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Und

natürlich

eine Schulter und eine Linie

kühler Hitze

– ja –

nachfahren

ein Stöhnen

wessen?

Er öffnet den Mund

– ja, so –

und schleckt

Und

Jazz wachte am nächsten Morgen benommen auf und spähte durch bleierne Lider auf die Uhr auf dem Nachttisch. Der Uhr zufolge hatte er stundenlang geschlafen. Doch nach dem Traum, der ihn abwechselnd in gleichem Maß erregt und erschreckt hatte, fühlte er sich, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Er musste geträumt haben, dass er die ganze Nacht wach lag und an der leeren weißen Hotelzimmerdecke nach Weisheit und Erkenntnis suchte.

Entgegen seiner Ankündigung, das Prepaidhandy zur technischen Einheit zu bringen, hatte Hughes es ihm – absichtlich oder nicht – gelassen, und Jazz hatte es auf den Nachttisch gelegt, für den Fall, dass Billy noch einmal anrief. Auf der Anruferliste des Geräts war eine Nummer aufgeführt, aber als Jazz sie anrief, erhielt er nur eine anonyme, roboterhafte Ansage. Billy hatte dieses Telefon wahrscheinlich bereits weggeworfen und benutzte ein neues.

Er überlegte, ob er Connie anrufen sollte. Aber sein Traum hämmerte immer noch an die Tür seines Bewusstseins und kam ihm in diesen Augenblicken nach dem Aufwachen nur leicht unwirklich vor.

Er fühlte sich giftig. Schmutzig und ansteckend.

Jetzt mit Connie zu sprechen, hieße, sie mit den Gedanken zu infizieren, die sich in seinem Kopf drehten. Es hieße, sie zu belügen und ihr nicht von Belsamo zu erzählen und davon, was er getan hatte. Er konnte den Gedanken, Connie anzulügen, nicht ertragen. Nicht sie.

Er hätte Tante Samantha oder Howie anrufen können, aber er wollte im Augenblick mit niemandem sprechen. Seine ganze Aufmerksamkeit und Konzentration galten nun der Erinnerung an das Gespräch, das er mit Billy geführt hatte.

Jazz hatte ein gutes Gedächtnis. Es war nicht fotografisch wie Billys, aber besser als das der meisten Leute. Und sich an das zu erinnern, was Billy gesagt hatte, war gewissermaßen seine Spezialität. Dear Old Dad hatte seinen Sohn darauf trainiert, sich besonders schwer auf die väterliche Weisheit zu stützen, die er von sich gab.

Schön. Du hast mich zu deinem Aufnahmegerät gemacht. Ich werde es gegen dich wenden, du Schweinehund.

Das Problem war nicht, sich an alle Zeilen im perversen Stück von Butcher Billys Leben zu erinnern. Die Schwierigkeit bestand darin herauszufinden, auf welche es ankam und welche nur verbale Spreu waren, Getöse, das nur dazu diente, Jazz abzulenken und in die Sackgassen von Billys Labyrinth zu führen.

Die Krähen … Da ist irgendetwas. Belsamo hatte es mit Krähen. Billy hat sie erwähnt. Und ja, ich erinnere mich an diese alte Geschichte, die er mir erzählt hat. Ich habe sie erst neulich Connie erzählt.

Billy hatte darauf bestanden, dass es sich bei der Geschichte vom Krähenkönig um kein Märchen handelte. Er hatte es Folklore genannt. Eine Sage. Die Unterschiede waren entscheidend. Billy mochte sich wie ein inzuchtgeschädigter Hinterwäldler anhören, aber sein IQ war über die Maßen hoch, und er führte Worte so präzise wie Messer, Meißel und Hämmer.

Märchen und Fabeln waren Geschichten für Kinder. Sie waren nicht wahr. Folklore und Sagen hingegen … sie waren ebenfalls nicht exakt wahr, aber sie sollten etwas Wahres erklären. Sie standen für reale Dinge. Für den Ursprung von etwas.

Der Krähenkönig Wofür stand der Krähenkönig?

Und plötzlich richtete sich Jazz im Bett auf. Noch etwas war ihm eingefallen. Oder besser gesagt, es war aus dem Meer seiner Erinnerungen an die Oberfläche gestiegen wie eine Leiche, die sich aus ihren Betonschuhen gelöst hat.

Der Impressionist. Er hatte in seiner Zelle in Lobo’s Nod etwas zu Jazz gesagt …

Jasper Dent. Prinz des Mordes. Erbe des Kränkens.

Nicht des »Kränkens«. Verdammt noch mal, Jazz! Welchen Sinn sollte das ergeben? So verrückt war der Typ nicht. Du hast ihn nur nicht richtig verstanden.

Der Impressionist hatte gesagt: »Erbe des Krähenkönigs.«

Dann … war Billy also der Krähenkönig. Derjenige, der die Rotkehlchen ausbluten ließ, bis sie weiß wie Tauben waren. Was zum Teufel sollte das bedeuten?

Wichtiger noch – wie weit zurück ging dieser Wahnsinn? Wie lange setzte Billy schon irgendwelche Dinge in Gang? Der Impressionist wusste um die Bedeutung von Krähen. Belsamo ebenfalls. Das bedeutete, der ganze Irrsinn hatte auf jeden Fall vor Billys Verhaftung begonnen. All die Jahre, die Billy mordend durchs Land gezogen war – hatte er dabei außerdem Schützlinge angeworben? Wie viele Verrückte hatte er darauf programmiert, in seine Fußstapfen zu treten?

Und wenn es ihm gelungen war, sie als Erwachsene zu programmieren, welche Chance hatte dann sein Sohn?

Jazz wusste seit Jahren, dass es in dem, was er für die »reale Welt« hielt – die Welt außerhalb von Lobo’s Nod und dem Haus seiner Großmutter mit ihrer zunehmenden Senilität –, Menschen gab, die Billy bewunderten, die ihn für einen Sündenbock für die Morde von jemand anderem hielten, die glaubten, er sei hereingelegt worden. Und Menschen, die eine Stärke an ihm sahen, die ihnen selbst fehlte, und denen es egal war, dass sich diese Stärke in einem mörderischen Treiben manifestierte.

Er hätte jedoch nie gedacht, dass sich von diesen traurigen, kranken Gestalten welche selbst als Mörder herausstellen würden. Seit wann wurden aus Groupies Rockstars? Sie enden vielleicht als Bühnenhelfer der Band, klar. Oder vielleicht schaffen es einige als Vorband.

Aber als Hauptattraktion?

Es ließ Jazz frösteln.

Er hatte sich eingebildet, die Tiefen von Dear Old Dads Soziopathie kraft seines Aufwachsens in Billy Dents Haus ausgelotet zu haben. Jetzt sah er sich der erschreckenden Möglichkeit gegenüber, dass der Dent-Wahnsinn ein tieferes Loch in die Psyche eines Menschen bohrte, als er sich je hätte vorstellen können.

Wo endete es? Jede Grube, wie tief sie auch sein mag, hat irgendwo einen Boden.

Wo war der Boden von Billys Wahn?

Jazz musste es wissen.

Wie viele von denen sind da draußen? Der Impressionist und Hut & Hund … das machte zwei. Ist Ugly J ein Dritter? Wie viele hat er trainiert? Wie viel Zeit hatte er?

Die Geschichte vom Krähenkönig reichte bis in Jazz’ Kindheit zurück. Hatte damals alles angefangen? Hatten seine wiederkehrenden Albträume damit zu tun – der Tod, der Sex? Oder war die Geschichte vom Krähenkönig nur etwas, das sich Billy damals aus einer Laune heraus ausgedacht hatte und das er jetzt zu seiner Belustigung ausbeutete?

Doch dann fiel ihm etwas ein. Ein Körnchen an Information, das er aus den rauen Schachtwänden seiner Erinnerung brach.

»Niemand hat meine Hand gehalten und mir gezeigt, wie das Spiel läuft.«

Billy hatte das gesagt. Als Jazz ihn vor einigen Monaten in Wammaket besucht hatte. Jazz hatte versucht, Billy zu manipulieren und um Hilfe bei etwas gebeten, das mit dem Impressionisten zu tun hatte. Billy hatte nur gespottet und diesen Satz gesagt.

Dear Old Dad war kein Lehrer, daran war er nicht interessiert. Was also trieb er dann tatsächlich mit Hut & Hund?

Jazz wälzte sich frustriert im Bett herum. Er musste darüber reden. Es half ihm nichts, wenn er seine Ideen in seinem Kopf hin und her schießen ließ. Er brauchte ein Feedback. Die Task Force kam jetzt nicht mehr infrage für ihn, das hatte er sich selbst verbaut. Also tat er das einzig Sinnvolle.

»Sheriffbüro Lobo’s Nod«, sagte Lana einen Moment später. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sheriff Tanner, bitte«, sagte Jazz.

»Einen Mom… Jasper? Bist du das?«

Jazz stöhnte innerlich. Lana hatte natürlich seine Stimme erkannt. Ihre Fähigkeit, sich für einen Mann zu begeistern, würde sie zusammen mit ihrer Unfähigkeit, die üblen Kerle auszusortieren, wahrscheinlich eines Tages umbringen.

»Ich bin es, ja. Kann ich mit G. William sprechen?«

»Natürlich. Und, wie läuft es in New York?«, fragte sie freudig erregt.

»Super«, sagte Jazz. »Ich habe die Freiheitsstatue gesehen, und ich bin außerdem einem Kerl auf den Fersen, der Leuten die Augen entfernt, die Schwänze abschneidet und ihre Eingeweide in Eimern von Kentucky Fried Chicken zurücklässt. Es ist fantastisch.«

Ein normaler Mensch hätte Jazz jetzt schnell durchgestellt. »Ah. Verstehe. Äh, und wann kommst du wieder? Hier ist es irgendwie ziemlich ruhig ohne dich.«

»Lana, G. William, bitte.«

Einen Moment herrschte Stille, dann ertönte G. Williams dröhnende Stimme. »Ich habe noch nicht einmal meinen Kaffee getrunken. Es gehört sich verdammt noch mal nicht, einen Mann vor seinem Morgenkaffee anzurufen.«

Jazz blickte zur Uhr auf dem Nachttisch. »Ich wusste, Sie würden um diese Zeit schon im Büro sein.«

»Alte Angewohnheit. Und dich hat das NYPD auch so früh aus den Federn geholt?«

Jazz biss sich auf die Unterlippe. Er durfte seine Aktivitäten außerhalb der Legalität nicht mit G. William erörtern. »Na ja, ich arbeite schwer, so viel steht fest«, sagte er freundlich. »Aber ich wollte etwas mit Ihnen besprechen.«

»Schieß los.«

»Es geht um den Impressionisten.«

»Apropos … er schweigt jetzt wieder. Und seit eurer letzten Begegnung ist alles verheilt.«

»Schön für ihn. Wissen Sie noch, wie wir über ihn gesprochen haben, als wir ihn gesucht haben?«

»Bei welcher Gelegenheit?«

»Bei den meisten. Ich bin es in Gedanken durchgegangen, und ich habe den Eindruck, wir sprachen viel darüber, dass er mit uns spielt.«

»Er hat nicht mit uns gespielt. Er hat gespielt, er sei Billy.«

Jazz stöhnte. Richtig. »Aber jetzt denke ich … es war fast, als wäre es eine Art Spiel für ihn gewesen, oder nicht?« Er klammerte sich an jede Möglichkeit bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen dem Impressionisten und Hut & Hund herzustellen.

»Was du sagst, ergibt keinen Sinn, Jazz. Was für ein Spiel? Er hat uns ja keine Hinweise geliefert, wie es manche von diesen Typen tun. Sicher, er hat uns zu ein paar von den Leichen geführt, und er hat dich verhöhnt, aber die einzigen Regeln, denen er folgte, waren diejenigen, die dein Vater Jahre zuvor festgelegt hatte. Und Billy selbst hat darauf hingewiesen, dass der Kerl nicht einmal die sehr gut befolgt hat. Wenn er ein Spiel gespielt hat, dann muss es etwas wie Solitär gewesen sein. Ein Spiel, das er nur mit sich allein spielen konnte.«

Jazz schoss aus dem Bett. »Das ist es!«, schrie er so laut, dass im Nachbarzimmer jemand empört an die Wand klopfte.

»Was ist was?«

»O Mann, ich muss los, G. William. Und danke«, fügte er schnell an und legte auf, ehe der Sheriff noch einmal zu Wort kam.

Mit einem Satz war er beim Schreibtisch, wo die Kopien der Hut & Hund-Akten verstreut lagen. Er wühlte in ihnen, ordnete sie, blätterte in Papieren, um einzelne Punkte zu bestätigen, die er brauchte.

Alles fügte sich zusammen. Es fing an, einen heimtückischen Sinn zu ergeben.

Wie er die ganze Zeit gesagt hatte, ergab es für eine verrückte Person absolut Sinn. Und Jazz glaubte jetzt, einen Weg gefunden zu haben, wie er es auch einem normalen Menschen begreiflich machen konnte.

Er schaute auf die Uhr. Er hatte drei Stunden lang gearbeitet, ohne dass es ihm bewusst gewesen war. Jetzt fehlte nur noch eine Sache zur Bestätigung seiner Vermutungen, danach waren wahrscheinlich noch einmal einige Stunden Arbeit nötig, und dann konnte er alles hübsch ordentlich der Task Force vorlegen.

Ein Spielzeugladen. So einen brauchte er jetzt – einen Spielzeugladen. Es musste einen in der Nähe geben. Immerhin begegneten ihm bei jedem zufälligen Spaziergang hier Kinderwagen in großer Zahl.

Er holte sein Handy hervor, um die Auskunft wegen des nächstgelegenen Spielzeuggeschäfts anzurufen, und blickte einen Moment lang auf das Display, aus dem ihm die verschiedensten Icons entgegenleuchteten. Es war ein Smartphone, oder? Er hatte von den ganzen Apps vielleicht zwei benutzt, seit er das Gerät bekommen hatte.

Howie. Er würde Howie anrufen.