?
Ihre Uhr war um eine Minute vorgerückt. Das darf doch nicht wahr sein. Ihr Herz hämmerte so stark, dass sie nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie es durch ihr Shirt pulsieren sehen hätte.
Weniger als vier Minuten übrig. Das Verlangen, im Eiltempo die Sachen in der Kassette durchzugehen, war groß, aber sie zwang sich, jeden Gegenstand gründlich zu untersuchen. Dieselben drei Personen auf jedem Foto.
Jazz. Nein. Er nicht. Du dumme Kuh.
Mom. Tot. Ebenfalls nicht. Doppelt dumme Kuh.
Billy. Der naheliegende Kandidat. Zu naheliegend sogar, wenn sie darüber nachdachte. Billys Flucht aus Wammaket war von jemandem außerhalb des Gefängnisses geplant, koordiniert und unterstützt worden. Ihr mysteriöser Anrufer musste also jemand sein, der Billy half. Jemand auf seiner Seite des Spielbretts. Hut & Hund?
Wer betrügt jetzt hier, du Wichser?
Sie starrte auf die Fotos … Vielleicht war irgendwo jemand im Hintergrund …
Oder es ist die Person, die die Fotos gemacht hat …
Das war höchstwahrscheinlich Jazz’ Großmutter. Obwohl der Rassenunsinn, den ihr Anrufer ausgespuckt hatte, bei Gramma Dent gut aufgehoben wäre, konnte sich Connie nicht vorstellen, dass sie den Verstand und die Stabilität für so einen Anruf hätte.
Was also war der Hinweis? Keins der Bilder gab Aufschluss. Sie wechselte zu dem Spielzeug. Nur ein Stück Plastik.
Es ist hohl.
Ist etwas darin?
Kann ich es öffnen?
Ich brauche ein Messer.
In der Küche.
Zeit?
Verdammt. Wer weiß, was dieser Verrückte in … oh … zwei Minuten tun wird, wenn du diesen Hinweis nicht findest.
Oder war die Krähe selbst der Hinweis? Der Rabe. Was auch immer. Vielleicht musste sie, wenn das Telefon läutete, nichts weiter tun als sagen: »Krähe.«
Zu einfach. Sie konnte nicht glauben, dass es so einfach war. Aber vielleicht wollte der Anrufer nur, dass sie dachte, es sei zu einfach …
Wenn du sie erst einmal in deinen Kopf gelassen hast …
Don’t go chasing waterfalls …
Sonst war nichts mehr da. Nichts außer den Kuverts. Sie verschwendete volle dreißig Sekunden damit, in sie zu schauen, ob vielleicht etwas in ihnen steckte oder in sie geschrieben war.
Spielte die Anordnung der Gegenstände in der Kassette eine Rolle? Nein, das war Unsinn – der Inhalt musste sich zwangsläufig bewegen, wenn sie ausgegraben wurde. Man konnte sich auf keine bestimmte Ordnung mehr verlassen.
Weniger als eine Minute noch.
Sie starrte auf die Kassette, die sie jetzt nicht einmal mehr sah, weil sie nichts mehr suchte, weil es sinnlos war; die Sekunden verrannen, und sie würde es nie finden – und genau in dem Augenblick, in dem ihr Telefon läutete, sah sie es.
Sie sah es.
Oh, danke, lieber Gott. Gott sei Dank hatte sie den Deckel aufgelassen.
Ein zweites Läuten. Sie holte tief Luft, damit sie ruhig klang, dann nahm sie das Gespräch an.
»Glocke«, sagte sie, ehe der Anrufer etwas sagen konnte.
Eine scheinbare Ewigkeit herrschte Schweigen, und Connie war sich sicher, dass sie es vermasselt hatte, dass das kleine Bild einer Glocke, das sie auf der Innenseite des Kassettendeckels gesehen hatte, nur eine Lichtspiegelung war, ein Schatten, den der Verschluss warf, oder …
»Sehr gut, Connie …«
Sie glaubte, Überraschung aus der bearbeiteten Stimme zu hören, aber das war schwer zu sagen.
»Zeit, dass du nach New York zurückkehrst«, fuhr der Anrufer fort. »Wenn es geht, nimmst du einen Flug, der auf JFK landet. Der zweite Hinweis auf meine Identität findet sich dort, im Terminal vier, Ankunftsbereich, im ersten Stockwerk. Nimm Bargeld mit.«
»Was …« Aber ihr Gegenüber war nicht mehr da, die Leitung war so tot wie Billy Dents Opfer.
Nach kurzer Suche im Internet fand sie einen Platz in einer Maschine nach JFK, die am nächsten Tag nachmittags abflog. Einen Mittelplatz natürlich, mitten in der Mitte des Flugzeugs, um die schlechtest mögliche Erfahrung zu garantieren. Und die Last-Minute-Buchung würde sie ihre letzten Ersparnisse aus Babysitter- und Ferienjobs kosten, aber was blieb ihr anderes übrig?
Nichts. Sie tat es für Jazz.
Abgesehen davon, war das Geld für das Ticket noch ihr geringstes Problem. Connie blickte auf die geschlossene Tür ihres Zimmers und stellte sich ihre Eltern dahinter vor. O ja, das konnte richtig heiter werden …