16
Das Hämmern an der Tür weckte Jazz am Morgen aus einem tiefen Schlaf, und er schnappte nach Luft, als hätte er vergessen, wie man atmet. Connie richtete sich im anderen Bett mit einem Ruck auf.
»Wer …?«, fing sie an.
»Polizei!«, blaffte jemand. »Aufmachen! Sofort!«
»Polizei?«, flüsterte Connie. »Wie das?«
Jazz schüttelte sich und schwang die Beine aus dem Bett. Machte Hughes eine Art Scherz? Oder …
Oder war es eine Falle à la Fulton?
Er ließ die Kette vor der Tür und öffnete sie gerade weit genug, damit er hinausspähen konnte. Zwei uniformierte Beamte standen auf dem Flur, zusammen mit einem älteren Weißen in Anzug und Krawatte. Der Mann drückte an die Tür. »Jasper Dent«, sagte er. Es war keine Frage. Es war mehr wie ein Kommando, als würde er dem Jungen an der Tür befehlen, Jasper Dent zu sein.
»Lassen Sie mich einen Ausweis sehen«, sagte Jazz, aber noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, hatte er einen Ausweis und eine Dienstmarke für Detective Stephen Long vor der Nase.
»Morddezernat«, fauchte Long. »Brooklyn Süd. Mach die Tür auf.«
Brooklyn Süd, Morddezernat. Dieselbe Abteilung, zu der Hughes gehörte.
Oder angeblich gehörte. Dienstmarke und Ausweis sahen ähnlich aus wie bei Hughes. Wie schwer war es, so etwas zu fälschen? Wahrscheinlich leichter, als Jazz dachte, aber zu schwer, als dass es sich lohnte.
»Was kann ich für Sie tun, Detective?«, fragte Jazz, um Zeit zu gewinnen. Er hörte Connie hinter sich, die sich ohne Frage rasch etwas anzog.
»Ich sagte, mach die verdammte Tür auf. Wenn du es nicht tust, brechen wir sie auf. Ich meine es ernst.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
Long blies verärgert die Luft durch die Nase. »Okay, wir treten sie ein.«
»Warten Sie, warten Sie!« Connie hatte aufgehört herumzurascheln. Jazz löste die Kette von der Tür und trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie herein. Was kann ich für …«
»Du kannst mit uns kommen«, sagte Long, während er und die anderen beiden Beamten ins Zimmer kamen. Long sah sich um und entdeckte Connie, die immer noch im Bett war und die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen hatte. Der Detective runzelte die Stirn. »Ihr beide«, wies er die uniformierten Beamten an, »durchsucht das Zimmer und das Mädchen. Dent, zieh dir eine Hose an. Du kommst mit mir.«
»Was ist hier los?«, fragte Jazz.
Long sah auf seine Armbanduhr. »Du hast dreißig Sekunden, etwas Vernünftiges anzuziehen. Danach nehme ich dich mit, bekleidet oder nicht.«
Widerstrebend griff sich Jazz seine Sachen vom Vortag und zog sich ins Bad zurück. Draußen hörte er die Polizisten die Kommode und die Schreibtischschubladen durchsuchen. Einer von ihnen musste sich über Connies Koffer hergemacht haben, denn er hörte sie rufen: »Finger weg von meinen Höschen, Sie Perversling.«
Er kam bekleidet ins Zimmer zurück, wo einer der Beamten triumphierend den iPad und die Papiere schwenkte, die Hughes am Abend zuvor mitgebracht hatte. An Connies betrübtem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie beides in ihrem Koffer versteckt hatte, während er die Männer an der Tür hingehalten hatte.
»Wir sind fertig hier«, sagte Long und tippte sich an einen imaginären Hut. »Ma’am«, säuselte er spöttisch in Connies Richtung, dann packte er Jazz am Arm und führte ihn hinaus.
Die souveräne Haltung, mit der Connie darauf reagiert hatte, dass die Polizei Jazz fortschleifte, überraschte und beeindruckte sie selbst. Gut so, dachte sie. Du hast total auf das ganze kreischende Mädchentheater verzichtet, als sie deinen Freund hier rausgezerrt haben. Und das hätte auch überhaupt keine Klasse gehabt.
Andererseits war Jazz schon mehr als einmal von der Polizei abgeführt worden, und es war immer gut ausgegangen. Einmal hatte man ihn vor ein paar Monaten während des Impressionisten-Falls zur selben Zeit verhaftet, da Howie nach einem Messerstich um sein Leben kämpfte. Und sie war selbst dabei gewesen, als ihn Deputy Erickson eines Nachmittags während einer Theaterprobe aus der Schulaula geholt hatte, und das nur, weil Jazz das nächste Opfer des Impressionisten zu präzise vorausgesagt hatte. Beide Male war er gesund und wohlbehalten wiedergekommen.
Wie sie es zu Hause jeden Morgen in ihrem Zimmer tat, schaltete sie den Fernseher ein, um Nachrichten und Wetter zu hören, während sie sich anzog. Sie würde natürlich herausfinden müssen, wohin sie ihn gebracht hatten. Auch wenn er immer zu ihr zurückkam, konnte es durchaus sein, dass er Hilfe brauchte. Immerhin hatte der Impressionist es fertiggebracht, Jazz in seinem eigenen Haus als Geisel zu halten, und nur Howies und Connies heroischer Einsatz hatte ihn in letzter Minute gerettet.
Oder? Vielleicht hätte sich Jazz auch selbst gerettet. Es war etwas, das sie auf die Liste der Dinge setzen konnte, die sie nie erfahren würde. Sie seufzte. Du hättest es leichter haben können, Conscience Hall, wenn du dich nicht in einen Typen verliebt hättest, der so ein Päckchen zu tragen hat wie Jazz.
Aber es war ja keine bewusste Entscheidung gewesen. Sie hatte sich schon früh unrettbar in Jazz verliebt. Hatte es zu verbergen versucht. Insbesondere vor ihrem Vater, aber auch vor sich selbst. In den Sohn des berüchtigtsten Serienmörders der Welt verliebt? Im Ernst? Vielleicht ist er nicht plemplem, aber du bist es bestimmt, Connie.
Als sie sich das erste Mal küssten, jedoch …
Himmel, dieser erste Kuss!
In Connies Einfahrt. Der Abend war langsam in eine ungewöhnlich kühle Sommernacht übergegangen. Sie war zu diesem Zeitpunkt sechzehn gewesen, und er war nicht der erste Junge, den sie küsste, aber er war der erste, bei dem ihr heiß und kalt zugleich wurde, der erste, in den sie sich auflösen wollte.
Er hatte irgendwo tief in seiner Kehle gestöhnt, als sie sich küssten, und sie hielt dieses Stöhnen für Kapitulation.
Apropos, dachte sie und wühlte in ihrem Koffer nach einem T-Shirt, was zum Teufel war da letzte Nacht passiert? Ein weniger selbstbewusstes Mädchen hätte sich vielleicht mit ihrer Frauenzeitschrift in einer Ecke zusammengerollt und weinend und schniefend irgendeinen idiotischen Artikel mit einem Titel gelesen wie: »Wie kriege ich meinen Traumtypen herum?« Nicht so Connie. Sie war nicht von sich selbst eingenommen, aber sie war auch nicht blind. Sie wusste, sie hatte es drauf, und dass es im Wesentlichen zwei Entschuldigungen gab, wenn ein Kerl ihre Bereitwilligkeit nicht ausnutzen wollte: schwul oder tot.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. Sie würde in einen schweren Mantel gehüllt sein, wenn sie aus dem Haus ging. Und sie kannte ohnehin niemanden in Brooklyn.
Die Connie im Spiegel sah verdammt gut aus. Sie zog eine Schnute und warf sich eine Kusshand zu. Und dann kam sie sich vor wie ein dummes kleines Mädchen.
War sie am Abend zuvor unfair zu Jazz gewesen? War sie immer noch unfair zu ihm? Er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er noch nicht bereit war für den großen Schritt zu richtigem Sex. Was für eine Freundin war sie, wenn sie das nicht verstehen und respektieren konnte?
Andererseits … vielleicht war er derjenige, der unfair zu ihr war. Alle möglichen Leute schleppten Traumata aus ihrer Vergangenheit mit sich herum. Nicht alle von ihnen waren vollkommen unfähig, sich mit anderen Leuten einzulassen. Und Jazz hatte schon viele, viele Male bewiesen, dass er kein Problem mit körperlicher Nähe hatte – sie hatten sich geküsst und auf jede nur erdenkliche Weise betatscht. Er hatte ohne vernünftigen Grund eine Linie gezogen, die er sich zu überschreiten weigerte, und sie stand auf der anderen Seite dieser Linie und bat ihn hinüberzukommen.
Warum konnte er nicht …?
Und genau in diesem Moment ertönte aus dem Fernseher, der im Hintergrund vor sich hin plätscherte, der Name ihres Freunds.
Connie fuhr herum und griff nach der Fernbedienung, um lauter zu machen.
»… Sohn von Billy Dent«, sagte ein sehr stark geföhnter Sprecher. »Unnötig zu sagen, dass diese Neuigkeit einen kleinen Schock für die New Yorker darstellt, da sie Fragen zu einer möglichen Verwicklung von Billy Dent in die Hut & Hund-Morde aufwirft.«
Idiot. Hut & Hund hat schon getötet, bevor Billy Dent aus dem Gefängnis ausgebrochen ist.
»Unterdessen hat WPIX aus Polizeikreisen erfahren, dass Jasper Dent bald im 76. Revier in Carroll Gardens eintreffen wird, um den Fall zu diskutieren. Wir erwarten eine Pressekonferenz von Captain Niles Montgomery, dem Leiter der Task Force, im Lauf des Tages. Einzelheiten aus dieser Pressekonferenz werden Sie natürlich auch auf unserer Website finden, und heute Abend um fünf bringen wir eine Zusammenfassung und einen Kommentar.«
Connie machte den Fernseher aus – Nachrichtensprecher hatten eine sonderbare, singende Sprechweise, ein ständiges Auf und Ab merkwürdiger Wortbetonungen, bei dem ihr schlecht wurde. Sie hielt es jeden Morgen nur etwa für die Dauer der Zeit aus, die sie brauchte, um sich anzuziehen.
Jazz war also in Sicherheit. Bei der New Yorker Polizei. Wie üblich machte sich niemand die Mühe, sie auf dem Laufenden zu halten, und wahrscheinlich würde sie erst wieder etwas von ihm hören, wenn er dort fertig war. Gut möglich, dass sie ihn den ganzen Tag behielten. Was würde sie in der Zwischenzeit unternehmen?
Komm schon, Connie, du bist den ganzen Tag in der coolsten Stadt der Welt.
In diesem Moment verlangte ihr Handy nach Aufmerksamkeit. Es war ihr Vater.
»Hi, Daddy«, zirpte sie und gab sich große Mühe, wie ein Mädchen zu klingen, das nicht mit ihrem Freund einen Abstecher nach New York gemacht und ihre Eltern darüber belogen hatte. Das Problem war nur, dass Connie nicht wusste, wie so ein Mädchen klingen würde.
»Möchtest du mir vielleicht etwas sagen?«, fragte ihr Vater ohne Einleitung oder Begrüßung. So ging ihr Vater vor. Er gab seinen Kindern immer die Gelegenheit, reinen Tisch zu machen. Connie hatte bei der Bestrafung jedoch nie einen Unterschied festgestellt, deshalb versuchte sie meistens, doch mit ihrer Lüge durchzukommen.
»New York ist fantastisch«, schwärmte sie, bemüht, auf atemlos und überwältigt zu machen. »Gestern Abend waren wir im Rockefeller Center, das ist so viel cooler als im Fernsehen …«
»Ich habe heute die Zeitung gelesen, und rate mal, was da steht?«
»Na ja«, sagte Connie, »ich wette, es steht nichts von dem absolut geilen chinesischen Essen drin, das ich gestern Abend hatte.«
»Da steht, dass Jasper in New York ist. Jetzt gerade.«
Autsch. Natürlich. Das war logisch. Die Neuigkeit war vermutlich von Lobo’s Nod nach New York gedrungen, und nicht andersherum. »Tatsächlich?« Es sollte Überraschung ausdrücken, kam aber eher heraus wie: »Verdammt, erwischt!« Sie räusperte sich und unternahm einen zweiten Versuch. »Tatsächlich? Das ist ja ein komischer Zufall.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte ihr Vater trocken. »Und du bist gerade wo?«
»Bei Larissa.«
»Dann gib sie mir doch mal.«
Wieder autsch.
»Sie ist unter der Dusche.«
»Ich kann warten.«
»Dad …«
»Im Ernst, ich habe jede Menge Gleitzeit. Ich kann warten.«
Verdammt.
»Okay, Dad. Ich bin nicht bei Larissa. Ich bin in einem Hotel in Brooklyn.«
»Mit ihm.« Der Zorn ihres Vaters war mit Händen zu greifen, selbst über Telefon.
»Nein, ich bin nicht mit ihm zusammen. Ehrlich.« Es war nicht gelogen. Das Präsens ist dein Freund, wenn es um Lügen geht.
»Meinst du wirklich, ich glaube noch irgendetwas, was du sagst? Das ist diesmal nicht, wie wenn du bei irgendwas erwischt worden bist und gelogen hast, um einer Strafe zu entgehen, Conscience. Diesmal war es vorsätzlich. Du hast das Ganze eingefädelt. Du hast mich hereingelegt. Du hast es geplant, und dann hast du deinen Plan umgesetzt, einen Plan, der auf Täuschung und Unehrlichkeit basierte. Also erklär mir, warum ich dir noch irgendetwas glauben sollte. Los, erklär es!«
»Weil ich die Wahrheit sage. Er ist nicht hier. Er ist bei der Polizei.«
»Da gehört er auch hin.«
Connie überlegte, ob sie erklären sollte, dass Jazz nicht verhaftet war – nicht wirklich –, ließ es aber lieber bleiben. »Dad, der ganze Grund, warum wir hier sind …«
»In der Zeitung steht …«
»Das ist Doug Weathers, Dad. Herrgott, man kann nichts glauben, was dieser Kerl …«
»Missbrauche nicht den Namen Gottes, Conscience. Du hast ohnehin schon genug Ärger mit mir. Und es interessiert mich nicht, warum du dort bist. Was mich interessiert, ist, dass meine Tochter mich getäuscht und belogen hat, um mit ihrem Freund wegzulaufen. Ich will, dass du auf der Stelle nach Hause kommst, verstanden?«
»Das geht nicht – ich habe ein Flugzeugticket. Ich kann erst …«
»Gib mir deine Buchungsnummer. Ich rufe die Fluggesellschaft an und sorge dafür, dass dein Flug umgebucht wird.«
»Aber, Dad …«
»Was? Was willst du mir sagen? Willst du mir erzählen, dass das nicht fair ist? Dass ich dir Unannehmlichkeiten mache? Dass man dir zutrauen kann, die Sache allein zu regeln?«
All das hatte sie mehr oder weniger sagen wollen.
»Dann lass mich dir eins sagen.« Die Wut in der Stimme ihres Vaters war mit jedem Wort mehr angewachsen. »Lass mich dir etwas sagen: Fairness steht Leuten zu, die nicht lügen. Annehmlichkeiten haben sich nur Leute verdient, die nicht lügen. Und ganz bestimmt kann auch mit Vertrauen nur rechnen, wer nicht lügt!«
Connie ließ sich auf das Bett fallen, in dem Jazz geschlafen hatte. »Ich bin siebzehn«, sagte sie leise. »Du kannst mich nicht mehr …«
»Ich kann dich noch fünf Monate lang kontrollieren. Und wenn ich dich damit vor der Welt, vor diesem Jungen und vor dir selbst schützen kann, dann werde ich dich bis um Mitternacht an deinem Geburtstag kontrollieren. Hast du verstanden?«
Sie drehte sich nach links und legte die Wange auf Jazz’ Kopfkissen. Sie konnte ihn riechen. Nicht sein Deo oder sein Shampoo – ihn. Seinen puren, unverfälschten Geruch.
»Ich liebe ihn, Daddy.« Es war die schlichte, ungeschminkte Wahrheit.
»Es überrascht dich sicher nicht zu hören, dass mir das vollkommen egal ist.«
Es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Ihr Vater würde sich nicht durch Logik und nicht durch Liebe überzeugen lassen. Wenigstens hatte sie es versucht.
Connie gab auf und las ihrem Vater die Buchungsnummer vor.